Carine Redlinger

Lilly und der Kartoffelbauer

Das junge Mädchen hüpfte über das weiche Moos. Das samtige Grün kitzelte sie an ihren nackten Füßen. Aber sie war kein gewöhnliches Mädchen, sie war etwas ganz Besonderes. Wenn man genauer hinsah, konnte man ihre zarten Flügel in der Morgensonne schimmern sehen. Die Fee erfreute sich an dem noch jungen Tag und atmete den Duft des Waldes genüsslich ein. Von der Lichtung her strömte der liebliche Wohlgeruch von Wildblumen und Kräutern in ihre Nase. Die Sonne warf ihre Strahlen durch die Baumkronen und erwärmte den feuchten Waldboden. Wie Edelsteine glänzten die Tauperlen auf den Gräsern. Lilly beugte sich zu einem Blatt hinab und ließ einen Tautropfen auf ihre Hand  gleiten.  Der Tropfen spiegelte Lillys hübsches Gesicht wieder. Sie umschloss den Tautropfen ganz vorsichtig, dann blies sie sanft in ihre geballte Faust. Sie öffnete die Hand und auf der Handfläche lag ein wunderschöner Diamant. Zufrieden beobachtete Lilly wie die Sonnenstrahlen, in allen Farben, von dem Stein reflektiert wurden.
 
" Das darfst du nicht tun! Es ist verboten!"
Erschrocken fuhr die Fee herum und blickte in das mürrische, runzelige Gesicht eines Gnoms. Schnell versteckte sie ihre Hände hinter dem Rücken und wackelte aufgeregt mit ihren Flügelchen. Aber es war schon zu spät, der Gnom hatte ihr blitzschnell den Stein aus der Hand stibitzt und ließ ihn in einem kleinen braunen Beutel verschwinden.  Diesen steckte er in die ausgebeulte Tasche seiner  zerschlissenen Jacke.
“Warum darf ich das denn nicht? Es war doch nur ein Tautropfen und hätte ich ihn nicht in einen Diamanten verwandelt, dann hätte ihn schon bald die Sonne aufgeleckt.”
Der Gnom schüttelte missmutig den Kopf.
“Ja und der Mond hätte ihn heute Nacht wieder auf die Erde gesandt. Niemand interessiert sich da draußen für einen Tautropfen. Was glaubst du was hier los sein wird wenn die Menschen erfahren, dass Feen Tauperlen in Diamanten verwandeln können? Ihr hättet keine ruhige Minute mehr, würdet gejagt und gefangen genommen und das alles weil du kleines, unvernünftiges Ding nicht nachgedacht hast.”
Lillys Augen weiteten sich vor Schreck. Daran hatte sie wirklich nicht gedacht. Beschämt senkte sie ihren Kopf.
"Tut mir Leid, das habe ich nicht bedacht. Was wirst du nun tun?"
Der alte, hässliche Gnom ließ seinen Blick abschätzend über die junge Fee wandern. Ein hämisches Grinsen, das Lilly erschaudern ließ zierte das runzelige Gesicht ihres Gegenübers.
"Ich muss dich bei eurer Königin melden. Das wird noch ein Nachspiel haben, meine Kleine. So wie ich euere Königin kenne, wird die alles andere als erfreut sein."
Lilly erstarrte. Die Königin! Was würde wohl geschehen, wenn sie von Lillys Verfehlung erfahren würde. Ganz bestimmt würde sie ihr verbieten am Frühlingsball teilzunehmen. Dabei hatte sich die junge Fee so auf dieses schöne Fest gefreut. Warum musste sie auch so gedankenlos sein. Wenn sie nachdachte, dann fiel es ihr ja auch wieder ein, dass man ihnen beibrachte, solche Zauber zu unterlassen.
"Ich habe es doch nicht absichtlich gemacht. Heute ist ein so schöner sonniger Morgen und ich habe mich an den wunderbaren Blüten und dem herrlichen Duft erfreut. Als ich dann den Tautropfen in meiner Hand hielt, konnte ich nicht anders. Ich wollte einfach nur dass er nicht vergehen würde. Ich wollte ihm ewiges Leben schenken."
Der Gnom stampfte wütend mit seinen Füßen auf den Waldboden. Der aufgewirbelte Staub bedeckte seine langen, spitzen Stiefel. Fast hätte Lilly in ein Lachen ausgebrochen beim Anblick der Löcher in dem braunen Leder. Aus dem linken Stiefel lugte ein dicker schmutziger Zeh aus einem kaputten Strumpf heraus. Schnell blickte sie wieder auf, um den Gnom nicht noch wütender zu machen.
"Du bist ein kleines dummes Ding. Ich werde dich jetzt nach Hause begleiten und von deinem Frevel berichten. Komm jetzt, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!"
Der alte Griesgram griff nach seinem Wanderstock. Dieser war genauso krumm und mit Knubbel übersät, wie die kurzen, dürren Beinchen des Gnoms. Lilly, die schon dachte sie wäre vor Schreck am Waldboden festgewachsen, rannte mit hängenden Flügeln hinter dem Alten her.
“Bitte, warte doch. Kannst du denn keine Ausnahme machen? Ich werde so etwas nie, nie wieder tun. Versprochen. Bitte geh nicht zur Königin.”
Der Gnom blieb stehen und wandte sich wieder der Fee zu. Erneut konnte Lilly dieses hämische Grinsen auf seinem faltigen Gesicht erkennen.
“Ich könnte wirklich einer Ausnahme machen. Aber nur weil du es bist. Komm setzten wir und hier auf den Baumstamm. Ich muss nachdenken.”
Er legte seinen Wanderstock ins Gras und setzte sich.
In Lilly erwachte Hoffnung. Zaghaft nahm sie neben dem brummigen Gnom Platz. Ihr kleines Herz schlug wie wild.
“Ich könnte tatsächlich davon absehen, der Königin zu berichten was du angestellt hast.”
Lilly griff dankbar nach der dürren, schwieligen Hand des alten Brummbären. Aber sie hatte sich zu früh gefreut.
“Allerdings, musst du etwas für mich tun. So als Gegenleistung. Ich sehe nämlich nicht ein, dass du so ganz ungeschoren davon kommen sollst. Ob nun ich oder die Königin dich bestrafen, dass ist eigentlich ganz gleich.”
Lilly riss die Augen auf. Was hatte der Gnom mit ihr vor. Die Fee fand es schon recht seltsam und auch ziemlich dreist, dass er sich auf das gleiche Niveau wie die Königin stellen wollte. Aber was sollte sie tun? Vielleicht war das was sie erwartete ja auch nur halb so schlimm, wie sie dachte.
“Was hast du denn vor?”
“Ich habe nichts vor. Du könntest mir nur behilflich sein. So als Gegenleistung dafür dass ich dich nicht verrate.”
Lilly atmete erleichtert auf. Behilflich sein. Das war alles. Aber sicher würde sie dem Alten gerne helfen. Sie sprang vom Baumstamm hinunter und musterte den Gnom mit leuchtenden Augen. So abscheulich kam er nicht vor, als dass er etwas Unmögliches von einer jungen Fee erwarten würde.
“Und? Wobei kann ich dir helfen?”
“Bist du schon einmal im Menschendorf gewesen?”
Lilly blickte das alte Männlein entsetzt an.
“Aber nein, das dürfen wir doch nicht. Niemand von uns darf in die Nähe der Menschen kommen. Diese sollen nichts von unserem Dasein erfahren. Menschen sind böse. Sie würden uns, ganz genau wie du vorhin gesagt hast jagen und gefangen nehmen.”
Der Alte lachte hämisch.
“Ach, das ist euch verboten? Nun, kleine Fee denkst du wirklich dass kein Mensch weiß dass ihr da seid. Außerdem hast du dich ja schon über Verbote hinweg gesetzt, als du den Diamanten erschaffen hast. Dann könntest du es ja noch einmal tun und für mich ins Menschendorf schleichen. Ich wäre ja selbst gegangen, aber meine alten, krummen Beine machen mir zu schaffen. Du könntest mir den Weg abnehmen und wenn du ganz vorsichtig bist, dann wirst du auch unentdeckt bleiben.”
Er musterte Lilly mit seinen kleinen, flinken Augen und lauerte auf eine Antwort. Er konnte ganz genau spüren wie aufgewühlt die Fee war.
“Warum willst du denn ins Menschendorf? Was hast du vor?”
“Ich habe gehört, dass die Bauern wieder einen Teil des Waldes roden wollen. Wenn das stimmt, dann ist meine Behausung in Gefahr. Mein ganzes Leben wohne ich schon an diesem Ort und jetzt sollen diese herrlichen alten Bäume der Axt zum Opfer fallen. Ich muss unbedingt wissen was die Menschen vorhaben. Ich bin schon viel zu alt um nach einer neuen Bleibe für mich zu suchen. Glaubst du, du könntest das für mich herausfinden?”
Das alte dürre Männlein rief in Lilly Mitleid hervor. Obwohl sie große Angst verspürte heimlich ins Menschendorf zu schleichen, wollte sie dem Gnom helfen.
“Wohin muss ich denn gehen um das heraus zu finden? Ich kann ja nicht zu den Bauern hingehen und fragen. Wie kann ich es denn in Erfahrung bringen?”
Das Gesicht des Gnoms nahm einen freundlicheren Zug an.
“An jedem Sonntag treffen sich die Bauern aus der Gegend im Wirtshaus. Dort wird alles Mögliche besprochen. Du könntest dich dort verstecken und ganz bestimmt werden die Männer auch über den Wald reden. Es wäre mir sehr wichtig zu erfahren was die Menschen vorhaben. Könntest du dir vorstellen das für mich zu tun?”
“Wenn ich es tue, wirst du mich dann auch nicht mehr bei unserer Königin anschwärzen?”
“Ehrenwort.”
“Dann werde ich es versuchen. Heute ist Sonntag, willst du dass ich sofort gehe?”
“Ja, je füher desto besser. Nach der Messe, werden die meisten sich im Wirtshaus treffen. Wenn du dich beeilst, dann kannst du dir ein feines Versteck aussuchen, bevor die ersten kommen.”
 
