Wolfgang Urach

Kein kleiner Ski-Unfall

Die Sirene hallte im kalten Innenhof des Krankenhauses.
Die Trage wurde rasch aus dem Notarzt-Wagen getragen.
„Platz! Weg da! Das ist ein Notfall!“, rief de vordere Sanitäter im unnachahmlichen schwyzerdeutschen Akzent Graubündens.
Bei jedem Schritt tat mir der Brustkorb weh, als würde ihn jemand mit einem Hammer bearbeiten.
„Vorsicht“, sagte der hintere Sanitäter zu seinem Vordermann.
Neonlicht. Bullige Hitze des Notfallflurs. Aufgeregtes Flüstern der Gaffer und der Krankenschwestern.
Mir tat der Oberkörper zum Zerspringen weh. Lasst mich in Ruhe! hätte ich schreien wollen, wenn ich dazu die Kraft gehabt hätte.
Und mir war müde. Jedes Atemholen, jeder Herzschlag eine Anstrengung.
„Nein, nicht in die Ambulanz, direkt in den OP!“ zischte eine autoritäre Stimme.
Die Trage nahm einen brüsken Richtungswechsel vor.
„Aufpassen“, meinte der Hintere.
„Aus dem Weg“, herrschte der Vordere.
Ich wurde vorsichtig abgesetzt.
Ein, dessen Stirn nur aus nachdenklichen Runzeln zu bestehen schien, beugte sich über mich. Er kratzte in seinem fein gestutzten Salz-und-Pfeffer-Bart und erklärte mit der gleichen autoritären Stimme, die ich schon vorher gehört hatte: „Alles wird gut abgehen. Nur mit der Ruhe. Sie bekommen eine vollständige Anästhesie…“
Das hätte er sich sparen können, denn ich merkte deutlich den Einstich in der Armbeuge.
„… und dann werden wir uns Sie mal genau ansehen.“
Er lächelte, doch sein zuckendes Auge verriet mir, dass er weniger seiner Sache sicher war, als er vorgab.
Dann versank ich in eine tiefe Stille, und die Wirklichkeit entfernte sich auf angenehme Weise von meinem schmerzerfüllten Körper.

Ich hatte schon immer Angst gehabt, dass das Sessellift-Kabel reißt.
Dieses blöde Kabel, das all die sorglosen Urlauber schwebend in der Höhe hielt.
Ein Riss…
Was dann tun?
Das war sicher eine paranoide Frage, aber ich konnte mich ihr nicht entziehen.
Ski-Stöcke wegwerfen. Klar.
Ski abstreifen. Damit man sich nicht die Beine oder das Rückgrat bricht, wenn man darauf zu liegen kommt. Logisch.

Da hörte ich das Zischen. Sofort wusste ich, was passiert war.
Mit einem Ruck sackte der Sessel ab. Ich warf die Stöcke weg, Skier ab, schnell, schnell, Sicherheitsbarriere hoch.
Allen Mut zusammen nehmen. Ich stieß mich ab.
Dann wachte ich im Schnee auf.
Das Gesicht rot vor Kälte.
Der Brustkorb eingedrückt, vor Schmerz brüllend. Ich wurde wieder ohnmächtig.

„Herr Siegmaier, Herr Siegmaier!“
Jemand rief mich.
Ich machte mühsam die Augen auf, die Neonleuchten blendeten mich.
Mein Brustkorb brannte stechend.
„Herr Siegmaier?“ Der Mann sprach mich mit diesem rollenden R des heimeligen Schweizer Akzents an.
„J..ja“, stöhnte ich mühevoll.
Ein freundlicher Mittfünfziger beugte sich über mich.
„Sind Sie Herr Siegmaier?“, fragte der Mann zum vierten Mal.
Ich nickte.
„Sie brauchen mir nicht zu antworten, ich habe Ihren Namen auf Ihrem Personalausweis gefunden.“
Ich nickte wiederum.
„Ich bin Kommissar Zäpfli, und Sie sind sicher erstaunt, dass ich Sie befrage… aber wir haben Grund zur Annahme, dass es sich nicht um einen banalen Unfall handelt“, erklärte die Schweizer Ordnungsmacht.
Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch und versuchte mich an diesen unglückseligen Tag zu erinnern.

Ein grau verhangener Morgen. Nebel. Leichter Schneefall.
Ich war noch vor der Öffnung der Ski-Pisten den Berg hoch gestapft.

