Bernd Rosarius

Das Familienfoto

Bulli stand im Garten, rauchte eine filterlose Zigarette und blickte über den nicht mehr sehr neuen  Zaun hinüber in Nachbars Garten. Er hatte als Kind dort oft mit dem Nachbarjungen gespielt. Damals war der Zaun noch in Ordnung und im Haus und Garten fand „Leben“ statt. Jetzt ist dort alles verwaist, das Haus soll verkauft werden, sein Freund lebt in den USA und die Eltern sind tot. Bulli? Ach ja, sein richtiger Name ist Wolfgang. Bulli wurde er genannt, weil er schon als Kind klein, bullig d.h. kräftig war. Anfangs hatten die Kinder ihn immer geärgert: “du hast ja keinen Hals“ haben sie immer gerufen. Und darunter hatte er sehr gelitten. Irgendwie stimmte es auch, sein Kopf saß direkt auf den Schultern, den Hals konnte man kaum sehen. Er hatte sich daran gewöhnt und sich später auch gegenüber seinen Freunden durch gesetzt. Bulli warf den Zigarettenstummel achtlos auf die Erde und trat sie mit seinem Fuß tiefer in das Gras hinein. Er steckte sich eine neue Zigarette an. Plötzlich ertönte eine Stimme hinter ihm: “Bulli, komm endlich ins Haus, die Familie wartet.“ Bulli drehte sich um und sah in das grinsende Gesicht seines kleinen Bruders Peter und plötzlich war ihm bewusst, wo er eigentlich war. Mutter hatte Geburtstag und die Familie war zum Gänseessen eingeladen. Seine Schwester Erika war da, ohne Ehemann, beide leben getrennt. Sein Bruder Oscar war da, ein Stadtangestellter, der sich jetzt schon darauf freut, das er in zehn Jahren Pension bekommt. Sein Vater, der immer dann Herzprobleme bekommt, wenn er unangenehme Dinge erledigen soll. Peter sein Lieblingsbruder, der nie so recht auf die Beine kommen wird, weil er immer das macht was ihm nichts einbringt. Dazu kamen dann noch die Partner mit und ohne Kinder. Das Haus war voll, das Essen war gut und Bulli hatte sich die Beine im Garten vertreten. “Was ist drinnen los Peter?“ fragte Bulli und der kleine Bruder antwortete: “Nichts! Sie haben jetzt ein Familienfoto auf den Tisch gelegt und alle schwelgen in Erinnerung. Komm jetzt rein und bring die Leute ein wenig in Schwung, es ist langweilig.“ Bulli legte den Arm um die Schulter seines jüngeren Bruders und lachte“: Los, gehen wir in die Arena!“. Dort saßen sie alle am langen Tisch, verlegen lächelnd, erwartungsvoll, ungläubig staunend und über was? Das wussten sie wohl selbst nicht. Der Tisch sah aus wie ein Schlachtfeld. Auf einem langen Teller, Gänsereste, zwei oder drei Salatblätter lagen auf der Tischdecke. Irgendwer hatte bereits die Teller am Rand des Tisches gestapelt, damit sie in die Küche abtransportiert werden konnte. Wer sollte das tun, alle warteten auf Mutter, die macht so etwas gerne. Wir sind hier zu Besuch dachten sie alle. „Bulli will etwas sagen“, rief Peter erhitzt. Mutter jagte mit rotem Kopf von der Küche ins Wohnzimmer und wieder zurück. Vater saß wie angewachsen auf seinen Stuhl und kämpfte mit der Müdigkeit. Alle anderen sahen gespannt zu Bulli hinüber, der gemächlich das Familienfoto in die Hand nahm, es länger betrachtete und schließlich in die Runde fragte. „Ist euch etwas aufgefallen an dem Foto?“ Fast alle schüttelten den Kopf. „Rechts oben ist ein Fettfleck“, rief Peter, Erika beeilte sich mit dem Einwand“: so ein schönes Foto, legt man auch nicht zu dem Gänsebraten.“ Bulli schüttelte den Kopf und sagte als seine Mutter schließlich wieder am Tisch saß „ein bisschen mehr ist mir schon aufgefallen. Großvater ist nicht mehr da, er ist gestorben. Dein Mann, Erika, ist nicht mehr da, der ist dir weggelaufen……“ Erika nahm ihr Taschentuch und trocknete die Tränen, dabei murmelte sie: „Du bist gemein.