Iris Asamoah

Am Bach

 

Wie schön war dieser Morgen! So recht zum tiefen Durchatmen, zur Freude geschaffen. Der weiße Nebel hatte sich schon über die Felder verflüchtigt, die wenigen, hellen Schäfchenwolken würden bald von der Sonne fortgebrannt, der Tau auf den Gräsern verdunsten.

Bekümmert bedachte Bettina, wie die Hitze im Schulraum sich wie ein schwerer, von ihren Gehirnzellen durchfeuchteter, Schwamm in ihrem Kopf ausbreiten würde. Ihr trockener Mund müßte vorsichtig Worte formulieren, die ihre Schüler voll Desinteresse nachplappern würden. Das Getobe, das Gegröhle dieser Schüler erwartete sie.

Hier am Wegrand war nur Vogelgezwischer und das Summen einer Mücke zu hören, die Tina deftig auf ihrem Arm zerklatschte. „Nur noch ein wenig Zeit für mich!“ dachte sie sehnsüchtig. Wie von selbst knickten die Knie ein, sie saß im Gras. „Dies ist kein Tag zum Zuschnüren“ entschied sie. Sie löste das Band in ihrem Haar und schüttelte den Kopf. Die langen, schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht und über die Schultern. Tina lachte als das Haar sie an der Nase kitzelte, und warf den Kopf zurück. Sie liebte das Gefühl des vollen Haares auf ihrem Rücken, genüßlich streckte sie ihre Glieder und dehnte sich. Sie hatte das Kommen nicht bemerkt, die Schritte nicht gehört. Urplötzlich standen sie vor ihr, die Eltern, Bauer und Bäuerin, anklagend und verbittert.

„Was ist nur wieder in dich gefahren!“ rief die Mutter. Sie fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Was sitzt du hier im nassen Gras! Flecken wird es geben auf dem schönen Rock, und Falten obendrein. Eine Blasenentzündung wirst du dir holen!“

„Weshalb bist du nicht auf dem Weg zum Unterricht?“ wollte der Vater wissen. „Du wirst zu spät in der Schule ankommen. Ein schlechtes Vorbild bist du!“

„Ich mag nicht“, sagte Tina kleinlaut.

„Wie siehst du denn aus? Mit diesem unordentlichen Haar kannst du nicht ins Dorf. Was sollen die Leute von dir denken?“ schimpfte die Mutter.

„Keine Disziplin, das kann man an dem Haar erkennen!“ richtig böse schaute der Bauer drein. „Pflicht“ sagte er „Pflichterfüllung und Disziplin sind die obersten Gebote einer sauberen Lebensführung.“

„Ich halte das nicht mehr aus!“ Hörten die Eltern den Einwand?

„Beim Melken hat sie auch nicht geholfen!“ klagte die Bäuerin.

Der Vater griff nach Tinas Arm und zog sie hoch. Einen Moment stand er dicht vor ihr, nahm ihr die Sicht auf den sonnigen Morgen.

Der warme Stallgeruch vermochte Tinas Ausbruchsstimmung nicht zu ersticken.

„Laßt mich fort!“ rief sie.

„Das ist richtig“, sagte der Vater. „Geh du nur und verrichte dein Tagwerk.“

Die Mutter aber hatte etwas anderes vernommen.

„Wohin willst du denn, Kind?“

„Den Hang hinunter und über die Wiese. Vielleicht am Bach entlang oder in den Wald.“

„Wie kommst du nur auf solche Sperenzchen? Du bist hier das Fräulein, du gehörst in die Schule!“

Drohend legte der Vater eine schwere Hand auf die Schulter seiner Tochter und versuchte sie in Richtung des Dorfes zu stoßen. „Nun geh ´ endlich!“

Bettina riß sich los und rannte davon.

Hinter ihr rief die Mutter: „Wohin willst du nur?

„Zum Geliebten!“ antwortete Tina und lief weiter. „Zum Geliebten!“ Sie wagte es, das auszusprechen? Es wunderte sie, aber ihr gefielen die Worte. „Zum Geliebten, immer wieder zum Geliebten! Nur! Zum Geliebten!“

Schneller und schneller lief sie und lachte, denn nun war ihr klar: Der Geliebte erwartete sie.

In sicherer Entfernung von ihren Eltern unterbrach sie ihren Lauf, um sich die weißen Sandalen abzustreifen. 

Nutzlose Dinger hier, die Sohlen rutschten auf der feuchten Wiese und Gras klebte an ihnen, wie ein grüner Bart. Das Fräulein schleuderte die Schuhe so weit sie konnte, und drehte sich dabei im Schwung.