Lilly schlug kurz mit ihren Flügelchen und schon schwebte sie wie eine Feder davon. Schnell war sie am Waldrand angekommen und blickte über die große Lichtung. In der Ferne konnte sie den spitzen Kirchturm erkennen. Jetzt beschlich sie doch ein ungutes Gefühl. Noch nie war sie weiter gekommen als bis zu dieser Waldlichtung. Wenn sie jetzt umkehren würde und ihrer Königin selbst von dem Diamanten erzählen würde, wäre der Frühlingsball für sie wahrscheinlich schon zu Ende ehe er begonnen hätte. Wenn sie jetzt aber weiterfliegen würde und entdeckt würde, was wäre dann? Doch wenn der Gnom Recht hatte mit seiner Vermutung, wären dann nicht auch die Feen bedroht? Wo sollten sie denn hin, wenn ihr Wald abgeholzt würde? Niemand war sich dieser Gefahr bewusst. Lilly könnte alle rechtzeitig warnen, wenn sie heute etwas in Erfahrung bringen würde. Doch dann fiel ihr siedendheiß ein, dass man dann Bescheid wüsste, dass sie im Menschendorf gewesen war. Was sollte sie bloß tun? Doch die Angst dass alle aus dem Wald vertrieben werden könnten, war größer als ihre Angst etwas Verbotenes zu tun. Vor Aufregung zitternd setzte sie ihren Weg fort. Schon bald hatte die kleine Fee die große Wildblumenwiese hinter sich gelassen und vor ihren Augen breitete sich ein Kartoffelfeld aus. Am Ende des Feldes konnte sie den Fluss erkennen. Eine schmale Holzbrücke führte hinüber. Lilly brauchte die Brücke nicht um den über das Wasser zu gelangen. Doch etwas an dem Holzsteg hatte ihre Aufmerksamkeit entfacht.
                                                                                        
                                                                    ***
 
Sam schlug die leichte Decke zurück und sprang in einem Satz aus dem Bett. Schnell schlüpfte er in die Hose, die er gestern Abend über die Stuhllehne gehangen hatte und stülpte sich sein Arbeitshemd über den dunklen, lockigen Kopf. Er blickte sich um und entdeckte einen seiner abgenutzten Stiefel unter dem Bett. Er kratzte sich am Kopf und ließ seine blauen Augen suchend umherschweifen. Aha, in der hintersten Ecke des Schlafzimmers konnte Sam das Gegenstück entdecken. Auf einem Fuß hüpfte er dem Stiefel entgegen.
Es klopfte an seiner Tür und seine Mutter streckte den Kopf ins Zimmer.
"Guten Morgen, mein Junge. Hast du gut geschlafen? Ich habe dir dein Frühstück schon zubereitet. Ich muss mich beeilen, wir sehen uns dann heute Abend. Pass auf dich auf, Sam."
"Ja, Mama. Danke, dir auch einen schönen guten Morgen. Ich habe verschlafen. Tut mir Leid."
Seine Mutter winkte ab und schnürte ihr Kopftuch zu.
"Nicht doch, Sam. Bei der harten Arbeit die du jeden Tag verrichten musst, brauchst du jede Menge Schlaf. Geh nicht bevor du gefrühstückt hast. Ich habe dir einen Imbiss für später vorbereitet, vergiss nicht ihn einzustecken."
Sie winkte ihrem Sohn zu und schloss die Tür hinter sich. Seit dem Tod ihres Mannes,  musste sie eine Stelle als Küchenmagd im Wirtshaus annehmen. Sie hatte nur noch Sam, der alles tat um die große Lücke zu füllen, die sein Vater hinterlassen hatte. Aber für den jungen Burschen war es nicht einfach die Felder alleine zu bestellen und sich ohne Hilfe um die Ernte zu kümmern. Das bisschen Geld das seine Mutter im Wirtshaus verdiente, musste reichen um über die Runde zu kommen. Noch konnte Sam keinen Gewinn von seiner Feldarbeit einstreichen. Aber es sah gut aus. Ganz im Gegensatz zu den vorigen Jahren, wurden die Kartoffelpflanzen nicht von den gefräßigen Kartoffelkäfern heimgesucht. Zur Probe hatte Sam schon eine Pflanze aus dem Acker ausgerissen und viele kleine Erdäpfel kullerten ihm vor die Füße. Das versprach eine reiche Ernte zu werden. Jetzt mussten die Kartoffel nur noch gedeihen. Von einem Teil seines Gewinns würde er eine Milchkuh kaufen. Dann könnten sie wieder selber Käse herstellen. Als Sams Vater den schrecklichen Unfall hatte, hatten sie die einzige Kuh verkaufen müssen, um das Krankenhaus zu bezahlen. Doch alles war umsonst. Drei Wochen später erlag sein Vater den schweren Verletzungen.
Seither schuftete der junge Bursche für drei. All dies würde ihm nichts ausmachen, wenn die Barthbrüder nicht wären. Immer wieder lauerten sie ihm auf um über ihn herzuziehen. Schon ihr Vater machte Sams Eltern das Leben schwer. Die Barths hatten es auf das große Feld an der Waldlichtung abgesehen.
 
