Suzanne Jaccaz

Die Reise

Der erste Teil dieser Geschichte stammt von Luigi Pirandello und wurde auf der letzten Seite des SBB-Magazins Via veröffentlicht. Weil ich wissen wollte wie die Geschichte weiterging, jedoch keine Buchhandlung in der Nähe war, habe ich während der Reise in der Eisenbahn selber eine Fortsetzung erfunden. Ihr findet sie im zweiten Teil.
 
 
                                                   Seit dem Tod ihres Ehemannes vor 13 Jahren hatte
Adriana Braggi ihr Haus in den Bergen von
Sizilien nicht mehr verlassen. Nun muss sie wegen
Einer schweren Krankheit nach Palermo reisen –
Zusammen mit ihrem Schwager, der sie einst
Hatte heiraten wollen
 
 
Das Uebel sass am Rippenfell. Aber welcher Art war es? Mit Hilfe eines Kollegen versuchte es der alte Arzt mit einer Punktur, doch diese blieb ergebnislos. Dann stellte er eine gewisse Verhärtung der Achseldrüsen fest und gab Cesare Braggi den Rat, die Schwägerin sofort nach Palermo zu bringen, wobei er deutlich durchblicken liess, er befürchte einen vielleicht unheilbaren Tumor.
Sofort zu reisen war unmöglich. Nach einer Klausur von dreizehn Jahren besass Adriana nicht die Garderobe, die es ihr gestattete, sich öffentlich blicken zu lassen und zu reisen. Es musste also nach Palermo geschrieben werden, damit man ihr das Notwendigste schicke.
Auf jede Art suchte sie sich zu widersetzen und versicherte dem Schwager und den Söhnen, sie fühle sich nicht mehr so schlecht. Eine Reise? Wenn sie bloss daran dachte, überlief es sie kalt. Auch war es gerade die Zeit, zu der Cesare gewöhnlich seinen einmonatigen Urlaub nahm. Wenn sie mit ihm reiste, raubte sie ihm damit seine Freiheit, jedes Vergnügen. Nein, nein, das wollte sie unter gar keinen Umständen! Und dann – wem sollte sie die Kinder überlassen? Wem das Haus anvertrauen? Aber Schwager und Söhne lachten nur über diese Bedenken. Sie versteifte sich darauf zu erklären, die Reise werde ihr bestimmt nur schaden. O Gott, sie wusste doch gar nicht mehr, wie die Strassen aussahen! Nicht einen Schritt würde sie gehen können! Man möge sie doch nur um Himmels willen zu Hause lassen!
Es war ein Hauptspass für die Jungen, als aus Palermo die Kleider und Hüte ankamen.
Jubelnd brachen sie mit den grossen, in Wachstuch gepackten Schachteln in das Zimmer der Mutter ein und schrien, was sie nur konnten, die Mutter müsse die Sachen sofort, sofort anprobieren. Sie wollten ihre Mutter schön sehen, wie sie sie noch nie gesehen hatten. Und so lange redeten und bettelten sie, bis die Mutter nachgeben musste.
Es waren schwarze Trauerkleider, auch diese, aber sehr reich und mit wunderbarer Meisterschaft gearbeitet. In ihrer Unkenntnis und Unerfahrenheit in Dingen der Mode wusste sie gar nicht, wie sie mit dem Ankleiden beginnen sollte. Wo und wie diese vielen Häkchen schliessen, die sie da und dort fand? Dieses Krägelchen – o Gott, so hoch? Und diese Aermel mit den vielen Falten... Trug man das jetzt so? Hinter der Tür tobten unterdessen die ungeduldigen Jungen:
„Bist du so weit, Mutter? Noch nicht?“
Als wäre die Mutter dort drin im Begriff gewesen, sich für ein Fest zurechtzumachen! Sie dachten nicht mehr an den Anlass, für den diese Kleider gekommen waren; um die Wahrheit zu sagen, dachte nicht einmal sie in diesem Augenblick daran.
Als sie, ganz verwirrt und erhitzt, die Augen hob und sich im Spiegelschrank erblickte, befiel sie eine äusserst heftige Empfindung, die beinahe Scham war. Dieses Kleid, das in dreister Eleganz ihre Hüften und den Busen nachzeichnete, gab ihr die Schlankheit und die Haltung eines jungen Mädchens. Sie hatte sich bereits alt gefühlt, und jetzt sah sie sich in diesem Spiegel plötzlich jung und schön – als eine andere – wieder.
 