„Sie müssen wissen, dass wir Drohbriefe erhalten haben.“ meinte der Kommissar.
Ich runzelte die Stirn.
„Die Zürcher Zeitung hat einen erhalten, auch die Basler Nachrichten. Aber Sie sollten wissen, bei uns in der Schweiz sind die Leute sehr obrigkeitshörig. Nichts wurde veröffentlicht, die Zeitungen übergaben uns die Briefe, nur wir von der Polizei wussten davon.
Ich nickte.
„In diesen Briefen ging es um Attentate in den Schweizer Skiorten, wenn die Schweiz nicht innerhalb von 72 Stunden sein UN-Mandat im südlichen Kongo aufgibt und alle ihre dort stationierten Truppen zurück in die Schweiz verlegt.“
Ich hatte verstanden und nickte wiederum.
„Sie hatten Glück. Sie haben rechtzeitig die Ski-Stöcke weggeworfen und die Skier gelöst. So ist Ihr Sturz in den Schnee weich gewesen. – Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Attentat handelt.“
Ich schlug die Augen nieder: Was sollte man dazu sagen?

Ich musste an die schmale Stahlleiter denken.
Eiskalt. Spiegelglatt. 20 Meter hoch.
Endlich oben angekommen, hatte ich Schwierigkeiten, die Akku-Flex anzumachen, so sehr zitterten meine Finger trotz Handschuhe.

„Sie müssen verstehen“, unterbrach der Kommissar meine Gedanken. Er schaute jetzt aus dem Fenster in die verschneite Winterlandschaft. „Sie verstehen, in so einem Verdachtsfall müssen wir allen Spuren nachgehen, selbst wenn es die Opfer betrifft.“
Ich nickte, doch er beachtete mich gar nicht, sein Blick war starr nach draußen gerichtet.

Ich hatte gewartet. Der Ski-Lift war wie gewöhnlich um 9 Uhr geöffnet worden.
Um 10 Uhr war immer noch nichts passiert.
Mein Auftraggeber war am Telefon ganz deutlich gewesen: „Acht Millimeter, genau acht Millimeter müssen an Stahlkabel stehen bleiben. Wenn du mehr abflext, reißt das Kabel sofort innerhalb von fünf Minuten. Wenn du weniger runternimmst, passiert gar nichts.“
Acht Millimeter!
Wer kann das schon im eisigen Wind, auf einem Pfeiler in 20 Meter Höhe stehend, so genau bestimmen…
Hatte ich zu wenig geflext?
Um 11 Uhr immer noch nichts. Mir platzte der Geduldsfaden, und ich reihte mich in die Schlange der wartenden Ski-Fahrer ein. Ich wollte sehen, was passiert war.

„Herr Siegmaier“, wandte sich der Ordnungshüter wieder an mich, „um 11 Uhr 16 reißt das Kabel.“
Ich nickte.
„Nur es reißt nicht talaufwärts, wie von den Terroristen erhofft, sondern talabwärts. Die Ski-Fahrer, die in den bergseitigen Sesselliften sitzen, hören das Reißen, und das Seil verliert schnell an Höhe, die Sessel sinken rasch ab, auch talaufwärts.“
Ich nickte.
„Nur eins wussten die Attentäter nicht.“ Er hält inne. Ich ziehe fragend die Brauen hoch.
„Eine Reiß-Sicherheit in der Berg- und der Talstation verhindert, dass das ganze Kabel zu Boden fällt. Diese Schnappsicherung hält das Stahlseil, sobald es übermäßig schnell über die Umlenkrolle rutscht, einfach fest. Es schnappt zu.“
Er machte eine Pause, kehrte vom Fenster zum Bett zurück und fragte mich: „Das wussten Sie nicht, oder?“
Langsam schüttelte ich den Kopf.
Er nickte: „Sehen Sie, das habe ich mir gedacht.“
Dann holte er seufzend aus: „Das Kabel reißt also im talwärtigen Bereich. Die Umlenkrolle an der Talstation schnappt zu, und die Ski-Fahrer auf der Bergseite… kommen mit dem Schrecken davon…“
Er hielt inne und fügte dann leise hinzu: „Nur einer nicht, Sie!“ Seine Stimme bekam einen gepressten Klang, er vergaß zu atmen: „Sie… Sie springen von Ihrem Sessel in den Schnee. Sie sind der Einzige. Alle anderen bleiben wie vor Angst erstarrt sitzen. Sie sind das einzige Opfer dieses Attentats. Und Sie reagieren so schnell, wie nur jemand reagieren kann, der wusste, was passieren würde…“
„Nein“, krächzte ich und hob abwehrend meine Arme unter Bettdecke hoch, doch die linke bekam ich nicht hob. Eine Handschelle fesselte mich an den Bettrahmen.
„Tut mir leid, Vorsichtsmassnahme“, murmelte der Kommissar, „bis bald beim Verhör.“
Er verließ grußlos das Krankenzimmer.
Im Türrahmen wurde ein Streifenpolizist sichtbar.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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