Dieses Feld war seit Generationen im Besitz von Sams Vorfahren.
Vor vielen Jahrzehnten, hatte Samuel ein eifriger Bursche bei seiner Arbeit auf diesem Feld einen Diamanten gefunden. Ein wunderschöner Stein und so groß wie Sams Daumennagel. Das Feld gehörte damals dem Grafen Sigfrid. Zuerst wollte der Bauer den Diamanten behalten, doch nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Entschluss, dass dieser Stein ihm nichts nützen würde. So kam es dass er beim Grafen vorsprach um diesen über seinen Fund in Kenntnis zu setzten. Graf Sigfrid war bekannt dafür, dass er ein gerechter Herrscher war und so machte sich Samuel auf den Weg zur Burg. Diese befand sich auf dem Felsen. Um die Bürger und den Grafen zu schützen war eine hohe Ringmauer errichtet worden. Vier Tore führten in die Stadt hinein. Diese wurde Tag und Nacht bewacht. Abends blieben die Tore geschlossen. In der Stadt lebten außer dem Grafen und seinen Dienstmannen auch Händler und Handwerker. Die Tuchhändler hatten es zu großem Reichtum gebracht und errichteten die ersten Steinhäuser um den Marktplatz, während die ärmeren Handwerker in einfachen Fachwerkhäusern lebten. Nur die Bauern lebten außerhalb der Festung. Sie bewirtschafteten die Felder des Grafen und lebten in armseligen Hütten, die ihnen nicht einmal gehörten. Es gab aber auch einige wenige Bauern, die es ebenfalls zu Wohlstand gebracht hatten. Da alle Männer die in der Grafschaft lebten, ob nun freie Bürger oder Leibeigene verpflichtet waren die Stadt zu beschützen und im Falle eines Krieges an der Seite des Grafen zu kämpfen, konnten einige wenige durch heldenhafte Taten sich freikaufen. Der Graf schenkte dem Bauern seine Freiheit und ein kleines Stück Land, als Dank für seine Taten im Dienste der Grafschaft. Graf Sigfrid war beliebt bei den Menschen und seine Großzügigkeit dankten ihm alle mit selbstloser Treue.
 
Mit großem Vertrauen in seinen Herrscher, sprach Samuel an der Torwache vor. Der Torwächter beauftragte einen Soldaten, den Bauern zum Grafen zu führen. 
Der arme Bursche war schon aufgeregt, da er noch nie in der Burg gewesen war und den Grafen nur vom Hören und Sagen kannte. So war er doch sehr erstaunt, als der Soldat ihn durch die Räumlichkeiten der Burg führte und dann vor einem kleinen, schmächtigen Mann stehen blieb und sich tief verbeugte. Er wies den Bauern an ihm gleich zu tun. Als Samuel wieder aufsah, war der Soldat weg und er war alleine mit dem Grafen. Dieser wies ihn an Platz zu nehmen. Samuel wäre viel lieber stehen geblieben, doch er tat wie ihm befohlen.
"Welches Anliegen führt dich zu mir, guter Mann?"
Der Bauer senkte ehrfürchtig den Kopf, griff nach seinem Beutel und ließ den Diamanten auf seine Hand kullern.
" Mein Herr und Gebieter, diesen Edelstein habe ich bei meiner Feldarbeit gefunden. Da der Acker in ihrem Besitz ist, sehe ich es als meine Pflicht an, ihnen diesen herrlichen Stein zu überreichen."
Der Graf erhob sich aus seinem Sessel. Der junge Bauernbursche konnte den erstaunten Blick auf seinem Gesicht erkennen. Graf Sigfrid kam auf ihn zu und griff nach dem Diamanten. Er begutachtete ihn von allen Seiten. Jetzt wo er so nahe neben ihm stand, wirkte der Graf nicht mehr so klein. Er war fast von gleicher Größe wie Samuel.
"Wie ist dein Name guter Mann?"
"Samuel Wilbert, mein Gebieter."
"Samuel, ich bin überrascht, dass du den Stein nicht behalten hast. Weißt du denn nicht was er wert ist?"
Samuel war sich schon bewusst, dass dieser außergewöhnliche Stein von großem Wert sei, doch der Stein gehörte ihm nicht, auch wenn er ihn gefunden hatte. Dies versuchte er dem Grafen zu erklären. Dieser hörte dem Bauern mit wachsendem Staunen zu. Dann setzte er sich wieder in seinen weinroten, mit Samt überzogenen Sessel. Dieser war so wuchtig, dass er den Grafen fast verschluckte. Deshalb war er Samuel anfangs so schmächtig vorgekommen.
"Samuel, ich muss zugeben dass ich etwas überrumpelt bin. Du bist doch einer der Bauern, die meine Felder um den großen Wald bestellen. Ihr habt nicht einmal ein Haus, das ihr euer eigen nennen könnt. Ihr gehört zu den ärmsten Menschen in meiner Grafschaft. Erkläre mir warum du diese Chance ungenützt lässt, etwas aus deinem Leben zu machen."
Samuel konnte sich nicht erklären auf was der Graf aus war.
"Aber mein Gebieter, das wäre nicht recht, ich kann doch nicht etwas behalten, das mir nicht gehört. Es ist euer Land und alles was dort gedeiht, ist das Eure. So auch das was die Erde freigibt. Dieser Stein hätte mich wohl nicht glücklich gemacht, wenn ich ihn unerlaubt in meinem Besitz gebracht hätte."
Der Graf schüttelte den Kopf, musterte den Bauern aber anerkennend.
"Samuel Wilbert, was denkst du? Gibt der Ackerboden noch andere Schätze wie diesen frei?"
"Ich weiß es nicht mein Gebieter. Leider kann ich ihnen darauf keine Antwort geben. Ich bearbeitet dieses Feld von Kleinem an. Seit vielen Jahren und noch nie habe ich etwas anderes als normale, graue Steine aus dem Ackerboden geborgen. Ich kann mir auch nicht erklären, wie dieser Diamant dort hingekommen ist."
"Du denkst also es hätte wenig Sinn auf diesem Acker weiter nach Edelsteinen zu suchen?"
"Ich fürchte ja, mein Herr. Könnte es nicht sein, dass er von einem ganz anderen Ort hierher kam?"
"Wie denn, Samuel? Glaubst du es könnte ihn jemand verloren haben?"
"So ähnlich, Herr. Er funkelt ja so herrlich in der Sonne. Ein Vogel könnte auf ihn aufmerksam geworden sein und hat ihn dann an dieser Stelle wieder verloren. So könnte ich es mir erklären."
Graf Sigfrid sprang hoch und kam auf Samuel zu. Er nahm dessen schwielige Hand und legte ihm den Diamanten hinein. Er klopfte dem Bauern beruhigend auf die Schulter.
"Samuel, du bist ein ehrlicher Mann und ich schätze dies sehr. Du hast Recht, wenn der Diamant diesem Acker entsprungen wäre, dann gehörte er mir. Aber deine Theorie von der diebischen Elster scheint mir doch eher zuzutreffen. Du warst derjenige, der ihn gefunden hat und du sollst ihn behalten. So soll es sein!"
Samuels Herz pochte im fast zum Hals heraus. Durfte er dem Grafen widersprechen? Es käme wohl auf einen Versuch an.
"Mein Herr und Gebieter, sie sind sehr edel und gerecht. Würden sie mir verzeihen, wenn ich den Stein nicht annehmen würde?"
Der Graf sah den Bauern ungläubig an. Ein bisschen verärgert war er schon, dass dieser sich seiner Entscheidung widersetzte.
"Warum, Samuel. Das ist doch deine Chance etwas aus deinem Leben zu machen."
"Mein Herr, bitte verzeiht. Ich bin nur ein einfacher Bauer, ich bin es nicht anders gewöhnt. Natürlich wäre ich glücklich, ein eigenes Häuschen zu besitzen und einige Felder mir gehören würden. Doch wie sollte ich diesen Stein, in ein Haus und Grundstück verwandeln können? Man würde mir nie glauben, dass er mir gehört. Man würde mich des Diebstahls bezichtigen."
"Da hast du natürlich Recht. Das war sehr unbesonnen von mir. Bist du denn damit einverstanden, wenn ich dir den Stein abkaufen werde? Was willst du dafür haben, Samuel? Ich habe schon einen Plan was ich mit diesem herrlichen Diamanten machen werde. Ich werde meinen Goldschmieden beauftragen einen wunderschönen Verlobungsring anfertigen zu lassen. Ich werde ja demnächst heiraten und meine Braut wäre sicherlich beeindruckt von diesem Schmuckstück. Sie ist schließlich eine Königstochter."
"Mein Herr, das würde mich sehr freuen, den Stein an der zarten Hand einer edlen Dame zu wissen. Ich wünsche ihnen viel Glück. Aber ich kann ihnen doch keinen Preis dafür nennen. Ich bin ja hierher gekommen um ihnen den Stein zu geben. Etwas anderes hatte ich nicht im Sinn."
"Weißt du was Samuel, das hier führt zu nichts. Ich sehe dass wir nicht weiterkommen werden. So werde ich eine Entscheidung treffen. Ich rufe meinen Sekretär und dann werden wir ein Schriftstück verfassen, das dich als neuen Besitzer des Ackers, auf dem du den Stein gefunden hast, machen wird. Deine Hütte in der du lebst und der Grund auf dem sie steht, sollen auch dir gehören."
Samuel konnte sein Glück kaum fassen und erst als er wenig später die Besitzurkunde in seinen Händen hielt, fing er langsam an zu glauben wie ihm geschah.
 
