Karl-Heinz Fricke

Hinaus in die Ferne

Hinaus in die Ferne

Ende November 1956. Gerade als der blutige Aufstand in Ungarn von den Sowjets zerschlagen worden war, befanden wir uns auf dem Weg in eine neue, freie Welt, in die wir eigentlich als Deutsche so kurz nach den katastrophalen Jahren des zweiten Weltkrieges gar nicht hineinpassten. Wir waren aber entschlossen unseren Kindern, die zu der Zeit gerade fast 3 und 6 zählten, eine Zukunft zu gewährleisten, die für uns viele schwierige Jahre und Verzicht bedeuten würden. In Europa waren Unruhen durch die verschiedenen Weltanschauungen seit Jahrhunderten immer gegenwärtig, was sich in zahlreichen Kriegen untereinander widerspiegelte. So war unser Entschluss mehr oder weniger eine Entscheidung der Vernunft im Hinblick auf dunkle politische Wolken, die sich nicht vom Himmel verbannen ließen.

Schweren Herzens verließen wir unser Heim, unsere Verwandten und unsere Heimat, die wir auch heute noch lieben, aber damals nicht mehr verstanden. Wir waren an einem Scheideweg im Leben angelangt, und begaben uns in ein neues Leben und wir wussten, dass wir vieles in der fremden Welt vermissen würden und vielleicht sogar nachweinten.

An jenem kühlen Novembertage standen wir im Morgengrauen auf dem zugigen Perron des Goslarer Bahnhofs umringt von unseren Müttern und Freunden. Sie konnten unseren Entschluß einfach nicht verstehen, und es wurde an jenem Tagen klar, dass wir einige unserer Lieben wohl nie wiedersehen würden. In Kanada hieß es vorerst festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, machten uns aber keine Illusionen, über Nacht reich zu werden, zumal wir nicht einmal die Landessprache beherrschten und keine beruflichen Vorzüge besaßen.

Als der Zug schließlich eintraf, gab es auf beiden Seiten letzte Umarmungen, Händeschütteln und Tränen. Dann hieß es: " Alles einsteigen und wegtreten von der Bahnsteigkante!" Wir waren mit unseren Gedanken allein. Am Nachmittag trafen wir in der Hansestadt Bremen ein. Ein anderer Zug brachte uns in das benachbarte Bremerhaven, wo die geankerte "Arosa Sun" die Passagiere an Bord nahm. Der feste Boden, von dem ich sprach, bestand allerdings nicht aus den Schiffsplanken des schweizerischen Übersee-Dampfers, den wir an jenem 30. November betraten. Frühmorgens sollte die Überquerung des Atlantiks starten. Zu dieser Jahreszeit ist der Atlantik gewöhnlich nicht sehr ruhig, und so wurde dann auch bekanntgegeben, dass das Auslaufen aus der Wesermündung in die Nordsee wegen starken Sturms verzögert werden müsse. Gegen Abend des zweiten Tages war es dann aber soweit, und obwohl die Wogen noch hoch an die Schiffswand schlugen, verließen wir schließlich Bremerhaven und damit unsere Heimat.

Die Nordsee, das Nebenmeer des Atlantiks, mit ihren kurzen, aber mächtigen Wogen, verursachte sogleich bei verschiedenen Passagieren, zu denen auch meine Frau Hilde gehörte, die unangenehme Seekrankheit. In Portsmouth, der englischen Hafenstadt an der Südküste der britischen Insel legte das Schiff an, um noch Passagiere an Bord zu nehmen. Dann sollte es gleich weiter über den Atlantik gehen. Es wurde jedoch gefunkt, dass weitere Passagiere aus Le Havre in Frankreich mitzunehmen seien obwohl alle Kabinen bereits besetzt waren. Es konnte sich nur um einen Notstand handeln. Kaum Gepäck und meistens nur die Bekleidung auf dem Leibe, warteten 400 männliche Flüchtlinge aus Ungarn am Kai, die der Willkür der Sowjets in ihrer Heimat entflohen waren.

So wurde unsere Überfahrt sogar zu einem geschichtlichen Ereignis, da es sich um die ersten Flüchtlinge aus Ungarn handelte, denen das freie und großzügige Land Kanada Asyl gewährt hatte. Natürlich war an Bord ein heilloses Durcheinander, denn 400 Menschen zusätzlich unterzubringen, muss man als ein Kunststück betrachten. Aber auch hier galt der Spruch: ‘Viele geduldige Schafe passen in einen Stall’. Endlich dann volle Fahrt voraus Richtung Kanada. Die Windstärke des Sturmes, die sich später auf 11 erhöhen sollte, ließ schon nach wenigen Seemeilen viele der Passagiere aufstöhnen und der Geruch, der sich auf den Treppen und Gängen ausbreitete erreichte auch seefeste Passagiere, die krampfhaft versuchten ihren Mageninhalt zu behalten. Der Speisesaal war nur spärlich besucht, aber unsere Kinder und ich genossen das ausgezeichnete Essen, das an Bord der Passagierschiffe meistens ganz fantastisch in Güte und Vielfalt ist. Meine Frau lag auf dem Deck in Decken gehüllt auf einem Liegestuhl und wollte von der Welt nichts sehen. Ein besorgter Steward war jedoch ständig zur Stelle, um die kranken Passagiere liebevoll mit Tee und Toastschnitten zu versorgen. Um den Gerüchen unter Deck, wo sich unsere Kabine befand, zu entgehen, hielten wir uns ebenfalls meistens auf dem Deck in der Nähe von Hilde auf. Nur zu den Mahlzeiten gingen wir regelmäßig, und unser Sohn schleifte mich nachmittags in die Bingo Halle. Hilde raffte sich einmal auf und kam mit zum Essen. Der Anlass war der dreijährige Geburtstag unserer Tochter Renate. Zu unserer Überraschung bekam sie ein Ständchen, eine imitierte Perlenkette und eine kleine Torte mit drei Kerzchen. Für eine lustige Geschichte sorgte Hilde, als sie sich in die hauptsächlich von Männern besuchte Schiffsbar wagte, um eine Flasche Sprudel zu erstehen. Weil sie eine Sieben für ein ‘J’ ansah, gab es großes Gelächter. Eine Flasche Jup kannte der Barmixer nicht, aber als sie auf das Plakat mit einer Flasche 7up zeigte, war auch dieser Groschen gefallen.

Der Sturm war nun in seinem Hauptelement, und die nicht mehr junge "Arosa Sun" wurde zum Spielball der Wogen. Einmal musste geankert werden, weil ein Passagier am Blinddarm operiert werden musste. Wie wir später herausfanden, war auch unser späterer Hausarzt unter den Auswanderern.

Endlich nach weiteren drei Tagen ließ der Sturm etwas nach. Wir waren in der Nähe Neufundlands und der Mündung des St. Lorenz Stromes. Die Seekranken atmeten auf. So schlagartig wie die Krankheit auftrat, verschwand sie auch wieder. Einen Tag später landeten wir in Quebec City zur Ausschiffung. Eine Musikkapelle am Pier begrüßte als erstes die ungarischen Flüchtlinge mit deren Nationalhymne und einem Fahnenmeer. Schließlich gingen auch wir von Bord. Das große, freie Kanada hatte uns als neue zukünftige Bürger in seine Arme genommen.
 
                        Karl-Heinz Fricke  08.03.2006

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