Wie schön war dieser Morgen! So recht
zum tiefen Durchatmen, zur Freude geschaffen. Der weiße Nebel hatte sich schon
über die Felder verflüchtigt, die wenigen, hellen Schäfchenwolken würden bald
von der Sonne fortgebrannt, der Tau auf den Gräsern verdunsten.
Hier am Wegrand war nur Vogelgezwischer
und das Summen einer Mücke zu hören, die Tina deftig auf ihrem Arm
zerklatschte. „Nur noch ein wenig Zeit für mich!“ dachte sie sehnsüchtig. Wie
von selbst knickten die Knie ein, sie saß im Gras. „Dies ist kein Tag zum
Zuschnüren“ entschied sie. Sie löste das Band in ihrem Haar und schüttelte den
Kopf. Die langen, schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht und über die
Schultern. Tina lachte als das Haar sie an der Nase kitzelte, und warf den Kopf
zurück. Sie liebte das Gefühl des vollen Haares auf ihrem Rücken, genüßlich
streckte sie ihre Glieder und dehnte sich. Sie hatte das Kommen nicht bemerkt,
die Schritte nicht gehört. Urplötzlich standen sie vor ihr, die Eltern, Bauer
und Bäuerin, anklagend und verbittert.
„Weshalb bist du nicht auf dem Weg zum
Unterricht?“ wollte der Vater wissen. „Du wirst zu spät in der Schule ankommen.
Ein schlechtes Vorbild bist du!“
„Ich mag nicht“, sagte Tina kleinlaut.
„Wie siehst du denn aus? Mit diesem
unordentlichen Haar kannst du nicht ins Dorf. Was sollen die Leute von dir
denken?“ schimpfte die Mutter.
„Keine Disziplin, das kann man an dem
Haar erkennen!“ richtig böse schaute der Bauer drein. „Pflicht“ sagte er „Pflichterfüllung
und Disziplin sind die obersten Gebote einer sauberen Lebensführung.“
„Ich halte das nicht mehr aus!“ Hörten
die Eltern den Einwand?
„Beim Melken hat sie auch nicht
geholfen!“ klagte die Bäuerin.
Der Vater griff nach Tinas Arm und zog
sie hoch. Einen Moment stand er dicht vor ihr, nahm ihr die Sicht auf den
sonnigen Morgen.
Der warme Stallgeruch vermochte Tinas
Ausbruchsstimmung nicht zu ersticken.
„Laßt mich fort!“ rief sie.
„Das ist richtig“, sagte der Vater.
„Geh du nur und verrichte dein Tagwerk.“
Die Mutter aber hatte etwas anderes
vernommen.
„Wohin willst du denn, Kind?“
„Den Hang hinunter und über die Wiese.
Vielleicht am Bach entlang oder in den Wald.“
„Wie kommst du nur auf solche
Sperenzchen? Du bist hier das Fräulein, du gehörst in die Schule!“
Drohend legte der Vater eine schwere
Hand auf die Schulter seiner Tochter und versuchte sie in Richtung des Dorfes
zu stoßen. „Nun geh ´ endlich!“
Bettina riß sich los und rannte davon.
Hinter ihr rief die Mutter: „Wohin
willst du nur?
„Zum Geliebten!“ antwortete Tina und
lief weiter. „Zum Geliebten!“ Sie wagte es, das auszusprechen? Es wunderte sie,
aber ihr gefielen die Worte. „Zum Geliebten, immer wieder zum Geliebten! Nur!
Zum Geliebten!“
Schneller und schneller lief sie und
lachte, denn nun war ihr klar: Der Geliebte erwartete sie.
Nutzlose Dinger hier, die Sohlen
rutschten auf der feuchten Wiese und Gras klebte an ihnen, wie ein grüner Bart.
Das Fräulein schleuderte die Schuhe so weit sie konnte, und drehte sich dabei
im Schwung.