Seit jenem Tag waren Acker und Hütte in dem Besitz von Sams Vorfahren. Aus der Hütte war im Laufe der Zeit ein recht ansehnliches Bauernhaus geworden und die Familie konnte recht gut von ihren Erträgen leben. Bis zu jenem Tag als Sams Vater schwer verunglückte. Niemand konnte sich erklären wie es zu dem Unfall kam, aber Sam hegte immer mehr den Verdacht, dass die Barths etwas damit zu tun hatten. Dass sie ihn fast täglich auf seinem Weg zur Arbeit abpassten, schien seinen Verdacht nur zu bestätigen.
Sam hatte die alte Holzbrücke fast erreicht, als er Ted Barth, hoch zu Ross auf ihn zukommen sah.
"Na, Bauernbursche schon so früh auf den Beinen? Was hast du denn da in deinem Beutel? Hat dir die Mama wieder etwas Feines eingepackt?"
Hämisch lachend trat er mit dem Stiefel gegen Sams Beutel. Dieser entzog sich flink seinen Tritten.
"Was willst du Ted? Hast du nichts zu tun? Bist ganz schön mutig heute, so ganz ohne deinen Bruder, wie kommt denn das?"
Ted schnaubte wütend und riss sein Pferd herum. Er lenkte das Pferd so nahe an Sam heran, dass dieser die warme Luft aus den Nüstern des Pferdes spüren konnte.
"Viele Fragen auf einmal, Bursche. Nimm den Mund ja nicht zu voll. Wirst schon noch dankbar sein, wenn wir dir diesen wertlosen Acker abkaufen werden. An deiner Stelle würde ich gleich verkaufen, bevor er gar nichts mehr wert sein wird."
Sein hässliches Lachen, ließ sein breites, stoppliges Gesicht zur Fratze werden. Sam beschlich ein ungutes Gefühl. Was hatten die beiden diesmal vor? Er blickte sich um, konnte den anderen Barthbruder aber nicht sehen.
"Hältst du Ausschau nach Bob? Ich weiß ja dass du ihn lieber magst als mich. Er ist ja auch ein ganz feiner Kerl. Du brauchst nicht länger zu suchen. Ich werde dir gleich verraten wo er sich herumtreibt. Da schau, da hinten ist er."
Sam erkannte Bob mitten in seinem Kartoffelacker. Wut kroch in ihm empor.
"Was tut er da? Was habt ihr vor?"
"Aber nicht doch, Bob arbeitet seit gestern Abend unentwegt in deinem Acker. Er ist ein sehr fleißiger Bursche. Er ist gerade dabei, die unzähligen Kartoffelkäferlarven einzusammeln."
Sam erstarrte, er ließ seinen Beutel fallen und rannte auf den Acker los. Ted war gleich wieder neben ihm und versperrte ihm den Weg.
"Barth, lass mich vorbei, in meinem Feld waren keine Kartoffelkäfer. Wo kommen die her? Steckt ihr gemeinen Kerle dahinter? Wenn ja, dann lernt ihr mich dieses Mal kennen."
Er drückte sich an dem Pferd vorbei und rannte weiter. Teds schadenfrohes Lachen begleitete ihn. Sam hatte den Acker erreicht und hechtete hinein. Jetzt konnte er erkennen was Bob tat. Aus einem großen Sack, den er hinter sich herschleppte, streute er etwas, das Sam nicht erkennen konnte über die Kartoffelpflanzen.
“Bob, verschwinde sofort von meinem Acker! Auf der Stelle, sonst...”
Ted rempelte ihn ganz unsanft an.
“Was sonst? Wolltest du gerade meinem Bruder deine Hilfe anbieten, beim Aussetzten der Kartoffelkäfer?”
Sam konnte vor Wut nicht mehr denken, er stürzte auf den Barthbruder los und riss ihn von seinen Beinen. Dabei flog eine Schachtel, die er in seiner Hand hielt, in hohem Bogen durch die Luft. Als sie aufschlug sprang der Deckel auf und Sam konnte die roten Larven sehen, die aus ihrem Gefängnis in die Freiheit schlüpften.
Die beiden jungen Männer wälzten sich auf der Erde. Sam war so wütend, dass er mit seinen Fäusten in das Gesicht seines Gegenübers schlug. Ihn schreckten nicht einmal die blutige Nase und der gebrochene Zahn ab, den Bob soeben aus seinem schmerzverzerrten Gesicht spuckte. Immer wieder ließ er seine Faust in dem Gesicht seines Gegners aufschlagen. Plötzlich wurde er von hinten an seinem Kragen gepackt und hochgeworfen. Ted war seinem Bruder zu Hilfe gekommen und hielt Sam fest. Bob sprang wieselflink auf die Beine und setzte zum Schlag an.
"Halt, Bob. Nicht schlagen, wir wollen doch unserem Bauernburschen kein Haar krümmen. Ich weiß da etwas Besseres. Komm, fass mit an!"
Ted der Sams Arme immer noch auf dessen Rücken festhielt, wies seinen Bruder an den jungen Burschen, an den Füßen hochzuheben. Dann schleppten sie ihn zu der Holzbrücke am Fluss.
"Nimm ein Seil aus meiner Satteltasche. Wir werden ihn hier am Pfahl anbinden, dann kann er zusehen, wie die gefräßigen Larven über seine Pflanzen herfallen. So schnell wird ihn hier keiner finden. Jedenfalls nicht vor dem Abend."
Bob nahm das Seil aus der Satteltasche und band Sam an dem Brückenpfahl fest aber nicht ohne ihm noch den einen oder anderen Schlag in die Magengegend zu verpassen. Sam wusste dass es wenig Sinn ergeben würde laut zu schreien, denn an diesem Ort kam nur ab und zu ein einsamer Wanderer des Weges. Die Felder der anderen Bauern waren weiter entfernt, außerdem war heute Sonntag und da arbeiteten die wenigsten hier draußen.
Ihm blieb wohl oder übel nichts andere übrig als abzuwarten. Spätestens bei Anbruch der Dunkelheit würde seine Mutter sich auf den Weg machen um nach ihm  Ausschau zu halten.
"Na, Bauernbursche, jetzt kannst du zappeln, bis dich einer abschneiden kommt. Bob, steig auf, wir reiten ins Wirtshaus, bei der Hitze könnte ich ein kühles Bier vertragen. Entschuldige Sam, ich wollt dir jetzt nicht das Wasser in den Mund treiben. Als Wiedergutmachung werde ich deiner Mutter vielleicht einen Tipp geben wo sie dich aufsammeln kann."   
Bob sprang zu Ted aufs Pferd und die beiden preschten spottend davon. Sams Gesicht war vor lauter Zorn tiefrot geworden. Er versuchte sich aus den Fesseln zu befreien, doch Bob hatte die Stricke so fest um seine Handgelenke gebunden, dass sie ihm beim Versuch daran zu zerren, tief ins Fleisch schnitten. Sam konnte den Schmerz deutlich spüren, doch immer wieder versuchte er die Stricke zu entfesseln. Vergebens. Er spürte wie ein dünnes Rinnsal in seine zusammengebundenen Hände tropfte. Es war sein eigenes Blut das aus seiner geschundenen Haut tropfte.
 