Aus: „Meistererzählungen“ von Luigi Pirandello
1987, Diogenes Verlag AG Zürich
 

FORTSETZUNG

Frei erfunden

Sie öffnete die Tür und sah sich ihren sprachlosen Jungen gegenüber, die ob so viel Schönheit und Weiblichkeit fast erstarrt waren. Noch nie hatten sie ihre Mutter so gesehen. Für sie war sie immer eine liebenswerte aber auch alte unscheinbare Frau gewesen und nun stand da plötzlich ein junges, hübsches und sogar erotisches Wesen vor ihnen. Verlegen blickten sie zu Boden, doch dann brachen alle, auch die Mutter in ein befreiendes Lachen aus und fielen sich in die Arme. Mutter, du bist ja wunderschön; warum hast du das so lange verborgen? Denkst du nicht, dass es jetzt an der Zeit ist, dein Schneckenhaus zu verlassen und wieder unter die Leute zu gehen. Du weißt gar nicht, was der Welt alles entgeht, wenn du dich ihr vorenthältst. Ich glaube auch Vater wäre stolz auf dich und hätte seine Freude daran, eine so attraktive Frau zu sehen. Für Adriana kam diese Wandlung allzu plötzlich; ihr lief es heiss und kalt über den Rücken und tief in ihrem Innern spürte sie ein neu erwachtes Lebensgefühl; eine Freude und ein Verlangen wieder so begehrenswert wie früher zu sein. Ganz vergessen hatte sie dieses Gefühl in all den Jahren der Trauer in denen sie dachte die Freude sei nun für immer aus ihrem Leben verschwunden und sie sich schon alt und verbraucht fühlte. Plötzlich stiegen wieder ganz viele Erinnerungen aus ihrer Jugend in ihr auf; Erinnerungen an den ersten Tanzabend in der Schule; wie attraktiv und begehrenswert war sie damals gewesen. Ja, sie wollte wieder leben und das Leben geniessen. Als sie diesen Entschluss gefasst hatte, war auch die Entscheidung nach Palermo zu reisen nicht mehr schwierig zu fällen.
Mit ihrem Schwager vereinbarte sie gleich am nächsten Samstagmorgen aufzubrechen. Die Kinder waren schon gross genug, um selber für sich zu sorgen und die Nachbarsleute versprachen jeden Tag nach dem Rechten zu sehen.
Als alles geregelt war und Adriana ihren Koffer gepackt hatte, stieg Angst in ihr auf. Was würde wohl alles auf sie zukommen; wie würde sie mit all dem Neuen Ungewohnten umgehen? Doch sie spürte gleichzeitig auch das Vertrauen in ihre alte Persönlichkeit, das ihr Mut und Kraft gab die neue Herausforderung anzunehmen und ins kalte Wasser zu springen.
Am nächsten Samstag pünktlich wie vereinbart um 9 Uhr morgens erschien ihr Schwager Cesare um sie abzuholen. Er hatte für die Reise in die grosse Stadt seine besten Kleider angezogen und sich besonders sorgfältig gepflegt. Auch ihm war in den letzten Tagen einiges durch den Kopf gegangen und ganz alte, schon längst vergessen geglaubte Gefühlsregungen nahmen von ihm Besitz. Wie war es doch überhaupt gewesen als er in jungen Jahren in Adriana verliebt war, um sie warb und sie sogar heiraten wollte. Plötzlich sah er sie wieder in ihrer jugendlichen Schönheit vor seinen Augen; ein Bild das er längst vergessen hatte. Und da stieg auch wieder das alte Verlangen in ihm hoch, diese Frau ganz für sich zu besitzen. Doch wie hatte sie sich in den letzten Jahren verändert. Nach dem Tod seines Bruders hatte sie sich völlig in ihrem Haus vergraben und war alt und blass geworden. Er nahm sie eher als eine arme Schwester wahr.