„Frei will ich sein!“ noch eine Drehung
und ein weiter Sprung: „Frei bin ich!“
Die Erde feucht und kühl unter Tinas
nackten Füßen, die Gräser voll glitzernder Tautropfen, Luft die nach Blumen und
Gras duftete, der blaue Rock, der sich beim Rennen an die Beine schmiegte,
spielende Schmetterlinge im Sonnenschein! Wie gut das war, wie schön die Welt!
Hier war ihr Platz, hier konnte sie sich erleben, nicht eingepfercht in
irgendwelchen Gemäuern, gefesselt von Pflicht und Disziplin! Schneller und
schneller den Hang hinunter, dem Bach entgegen. Lila, weiß, blau und gelb
leuchteten die Blümchen im Gras. Vielleicht sollte sie einen Strauß pflücken,
zurück zur Mutter, die es ja nur gut mit ihr meinte? Zurück zum Vater, der es
nicht anders wußte, beide um Vergebung bitten?
Der Mohn leuchtete rot im Kornfeld zu
ihrer Seite, die Wipfel der Bäume neigten sich im leichten Sommerwind. Dort
würde sie der Bach erwarten, und irgendwo an seinem Rand der einzige, der
starke, der überalles Geliebte.
Von weitem schon sah sie das blonde
Haar, nach dem sich ihre Finger sehnten.
„Bernd, oh Bernhard, ich bin gleich bei
dir!“
Da hatte auch er sie gesehen, lächelte,
breitete seine Arme aus, fast stieß sie ihn um, als sie außer Atem ihren Platz
in ihnen fand.
„Ich bin bei dir! Endlich bin ich
wieder bei dir! Ich habe mich so nach dir gesehnt, habe es nicht mehr erwarten
können hier bei dir zu sein, habe alles verlassen, um in deinen Armen zu
liegen!“
Er erwiderte nichts, aber seine blauen
Augen leuchteten. Sacht strich ihre Hand über sein Gesicht, erst glatt und
breit, dann schmaler, wieder breiter werdend, rauh und eckig. Tief atmete sie
seinen Sonnenduft.
„Laß mich die Füße ins Wasser tauchen,
sie tun mir weh! Ach nein, laß mich nicht los, ich möchte weiter von dir
gehalten werden, immer in deinen Armen sein!“
„Sei vorsichtig, sieh doch, du hast
mich naß gespritzt. Was bist du nur immer so wild!“ sagte Bernd, aber er
lächelte dabei.
Vom Boden drang kalte Feuchtigkeit
unangenehm durch Tinas Rock. Sie erschauderte.
„Komm“, sagte sie, „laß uns in den Wald
gehen, laß uns im warmen, trockenen Moos liegen und meine Kleidung in der Sonne
trocknen!“
„Doch nicht in den Wald!“ erwiderte
Bernd, denn die hohen Tannen warten bedrohlich. „Laß uns zum See gehen, ich
möchte angeln.“
Jetzt erst sah Bettina dass Bernds
Anglerausrüstung, dicht neben ihnen an einen Baum gelehnt, wartete.
„Ach nein, “ sagte sie und knöpfte ihre
weiße, weiche Bluse auf. „Was willst du denn mit anderen Fischen, du hast doch
mich!“
Sie bog ihm ihren nackten Oberkörper
entgegen, grünlich-blau schimmerten ihre Fischschuppen im Licht.
„Dann laß uns zum Meer fliegen“, schlug
Bernd vor, als er zärtlich und leicht wie der Wind mit der Hand über ihre
Brustwarzen strich. „Dort, in der Tiefe, ist meine Heimatstadt. Schon lange
träume ich davon, sie dir zu zeigen.“
„Ich kann doch nicht so weit fliegen!“
erkannte Bettina, plötzlich traurig.
Eine Träne rollte über die Wange, als
sich die Augen öffneten.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Iris Asamoah).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2006.
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