                                                                       ***
 
Lilly beobachtete das Geschehen schon seit geraumer Zeit. Sie hatte sich geduckt um unentdeckt zu bleiben und spähte vorsichtig zur Brücke hinüber. Sie zitterte vor Angst als sie mit ansah wie die beiden jungen Männer übereinander herfielen. Die junge Fee konnte nicht verstehen um was es ging, noch konnte sie sich erklären weshalb Menschen so etwas tun. Dies war das erste Mal dass sie sich in nächster Nähe zu einem menschlichen Wesen befand. Sollten alle Menschen so sein? Es wäre wohl besser wenn sie auf schnellstem Weg zurück in ihren Wald laufen würde. So schlimm konnte die Standpauke nicht sein, als dass sie weiter an ihrem Vorhaben festhalten würde. Leise drehte Lilly sich um und wollte schnell zurück in den schützenden Wald huschen. Doch dann fiel ihr Blick auf den jungen Burschen, der von den zwei anderen festgehalten wurde. Er wand sich wie ein Aal, doch es konnte ihm nicht gelingen aus dem festen Griff der Männer zu entkommen. Lilly hielt inne, etwas in den Augen des Gefangenen ließ sie an ihrem Platz verharren. Sie duckte sich noch tiefer, so dass sie schon fast die staubige Erde berührte. Mit ihren Fingern schnippte sie die ekligen roten Larven von der Kartoffelpflanze, hinter der sie kauerte. Bei ihrem weiteren Beobachten empfand sie Mitleid mit dem dunkelhaarigen Burschen, der keine Chance gegen seine Angreifer hatte. Aber so schnell der Spuk begonnen hatte, so schnell war er wieder vorbei. Zurück blieb eine junge Fee, mit ängstlich pochendem Herzen und ein vor Wut schnaufender, an einem Pfahl festgebundener, junger Mann. Die anderen beiden jagten auf ihrem Pferd von dannen. Lilly konnte von ihrem Versteck aus, nur noch die dichte Staubwolke entdecken, die sie bei ihrem Rückzug aufwirbelten. Die Fee lugte zum Brückenpfahl hinüber. Sie konnte die Verzweiflung des jungen Mannes förmlich spüren. Waren es Tränen der Wut, des Schmerzes oder der Trauer, die Spuren auf seinem staubbedeckten Gesicht hinterließen? Lillys Angst wich einer brennenden Neugierde. Aller Vernunft zum Trotz lief sie auf die Brücke zu.
 
