Patrick Schott

Der Besuch

„Habe ich wohl alles richtig gemacht?“, fragte sie sich ein wenig abwesend, während sie in ihrer kleinen Wohnung, mehr unbewusst als bewusst, auf und ab ging, um dabei ständig auf die große Wohnzimmeruhr zu schauen, die sie damals von ihrer Großmutter geerbt hatte. Mitten in ihrer Folge aus genau vier Schritten in die eine und vier Schritten in die andere Richtung, blieb sie Plötzlich stehen um sich dessen bewusst zu werden was sie da eigentlich tat. Während sie sich hinsetzte um nicht weiterhin wie ein hungriger Tiger in einem Käfig hin und her zu wandern, dacht sie: „Und wenn er nun doch nicht zufrieden mit mir ist?“, sie erschauerte bei diesem Gedanken. Die Uhr zeigte mittlerweile 23.30 Uhr an und Susan wurde immer nervöser. Ihre zierliche Hand zitterte sichtlich als sie nach dem Buch griff, welches sie seid einiger Zeit Abend für Abend zu lesen pflegte. Aber heute Abend war etwas anders, Susan konnte sich einfach nicht auf ihr Buch konzentrieren, stattdessen wanderte ihr Blick immer wieder zu der großen Uhr. Es kam ihr fast so vor als stünde die Zeit still, denn die Sekunden erschienen wie Minuten. „Kann es denn sein, das es schon bald soweit ist?“, fragte sie sich ein wenig beiläufig. Mit diesem Gedanken versuchte sie sich wieder auf das Buch zu konzentrieren, fast so als erwarte sie dort eine Antwort. Als sie endlich das Kapitel gefunden hatte, welches sie suchte wurde sie ein wenig ruhiger, so war es immer wenn sie diese Zeilen las, denn dadurch wurde sie an ihre Kindheit erinnert die schon sehr lange Zeit zurück lag. Heute erinnerte sie sich an ihren ersten Freund und an den Tag an dem sie sich kennen lernten. Sie war damals fünfzehn und er war zwei Jahre älter. Sie erinnerte sich noch sehr genau an jenen Tag, denn es war einer der heißesten Sommertage den sie je erlebt hatte und aus diesem Grund war sie natürlich wie jeder in ihrem Alter im Freibad. Heute war sie allerdings ohne ihre damals beste Freundin unterwegs, da diese mit einem leichten Hitzestich vom Vortag im Bett lag. Also breitete Susan ihre Decke heute alleine im Schatten einer großen Trauerweide aus. Andere Freunde, außer der zurzeit erkrankten Tanja, hatte sie noch nicht gefunden, da sie und ihre Familie erst vor wenigen Monaten in diese Stadt gezogen waren. Da es an jenem Tag so unerträglich heiß war, machte sie sich sofort auf den Weg zum großen Becken, um sich wenigstens ein bisschen Abkühlung zu verschaffen. Heute brauchte sie dazu allerdings besonders lange, da das Freibad mehr als überfüllt war. Und da war er, auf halbem Weg zwischen Decke und Wasser sah sie den schönsten Jungen, den sie je gesehen hatte. Susan interessierte sich sowieso erst seid kurzem wirklich für das andere Geschlecht, aber auch in dieser kurzen Zeit hatte sie schon viele Jungs genauer betrachtet. Und keiner von denen kam auch nur annähernd an diesen wohlgeformten, mit dezenten Muskeln übersäten Körper heran. Aber das war ja bei weitem nicht alles, sein ganzes Auftreten und diese wundervollen blauen Augen, all das brachte Susan von ihrem ursprünglichen Kurs ab und führte sie, mit dem Kopf voran, direkt in seine Arme. Sie war nämlich über eine halbaufgepumpte Luftmatratze gestolpert, die sie durch ihren starren Blick leider übersehen hatte. „Na na, wir kommen aber ganz schön schnell zur Sache junge Frau.“, sagte er nur nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte. „Ähm, dass tut mir wirklich leid, ich wollte nur, also eigentlich ist das nicht meine Art“, sagte sie ziemlich verlegen. Erst jetzt viel ihr sein gut gebräuntes Gesicht so richtig ins Auge. Sie war auf einmal so hin und weg von diesem Anblick, dass sie noch mal ihr Gleichgewicht verlor, und diesmal nach hinten fiel. Doch die Reflexe ihres unbekannten Prinzen waren schneller als die Schwerkraft, und so kam es dass Susan nun wirklich in seinen Armen lag. Und wie sie da so standen, nahm Susan all ihren Mut zusammen und fragte ihren Retter, ob sie ihn nicht zu einem Eis einladen dürfe, nur so aus Dankbarkeit natürlich. Der junge Mann, der sich später als James vorstellen würde, willigte ein und so kam Susan dann zu ihrem ersten richtigen Freund.

Das alles war nun schon 72 Jahre her, doch sie konnte sich tatsächlich noch an so viele Einzelheiten erinnern. Jetzt stand sie auf und stellte das Buch wieder zurück zu den anderen. Die Zeiger der großen Uhr waren inzwischen auf halb eins vorangeschritten. Susan überlegte sich gerade, dass es vielleicht doch besser wäre jetzt in ihr Bett zu gehen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Sie erschauerte am ganzen Körper, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihrem späten Besuch die Tür zu öffnen.

Es war schon später Nachmittag, als sich Dr. Brown seinem Bericht widmete. Er überlegte kurz und schrieb dann: „Der Tod ist gegen ein Uhr morgens eingetreten. Die Ursache ist allem Anschein nach akutes Herzversagen, was in ihrem Alter ganz natürlich ist.“ Er warf nur noch einen letzten Blich auf die Tote Susan Wright. Sie sah vollkommen friedlich aus, wie sie da in ihrem Bett lag, in welches sie sich kurz vor ihrem Tod begeben hatte.                         

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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