Ana Logie

Norman - die Abenddämmerung der Aufklärung

oder: eine Grabrede
 
"Brüder und Schwestern im Herrn, werte Trauergemeinde und Angehörige,

wir haben uns heute versammelt um Abschied zu nehmen von Norman. Norman hätte sicher auch Oswald, Ludwig, Xaver oder Justus heissen können, aber er hiess nun mal Norman. Er starb, weil es der menschlichen Natur entspricht, irgendwann zu sterben. Er führte ein Leben wie man ein Leben eben führt und man hätte ihn als ausgesprochen normal bezeichnen können. Sein Leben war durch nichts gekennzeichnet, dass auffallend gewesen wäre, ausser durch den Anspruch, nicht aufzufallen und niemals die Missbilligung und den Zorn seiner Mitmenschen auf sich zu ziehen.
 
Er äusserte niemals seine Meinung. Aber das musste er auch nicht, denn er hatte keine. Er konnte keiner Fliege etwas zu leide tun. Doch den Fliegen war das einerlei, denn ein Kuhfladen oder ein Pferdeapfel waren für sie allemal interessanter als er. Er war genauso nett wie langweilig und so normal, dass sich der normale Mensch ihm gegenüber kaum normal fühlte.
 
Leider hätte man bei ihm auch nicht sagen können: solche Menschen braucht das Land, bescheiden, fleissig und pflichtbewusst. Denn er war weder das eine noch das andere, ihm war im Grunde alles egal: das Land, seine Mitmenschen und er sich selbst. Manchmal wurde ihm fälschlicherweise ein abgrundtiefer Charakter zugewiesen, der erst nach Überwindung der ihm eigenen Introvertiertheit zu Tage kommen sollte. Aber hinter seiner Gestalt und der Fassade des Normalbürgers existierte ein Vakuum. Eine gähnende Leere. Diese Leere wurde zuweilen irrtümlich für durch das Leben erprobte Ruhe und Gelassenheit  gehalten, aber Norman hatte sich niemals im Leben erprobt. Er hatte sich lediglich materiell abgesichert wie man sich materiell eben absichert. Er war gesellschaftlich reüssiert und mehr hatte er von sich auch nicht erwartet.
 
Jetzt ist er tot und er starb, weil am Ende eines Menschenlebens unweigerlich der Tod steht. Ich, als sein Grabredner, bin etwas resigniert, weil ich über ihn nun doch nicht mehr sagen kann als dass er normal war. Und ihnen, werte Trauergemeinde, geht es vermutlich ähnlich.
 
Wir könnten nun auf seinen Grabstein meisseln lassen:
 
“Warum – oh Herr – warst Du nur so scheissnormal?”
 
oder
 
“Du warst doch eh schon tot bevor Du starbst”.
 
Aber uns als Christen verbietet sich das vermutlich. So werden wir
 
“Norman – und das war Dein Leben”
 
auf den Grabstein meisseln und uns und ihn auf das Jenseits vertrösten. Vielleicht macht ihm da der Teufel ja mal Feuer unter dem Hintern. Der Herr möge ihm gnädig sein, aber für Normalität hat noch niemand einen Blumentopf gewonnen. Nicht mal im Märchen vom Paradies.”

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