Sam spürte nicht wie Tränen vor Wut über sein Gesicht liefen. Er sah nur die Kartoffelkäfer, die samt ihren Larven zu Tausenden über die Pflanzen herfielen. Bei dieser großen Anzahl würden sie schon in wenigen Tagen, den Kartoffelacker kahl gefressen haben. Er konnte nichts dagegen tun. In seiner Verzweiflung riss er immer fester an dem Strick. Ein brennender Schmerz durchfuhr seine Arme, aber er konnte nicht aufhören. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er bis zum Abend tatenlos zusehen musste, wie die Schädlinge sich ausbreiteten. Es würde wohl bis zum nächsten Morgen dauern, bis er damit anfangen konnte die Larven einzusammeln. Sobald die Dämmerung einsetzten würde, konnte er nicht mehr genug sehen und vorher würde seine Mutter ihn nicht vermissen.
"Nicht, halt doch still! Die Stricke werden dir deine Arme aufschneiden."
Lilly flüsterte mehr, als dass sie wirklich deutlich sprach. Eigentlich wollte sie sich überhaupt nicht bemerkbar machen, doch als sie den jungen Burschen aus nächster Nähe sah, war sie entsetzt. Seine Haut war aufgeschürft und die Wunden bluteten stark.
"Bitte, so hör doch auf. Ich bitte dich."
Etwas lauter als vorhin richtete die junge Fee ihre Worte an den sich am Pfahl windenden jungen Mann. Er hielt inne und lauschte, dann blickte er sich um. Lilly kauerte unter dem Steg so dass seine Augen sie nicht erfassen konnten.
"Hallo, ist da jemand?"
Sam horchte, doch außer dem rauschenden Fluss unter ihm konnte er nichts andere hören. Ihm war aber als hätte er etwas gehört. Nach allen Seiten schauend wandte er seinen Kopf, aber er schien alleine zu sein. Wieder begann er damit an den Stricken zu zerren und mit den Füßen auf dem Holzsteg zu scharren. Durch die losen Bretter rieselte Staub auf Lillys Kopf. Eine Staublawine ging über sie nieder. Die aufgewirbelte Erde kroch ihr in die Nase und sie musste kräftig niesen. Immer wieder. Erschrocken hielt Lilly sich die Nase zu. Aber es war zu spät. Dieses Mal hatte Sam es deutlich gehört.
"Hallo, so gib dich doch zu erkennen. Ich hab dich doch eben mehrmals niesen gehört. Kannst du mir nicht behilflich sein. Ich kann hier alleine nicht weg."
Lilly spähte durch die Ritzen der Bretter nach oben.
"Wie kann ich dir denn helfen?"
Sam wurde ziemlich ungehalten. Doch er verkniff sich die bissige Bemerkung die er schon auf der Zunge verspürte. Er wollte seinen möglichen Helfer nicht gleich wieder vergraulen.
"Kannst du nicht rüberkommen und mich losbinden? Das wäre sehr nett von dir."
Lilly dachte nach. Sollte sie wirklich aus ihrem Versteck klettern und sich zu erkennen geben? Wie würde der Bursche reagieren? Würde er sie, nachdem sie ihn befreit hätte, gefangen nehmen? Der Gnom hat doch erzählt dass die Menschen, Feen jagen und gefangen nehmen würden. Sie konnte ihn aber auch nicht hier alleine lassen, nicht nachdem sie seine Wunden gesehen hatte. Sie müsste ihn dazu bringen, ihr gegenüber einen Eid zu schwören. Ja, das wäre die Lösung. Einen Eid darf man nicht brechen, nicht einmal ein Mensch darf das.
"Ich bin gerne bereit dir zu helfen, aber das ist nicht so ganz einfach. Du müsstest mir etwas versprechen."
Die liebliche Stimme der Sprecherin besänftigte Sam. Ein Mädchen, wo kam sie her?
"Ich verspreche dir alles was du willst. Zumindest all das was in meiner Macht steht. Komm bitte her und mach mich los. So kann ich noch rechtzeitig versuchen diese elenden Larven einzusammeln."
"Meinst du diese ekligen, roten Raupen? Da hast du ja noch einiges vor, die Pflanzen sind übersät damit."
"Du siehst, ich habe keine Zeit zu verlieren, bitte sag mir was ich dir versprechen soll, damit du mich losbindest."
"Nicht viel, nur dass du deine Augen fest zuhalten musst. Du darfst nicht sehen, wer ich bin. Das ist alles. Gib mir dein Wort dass du nicht schauen wirst und ich binde dich sogleich los."
Sam staunte, das sollte alles sein. Doch gleichzeitig erwachte bei ihm die Neugierde. Zu gerne hätte er gesehen zu wem diese liebliche Stimme gehören würde. Aber er war ein Ehrenmann, er würde seine Augen ganz fest schließen.
"Ehrenwort. Ich werde dich nicht anschauen und erst meine Augen wieder öffnen wenn du es mir erlaubst."
"Dann werde ich gleich bei dir sein. Also dann, Augen bitte zu."
Lilly traute dem jungen Mann und schlüpfte unter dem Steg hervor. Leichfüßig sprang sie auf die Brücke und stand schon wenig später hinter dem Gefangenen. Sie nahm die Stricke in ihre Hände und suchte nach dem Knoten. Mit Entsetzen betrachtete sie die Wunden an seinen Armen.
"Warum haben die dir das angetan?"
Sam stand mit geschlossenen Augen da und atmete den Duft seiner Retterin ein. Es erinnerte ihn an einen Strauß wilder Sommerblumen. Er versuchte sich an die Stimme zu erinnern, doch er konnte sich nicht entsinnen sie jemals zuvor gehört zu haben.
"Das ist eine längere Geschichte. Um es kurz zu machen, die Barthbrüder versuchen alles um mich und meine Mutter von hier zu vertreiben. Sie haben es auf unseren Acker abgesehen. Wenn er in ihren Besitz übergehen würde, dann könnten sie sich ungehindert ihrem Vorhaben hingeben, den Wald zu roden. Aber solange dieses Ackerland uns gehört, wird auch der angrenzende Wald dazu gehören und ich werde der Letzte sein, der seelenruhig zusieht, wie dieser herrliche Wald den Äxten zum Opfer fallen wird. Verrätst du mir denn wenigstens deinen Namen, schöne Frau?"
Lilly schreckte hoch.
"Du hast doch versprochen..."
"Ja und  ich habe mein Versprechen nicht gebrochen. Ich kann mir nur vorstellen wie du aussiehst, sehen kann ich es nicht. Aber jemand der so nach Sommerblumen riechen tut, der kann doch nur eine Schönheit sein."
Lilly kicherte und versuchte weiter die festen Stricke zu lösen.
"Lilly, mein Name ist Lilly und du, wie ruft man dich?"
"Sehr erfreut Lilly, es ist mir eine Ehre. Ich bin Sam. Schaffst du es?"
"Was? Ach ja, die Stricke, es wird nicht mehr lange dauern. Sie fangen an lose zu werden. Hab noch ein wenig Geduld. Was ist mit den Larven?"
Sam lachte verbittert auf.
"Das ist wieder ein Versuch uns in die Flucht zu schlagen. Dieses Jahr hatten wir überhaupt keinen Schädlingsbefall. Die Barthbrüder müssen diese Larven an anderer Stelle eingesammelt haben um sie auf meinen Kartoffelpflanzen auszusetzen."
"Wäre es denn sehr schlimm für dich, wenn deine Ernte weniger gut ausfallen würde?"
"Ja, dann müssten wir wohl aufgeben. Wir haben keinerlei finanzielle Reserven und sind dringend auf eine gute Ernte angewiesen."
Sam versuchte Lilly seine Lage noch genauer zu erklären, während sie die restlichen Stricke löste. Was er nicht wusste, war dass Lilly so eben erkannte, dass nicht nur Sams Zukunft von diesem Acker abhängen würde, sondern auch die der Waldbewohner. Aber wie sollte sie Sam ihr Anliegen vorbringen ohne sich zu erkennen zu geben?
"Sam, kann ich dir irgendwie dabei helfen, dass sich alles zum Guten wenden wird?"
Die Stricke lösten sich und Sam lachte erleichtert auf.
"Ja, du könntest mir sehr helfen. Entweder du entziehst dich jetzt blitzschnell meinen Blicken, was mir sehr Leid tun würde, oder du musst an meiner Stelle die Larven einsammeln. Mit geschlossenen Augen kann ich sie leider nicht sehen."
Er drehte sich um und rieb seine schmerzenden Arme. Lilly konnte ihm direkt ins Gesicht sehen. Sollte sie es wagen ihn um seine Hilfe zu bitten? Auf einen Versuch käme es an. Da beide an der gleichen Sache Interesse hatten, konnten sie sich doch gegenseitig helfen. Hatte Sam nicht eben erzählt dass er alles tun würde um den Wald zu schützen. Genügte das nicht?
"Sam, wenn ich dir sage, dass auch meine Zukunft und die meiner Familie davon abhängt, was mit dem Wald passiert, würdest du mir dann auch helfen?"
Sam konnte sich nicht erklären welche Bedeutung der Wald für sein unbekanntes Gegenüber haben sollte, aber er würde ihr sicher helfen.
"Sicher, werde ich dir meine Hilfe anbieten. Das ist doch nur selbstverständlich. Doch du musst mir schon einiges erklären, ich blicke nämlich gar nicht durch."
Die Fee trippelte aufgeregt auf und ab, dabei flatterten ihre Flügel so stark dass die dadurch erzeugte Luft Sams Locken aus seinem Gesicht blies.
"Lilly, was tust du?"
Lilly stellte sich vor den jungen Mann. Sie reichte ihm bis zu den Schultern. Ihr Gesicht war vor lauter Aufregung ganz rosig. Ihre langen hellen Haare wehten im Wind.
"Sam, wir leben schon seit ewiger Zeit in diesem Wald. Wenn er abgeholzt würde, dann hätten auch wir unser Heim verloren. Sam, wenn ich dir erlaube deine Augen zu öffnen, wirst du dann so tun als wäre ich ein ganz normales Mädchen. Versprichst du mir, mich nicht gefangen zu nehmen und die meinen zu verfolgen?"
Sam horchte auf. Wer stand da vor ihm? Was ging hier vor?
"Lilly, du machst mich etwas durcheinander. Wer lebt denn im Wald? Soweit ich weiß niemand. Ich bin noch nie einer Menschenseele dort begegnet. Wen werde ich erblicken, wenn ich meine Augen öffne? Ein Wesen von einem anderen Stern?"
"Öffne deine Augen Sam, wenn du mir helfen kannst."
Sam wartete einen kurzen Moment, dann öffnete er seine Augen. Zuerst sah er alles verschwommen, doch dann konnte er eine wunderschöne junge Frau erkennen. Er starrte sie sprachlos an. Noch nie zuvor hatte er ein solch bezauberndes Geschöpf gesehen. Wer war sie?
"Sam?"
Lilly sah ihn etwas schüchtern an.
"Lilly, wer bist du? Ich habe dich vorher noch nie hier in der Gegend gesehen. Woher kommst du?"
"Aus dem Wald da hinten. Das habe ich dir doch schon gesagt. Fällt dir nichts auf bei mir?"
Sam musterte sie, aber außer ihrer außergewöhnlichen Schönheit konnte er nichts Auffallendes erkennen. Er schüttelte den Kopf.
Lilly drehte sich um und schlug kurz mit ihren silbrig, glitzernden Flügeln. Sam riss seine Augen auf und starrte sie sprachlos an.
"Verstehst du jetzt, dass ich deine Hilfe brauche?"
In dem Kopf des jungen Mannes herrschte ein heilloses Durcheinander. Sicher hatte er schon viele Geschichten über Elfen, Feen und Waldgeister gehört, aber eben nur gehört. So wie tausende anderer Kinder, die beim Erzählen von Märchen glänzende Augen bekamen und für den Moment der Erzählung sich in eine Märchenwelt versetzt fühlten. Doch wussten sie nicht alle, dass es eben nur eine erfundene Geschichte war, dass diese Waldgeister gar nicht existieren? Und jetzt stand solch ein Wesen vor ihm. Ein zauberhaftes Wesen, ganz genau so wie er sich diese Geschöpfe in seiner kindlichen Phantasie vorgestellt hatte.
Lilly wackelte immer noch ganz aufgeregt mit ihren Flügeln, an Sams Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass der junge Mann zweifelte.
“Meine Güte, so lange war ich ja auch nicht festgebunden, dass mir die Sonne das Gehirn verbrannt hätte. Ich kapier das nicht. Hilf mir zu verstehen was hier vor sich geht.”
Lilly zuckte mit den Schultern und hob hilflos ihre Hände.
“Ich kann dir keine Erklärung geben, außer der dass es uns wirklich gibt und ich bei weitem nicht die Einzige bin. Wir sind für euch Menschen nur unsichtbar geblieben zu unserem eigenen Schutz. Ein Zusammenleben von Waldgeister und Menschen scheint undenkbar zu sein. Das was ich vorhin erlebt habe, bestätigt nur die Warnungen die ich mit auf den Weg bekam. Ihr könnt richtig böse sein.”
Sam lachte höhnisch und steckte sein Hemd wieder in die Hose.
“Wem sagst du das. Menschen sind raffgierig, zerstörerisch und von Grund auf schlecht.”
Lillys Augen weiteten sich vor Schreck. Waren alle Menschen so wie eben beschrieben, auch Sam?
“Tut mir leid Lilly, ich wollte dir keine Angst einjagen. Es gibt auch Ausnahmen. Nicht alle sind so wie die Barthbrüder. Aber wenn du täglich mit solch einem Abschaum zu tun hast, dann siehst du nur noch das Schlechte in ihnen.”
“Und du, Sam? Was ist mit dir?”
Sam der eben dabei war seine losen Stiefel wieder zu schnüren blickte auf.
“Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. In solchen Momenten wie diesen, könnte ich jemanden vor Wut umbringen. Bin ich deshalb schlecht?”
Lilly zuckte mit den Schultern, auch sie konnte darauf keine Antwort geben. War sie nicht auch furchtbar wütend geworden, als sie dem ungleichen Kampf zugesehen hatte? War sie heute Morgen nicht losgeschickt worden um die Menschen auszuspionieren? Hatte sie nicht vorher etwas Verbotenes getan, wenn auch unüberlegt?
“Lass uns die Schädlinge einsammeln Sam, bevor sie dir deine ganzen Pflanzen aufgefressen haben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, niemand ist ohne Fehler.”
Sam sprang vom Steg hinunter und reichte Lilly seine Hand. Obwohl Lilly mit einem einzigen kleinen Flügelschlag vor dem jungen Burschen vom Steg gewesen wäre, ergriff sie zaghaft dessen Hand. Sam hielt ihre Hand etwas länger als nötig.
“Welches Laster trägst du denn mit dir herum, Lilly? In den Geschichten die meine Mutter mir als Kind erzählte, ward ihr immer die Guten, ohne Frevel.”
Lilly entzog ihm ihre Hand und begann damit die Kartoffelpflanze nach Larven zu untersuchen.
“Lass gut sein, Sam. Irgendwann werde ich es dir sicher erzählen. Das sind ja schrecklich viele, wie kann man nur so etwas tun?”
 