„Frei will ich sein!“ noch eine Drehung und ein weiter Sprung: „Frei bin ich!“

Die Erde feucht und kühl unter Tinas nackten Füßen, die Gräser voll glitzernder Tautropfen, Luft die nach Blumen und Gras duftete, der blaue Rock, der sich beim Rennen an die Beine schmiegte, spielende Schmetterlinge im Sonnenschein! Wie gut das war, wie schön die Welt! Hier war ihr Platz, hier konnte sie sich erleben, nicht eingepfercht in irgendwelchen Gemäuern, gefesselt von Pflicht und Disziplin! Schneller und schneller den Hang hinunter, dem Bach entgegen. Lila, weiß, blau und gelb leuchteten die Blümchen im Gras. Vielleicht sollte sie einen Strauß pflücken, zurück zur Mutter, die es ja nur gut mit ihr meinte? Zurück zum Vater, der es nicht anders wußte, beide um Vergebung bitten?

Doch nein. Der Geliebte wartete, immer wartete er auf sie. Schneller wollte sie sein, viel schneller rennen. Nur er konnte ihr noch mehr Schnelligkeit abverlangen, wenn sie dann endlich unter ihm im Gras in seinen starken Armen keuchen würde, die Bewegungen wie die der Tiere im Hof, nur besser, oh, so viel besser!

Der Mohn leuchtete rot im Kornfeld zu ihrer Seite, die Wipfel der Bäume neigten sich im leichten Sommerwind. Dort würde sie der Bach erwarten, und irgendwo an seinem Rand der einzige, der starke, der überalles Geliebte.

Hier waren schon Steine unter ihren Füßen, wollten spitz, kantig oder rund an den nackten Sohlen kleben bleiben, welch süßer Schmerz! Schon war das Murmeln des Baches zu hören, das Plätschern, wo sein Weg über die Felsen führte, dort würde er sein, der Geliebte!

Von weitem schon sah sie das blonde Haar, nach dem sich ihre Finger sehnten.

„Bernd, oh Bernhard, ich bin gleich bei dir!“

Da hatte auch er sie gesehen, lächelte, breitete seine Arme aus, fast stieß sie ihn um, als sie außer Atem ihren Platz in ihnen fand.

„Ich bin bei dir! Endlich bin ich wieder bei dir! Ich habe mich so nach dir gesehnt, habe es nicht mehr erwarten können hier bei dir zu sein, habe alles verlassen, um in deinen Armen zu liegen!“

Er erwiderte nichts, aber seine blauen Augen leuchteten. Sacht strich ihre Hand über sein Gesicht, erst glatt und breit, dann schmaler, wieder breiter werdend, rauh und eckig. Tief atmete sie seinen Sonnenduft.

„Laß mich die Füße ins Wasser tauchen, sie tun mir weh! Ach nein, laß mich nicht los, ich möchte weiter von dir gehalten werden, immer in deinen Armen sein!“

„Sei vorsichtig, sieh doch, du hast mich naß gespritzt. Was bist du nur immer so wild!“ sagte Bernd, aber er lächelte dabei.

Vom Boden drang kalte Feuchtigkeit unangenehm durch Tinas Rock. Sie erschauderte.

„Komm“, sagte sie, „laß uns in den Wald gehen, laß uns im warmen, trockenen Moos liegen und meine Kleidung in der Sonne trocknen!“

„Doch nicht in den Wald!“ erwiderte Bernd, denn die hohen Tannen warten bedrohlich. „Laß uns zum See gehen, ich möchte angeln.“

Jetzt erst sah Bettina dass Bernds Anglerausrüstung, dicht neben ihnen an einen Baum gelehnt, wartete.

„Ach nein, “ sagte sie und knöpfte ihre weiße, weiche Bluse auf. „Was willst du denn mit anderen Fischen, du hast doch mich!“

Sie bog ihm ihren nackten Oberkörper entgegen, grünlich-blau schimmerten ihre Fischschuppen im Licht.

„Dann laß uns zum Meer fliegen“, schlug Bernd vor, als er zärtlich und leicht wie der Wind mit der Hand über ihre Brustwarzen strich. „Dort, in der Tiefe, ist meine Heimatstadt. Schon lange träume ich davon, sie dir zu zeigen.“

„Ich kann doch nicht so weit fliegen!“ erkannte Bettina, plötzlich traurig.

Eine Träne rollte über die Wange, als sich die Augen öffneten.

Rasch schob sie ihre Hand, die auf ihrer nackten, schrumpligen Brust gelegen hatte, unter die Bettdecke. Die Schwester tat so, als hätte sie das nicht bemerkt. Mit routinierten Bewegungen löste sie die Bremsen des Rollstuhls und schob ihn zum Bett.„Jetzt wird es aber höchste Zeit aufzustehen, Frau Winter“ sagte sie.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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