Als er sich an diesem Samstagmorgen auf den Weg machte sie abzuholen war er sichtlich nervös. Wie würde die Reise mit ihr verlaufen; welche Gefühle würde er ihr gegenüber empfinden? Irgendwie ahnte er, dass sie nicht mehr die gleiche war wie in all den vergangenen Jahren der Trauer und Isolation. Mit klopfendem Herzen öffnete er die Tür ganz gespannt darauf, was für eine Frau er vorfinden würde. Die Jungen kamen ihm entgegengerannt und zerrten ihn ins Wohnzimmer. Alle schwatzten gleichzeitig auf ihn ein wie Mutter sich verändert habe und wie schön sie geworden sei. Da öffnete sich die Tür und eine aufrechte elegante Gestalt trat aus dem Halbdunkel des Nebenzimmers. Als sie ins Licht des Wohnzimmers trat hielten alle den Atem an. Da stand Adriana, wie sie sie noch nie gesehen hatten. Ihre schlanke Gestalt war in das wunderschöne schwarze Kleid gehüllt, dass ihre weiblichen Rundungen bewusst zur Geltung brachte. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet und in ihren Augen war ein feuchter Glanz zu erkennen. Cesare sprang auf und ging einen Schritt auf sie zu. Plötzlich hielt er inne, streifte ihren feingliedrigen Körper von oben bis unten mit seinem Blick und schaute ihr zum Schluss in die schönen, tiefen braunen Augen. Adriana ... war alles was er zu sagen im Stande war. All seine alten Gefühle für dieses weibliche Wesen stürzten plötzlich auf ihn ein und drohten ihm den Boden unter den Füssen zu entziehen. Als er merkte was mit ihm geschah gab er sich einen Ruck, fasste sich, ging auf sie zu und sagte: „Du siehst wunderschön aus.“ Er hatte sich wieder im Griff und begann die Abreise zu organisieren, um seine aufwallenden Gefühle nicht preiszugeben. Doch Adriana hatte in seinen Augen für einen kurzen Moment das Aufflackern seiner Leidenschaft bemerkt – es waren dieselben Augen, die sie früher fast vom Entschluss seinen Bruder zu heiraten abgebracht hatten. Doch sie war standhaft geblieben – damals. Auch sie riss sich zusammen und wendete sich der Erledigung der letzten Pflichten vor dem Abschied zu. Sie gab ihren Söhnen noch genügend gute Ratschläge und verabschiedete sich herzlich von jedem Einzelnen. Dann sagte sie: „Ich bin bereit, wollen wir gehen?“ Cesare lud den Koffer ins Auto und öffnete ihr charmant die Tür. Das Rauschen ihres Kleides beim Einsteigen und der Duft ihres Parfums brachten sein Herz zum Klopfen, doch er liess sich nichts anmerken und schloss galant die Tür hinter ihr. Adriana zupfte ihr Kleid zurecht; sie war sichtlich nervös, denn auch sie hatte diese Erregung gespürt als sie nahe an ihm vorbei ins Auto eingestiegen war. Es war ein Gefühl, das sie nie mehr zu spüren geglaubt hatte und das sie nun in seiner Intensität überrumpelte. Cesare nahm neben ihr Platz und sie legten die ersten Kilometer schweigend zurück; jeder war zu sehr mit seinen eigenen Gefühlen und Gedanken beschäftigt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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