Seit Stunden waren die beiden nun schon dabei die gefräßigen Schädlinge einzusammeln, doch sie hatten noch ein großes Stück an Arbeit vor sich. Sam nahm Lilly immer wieder die eingesammelten Larven und Käfer ab um sie mit seinem Stiefel auf der Erde zu zertreten. Die Sonne stand schon tief am Horizont und der Abend rückte näher.
"Wir werden es nicht schaffen, unmöglich. Seit Stunden sind wir dabei und mir ist als würden es immer mehr."
Sam ließ resigniert die Schultern hängen und stampfte wütend mit dem Fuß auf, dann ließ er sich auf den Boden fallen und setzte sich mit verschränkten Beinen hin. Lilly kam auf ihn zu und setzte sich neben ihn.
"Ich glaube ich habe eine Idee. Ich werde zurückgehen und bitten dass man dir hilft. Schließlich ist es ja auch in unserem Sinne, dass einer guten Ernte nichts im Weg stehen wird. Geh nach Hause, Sam. Du hältst dein Versprechen und erzählst niemandem von mir? Auch nicht deiner Mutter."
"Versprochen. Man würde mir sowieso nicht glauben. Ich glaub es ja selbst kaum und warte jeden Moment darauf dass ich endlich aufwache und alles nur ein Traum war."
Lilly erhob sich und bevor Sam wusste was geschah war sie weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Er stand auf und machte sich auf den Heimweg.
 
                                                               ***
 
Im Nu war die Fee am Waldrand angekommen. Dort wurde sie schon von dem alten Griesgram von heute morgen erwartet. Sein runzliges Gesicht schien noch mürrischer geworden zu sein.
"Was hast du so lange da draußen getrieben? Ich warte schon seit Stunden auf dich. Nun, konntest du etwas in Erfahrung bringen?"
"Ja, du hattest Recht. Es gibt Menschen die den Wald abholzen wollen."
Der Gnom ließ sie nicht aussprechen und schlug wütend mit seinem Wanderstock gegen einen Baum.
"Ich habe es gewusst. Diese Menschen sind zu allem fähig. Wie viel Zeit bleibt uns noch?"
Lilly legte beruhigen ihre Hand auf den Arm des alten Männleins.
"Beruhige dich. Es gibt noch Hoffnung. Ich habe einen jungen Burschen kennen gelernt, der auch mit allen Mitteln verhindern will, dass es soweit kommt."
Der Gnom war entsetzt. Aus blutunterlaufenen Augen schaute er zu Lilly hoch.
"Was sagst du da, habe ich das richtig verstanden, du hast jemand kennen gelernt? Bist du von allen guten Geistern verlassen, Kind?"
Lilly war müde und erschöpft und sie hatte nicht länger vor, sich den Gemeinheiten dieses kleinen Giftzwerges auszusetzen.
"Ganz genau, von allen Geistern verlassen. Das trifft exakt auf das zu, was ich heute erlebt habe. Es ist ganz einfach sich hier im Wald zu verkriechen und sich eine Freude daraus zu machen andere zu schikanieren. Wenn du Angst um deinen Wald hast, weshalb bist du nicht zu den Menschen gegangen, warum hast du nicht den ganzen Tag damit verbracht, diese ekligen roten Viecher einzusammeln?"
Lillys hübsches Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet. Sie stand immer noch mit geballten Fäusten vor dem Gnom, der sie entgeistert anstarrte.
"Von was redest du, welche roten Viecher? Was war da draußen los?”
Lilly erzählte dem Gnom in kurzen Worten was sie heute erlebt hatte. Die anfängliche Verdrossenheit des alten Männleins wich allmählich einem bewundernden Zuhören.
“... und jetzt bin ich auf dem Weg zur Königin um sie um Hilfe zu bitten. Ich habe es dem jungen Bauern versprochen. Und du wirst mich dabei nicht mehr aufhalten.”
Lilly schloss mit diesen Worten und wollte sich schon auf den Weg machen, als eine Gestalt hinter dem Baum hervortrat. Die Königin kam mit strengem Gesicht auf die beiden Streithähne zu.
“Den Weg kannst du dir sparen, Lilly. Ich habe alles mit angehört.”
Mit strengem Blick wandte sie sich an den Gnom, der wie angewurzelt mit kreideweißem Gesicht auf die Feenkönigin heraufstarrte. Lilly jedoch verspürte keine Angst mehr. Es war als hätte die bloße Erscheinung der Königin, all ihre Angst weggezaubert.
“Du kleiner elender Zwerg, wie kannst du es wagen, so etwas von einem meiner Schützlinge  zu verlangen? Deine Strafe wir angemessen sein, das kannst du mir glauben, doch jetzt hab ich keine Zeit dafür. Aber denke ja nicht dass ich dich vergessen werde, Gnom.”
 