“ Unbeirrt fuhr Bulli fort: „jeder sieht in dem Foto doch nur was er sehen möchte. Jetzt machen wir ein Gesellschaftsspiel. In der Mitte des Tisches steht ein Teller. Jeder von euch soll sich zurück erinnern an den Tag, an dem das Foto gemacht wurde. Jeder soll mit einem Satz sagen, was ihm an dem Tag am besten gefallen hat. Etwas positives bitte, jeder negative Satz wird mit einem Euro, den ihr bitte auf den Teller legt, bestraft.“ Bulli legte eine kurze Pause ein, damit seine Familie nachdenken konnte. Der Vater tippte sich an die Stirn und flüsterte „so ein Blödsinn, ich weis noch genau, wie ich nach dem Kaffee in meine Stammkneipe gegangen bin und das war richtig toll“. Er sah lächelnd in die Runde uns sah auch wie Mutter plötzlich weinte: „das fand ich so schlimm, es sollte ein schöner Tag werden aber….“ Sie wurde von Bulli schroff unterbrochen. „Mutter du bist nicht dran, außerdem ist das etwas negatives aus deiner Sicht, lege bitte ein Euro auf den Teller“. Brav tat Mutter das, was man ihr sagte und der Euro kreischte regelrecht auf dem Teller als er geworfen wurde. Nun hob Peter beide Hände: „an dem Tag hatte ich in der Schule eine 6 geschrieben und hatte Stubenarrest“. Auch ihn unterbrach Bulli „ein Euro, bitte“,“ich hatte mich aber an dem Tag mit meinem Freund wieder vertragen, das war so schön“, säuselte Erika und sofort rief die Mutter „nachdem ich ein längeres Gespräch mit deinem Freund hatte“. Bulli hob den Finger „Mutter, Euro“. Das Spiel war eröffnet und man glaubt es nicht wie schwer es scheint, positive  Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Immer und immer wieder war jeder mit sich oder der Familie nicht zufrieden. Auf jeden Fall war Bulli Idee nicht die schlechteste, Geld wurde eifrig gesammelt und der Nachmittag ging auch rum. Jede Feier geht einmal zu Ende auch diese. Bulli nahm die Euros vom Teller und ließ sie in seiner rechten Hosentasche verschwinden, „das ist mein Verdienst“, sagte er und ging wieder in den Garten. Er steckte sich wieder eine Zigarette an und blickte zum Himmel. Dunkle Wolken zogen auf, es würde bald regnen. Wieder vernahm er im Rücken die Stimme seines kleinen Bruders. „Bulli, nun komm wir wollen noch ein Familienfoto machen“. Er drehte sich um und sah seine Familie schon im Garten stehen, wie sie umherirrten um die richtige Platzierung zu suchen. Bulli nahm seinen Bruder in den Arm und flüsterte ihm zu: „sollte ich nicht mehr da sein, Peter, dann musst du in zehn Jahren dieses Spiel wiederholen.“ Peter nickte und flüsterte „was machst du mit dem Geld?“ Bulli lachte laut und drückte dabei die Schulter seines Bruders. “Jetzt  machen wir ein Foto und dann gehen wir das Geld vertrinken.“ „Fein“ rief Peter „in zehn Jahren werde ich dann das als positives Erlebnis wiedergeben“. Lachend gingen beide zur Familie rüber um ein schönes Plätzchen für das Familienfoto zu finden.   

 

Zu der Geschichte möchte ich folgendes anmerken:
Anläßlich eines Wettbewerbes wurden mir 10 Titel genannt,zu denen ich eine Geschichte erzählen sollte.
Über Familienfotos lassen sich auch interessantere Storys erzählen.Das war nun einmal mein Beitrag.
Bernd Rosarius, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Sturmwind von Bernd Rosarius



Wenn erst ein laues Lüftchen weht,
das sich naturgemäß dann dreht
und schnelle ganz geschwind,
aus diesem Lüftchen wird ein Wind,
der schließlich dann zum Sturme wird,
und gefahren in sich birgt-
Dann steht der Mensch als Kreatur,
vor den Gewalten der Natur.
Der Mensch wird vielleicht etwas klüger,
seinem Sturmwind gegenüber.


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