Die Königin war sichtlich erbost über das dreiste Verhalten des alten Gnoms. Lilly näherte sich zaghaft, ihrer Gebieterin.
"Königin Lynjana, verzeiht mir, dass ich ungehorsam war und mein Volk in Gefahr gebracht habe. Aber wenn wir nichts unternehmen, werden wir alle von hier vertrieben werden.”
Lynjana streichelte der jungen Fee beschwichtigend über das lange, blonde Haar.
“Was gibt es zu verzeihen, Lilly. Du hast es ja nicht getan um den Deinen zu schaden. Dieser böswillige, alter Zwerg hat deine Unerfahrenheit ausgenützt und du bist darauf reingefallen. Was hat er denn gegen dich in der Hand, dass du ihm so ausgeliefert sein konntest?”
Lilly senkte beschämt den Kopf.
“Ich habe einen Tautropfen in einen Diamanten verwandelt. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, aber ich sehe jetzt ein, dass dies sehr unvernünftig von mir war.”
Die Feenkönigin winkte ab und warf dem Gnom einen vernichtenden Blick zu.
“Das war alles, Lilly? Das reichte schon um dich erpressbar zu machen? Warum bist du nicht einfach zu mir gekommen?”
“Das hätte ich wohl besser tun sollen, doch jetzt ist es zu spät. Ich habe dem jungen Bauern meine Hilfe versprochen. Können wir ihm helfen, Königin Lynjana?”
“Wie hast du dir das vorgestellt, Lilly?”
Lilly war erleichtert dass die Königin ihr Gehör schenken wollte. Ganz aufgeregt plapperte sie darauf los.
“Wir könnten alle hinaus aufs Feld und die Schädlinge über Nacht einsammeln. Zusammen werden wir der Lage ganz bestimmt Herr werden.”
Die Königin runzelte ihre Stirn und sah die junge Fee forschend an.
“Aber es ist Nacht, Lilly. Wir können doch auch nichts sehen.” 
In Lillys Augen blitzte Verwunderung auf.
“Wir haben doch die eine oder andere Möglichkeit dem Abhilfe zu tun.” fügte sie ganz kess hinzu.
Lynjana musterte Lilly von Kopf bis Fuß, dabei entging der jungen Fee das Wohlwollen in ihren Augen nicht.
“An was hast du denn gedacht?”
“Vielleicht könnten wir mit unseren Zauberstäben in die Pflanzen hineinleuchten, dann müssten wir diese gefräßigen Larven doch sehen.”
Die Feenkönigin schmunzelte, dann drehte sie sich um und stieß einen leisen Pfiff aus. Wie aus dem Nichts schwebte ein kleines Käuzchen herbei. Es nahm Platz auf der ausgestreckten Hand der Fee.
“Da bist du ja mein Kleiner, flieg schnell nach Lynwalla und wecke mein Volk. Sie sollen unverzüglich hierher kommen. Es gibt etwas Wichtiges zu tun.”
Der kleine Steinkauz flog davon. Schon kurze Zeit später tauchten die ersten Feen am Waldrand auf. Lilly erklärte ihnen kurz um was es ging und kehrte mit der ersten Gruppe zum Kartoffelacker zurück. Schon bald stießen weitere Gruppen zu ihnen. Alle machten sich emsig an die Arbeit. Sie leuchteten mit ihren Zauberstäben in die Pflanzen und sammelten flink die Larven und Käfer ein. Überall leuchteten kleine Lichter wie helle Sterne auf und noch bevor die Sonne sich mühsam aus ihrem Bett erhob, waren alle Schädlinge vernichtet. Wohlwollend betrachtete Lynjana ihr eifriges Volk. Sie stieß abermals einen kurzen schrillen Pfiff aus und alle versammelten sich um sie.
“Habt vielen Dank meine Lieben. Jetzt steht einer ertrageichen Ernte nichts mehr im Weg. Lasst uns nach Hause fliegen, bevor wir entdeckt werden.”
Sie drehte sich zu Lilly um und winkte sie heran.
“Auch du Lilly, das wird wohl dein einziger Ausflug in die Welt der Menschen gewesen sein. Ich möchte nicht dass du dich noch einmal, einer solchen Gefahr aussetzt.”
Lilly war überglücklich. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben, verspürte sie die Genugtuung, etwas Sinnvolles und Großes geleistet zu haben. Doch dann fiel ihr Sam ein. Würde sie ihn je wieder sehen? Ein Hauch von Wehmut mischte sich unter ihr Glücksgefühl. Sie blickte über das Feld, am Horizont verließ die Sonne ihr nächtliches Lager, es begann zu dämmern. In der Ferne konnte sie eine Kirchturmglocke schlagen hören. Es wurde Zeit aufzubrechen, bevor die Bauern ihre Höfe verließen um zu früher Stunde auf den umliegenden Feldern ihre Arbeit zu verrichten. Noch war keine Menschenseele zu sehen, doch dies würde sich schon bald ändern. Lilly seufzte und schloss sich den anderen Waldgeister an. Lautlos huschten sie in ihren Wald zurück, beflügelt von dem Wissen, ihre Heimat gerettet zu haben. Doch war es wirklich so? Konnten sie die menschlichen Angriffe auf ihren Wald abwehren? Dieser Gedanke beschäftigte die Feenkönigin schon seit Stunden. Diesmal war ihnen gelungen, dem Kartoffelbauer zu helfen, doch ganz gewiss würden dessen feindlich gesinnte Nachbarn, keine Ruhe geben und erst dann aufgeben, wenn der Acker samt angrenzendem Wald ihnen gehören würde. Etwas musste geschehen. Nur wusste Lynjana noch nicht was sie tun konnten. Sie musste mehr über diesen jungen Burschen herausfinden.
"Lilly, ich muss dich Heute noch sprechen. Du musst mir einiges erklären. Geh mit den anderen und ruhe dich ein wenig aus. Hinter dir liegen anstrengende Stunden. Wenn du dich besser fühlst, dann komm zu mir. Es war ganz mutig von dir, was du heute getan hast. Obwohl es euch verboten ist, blieb dir wohl keine andere Wahl. Ich bin stolz auf dich."
 
 
Die vergangenen Stunden waren so anstrengend und aufregend gewesen, dass die junge Fee schon wenige Minuten nach dem sie zu Hause angekommen war, eingeschlafen war. Sie fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Erst am, späten Nachmittag wurde Lilly wieder wach. Sie öffnete ihre Augen und blinzelte verschlafen unter ihrer weichen Decke hervor. Die Sonnenstrahlen fielen durch das halbgeöffnete Fenster in ihr Zimmer. Winzige Staubpartikel tanzten auf den einzelnen Strahlen, so als wollten sie die Himmelsleiter hinaufklettern. Die Vögel zwitscherten in den Baumkronen und Lilly atmete den Duft des Waldes genüsslich ein. Sie ließ sich wieder in ihr weiches, mit Blütenblättern gefülltes Kissen fallen.
"Lilly, steh auf! Lynjana erwartet dich."
Lilly schreckte hoch und blickte in das Gesicht von Jamack. Der kleine Waldgeist saß im Schneidersitz auf ihrem Bettende. Er hielt seine Arme verschränkt und ließ einen Grashalm von einem Ende seines breiten Mundes in den anderen wandern. Aus listigen Augen beobachtete er die junge Fee.
"Wie lange sitzt du schon da und schaust mir beim Schlafen zu, Jamack? Das gehört sich nicht!"
Lilly strich verschlafen durch ihr helles Haar und richtete sich auf.
Jamack sprang in einem Satz vom Bett und hüpfte auf die Fensterbank.
"Ich bin gerade erst gekommen. Hast du denn vergessen dass die Königin mit dir sprechen wollte? Sie wartet unten am See. Lass sie nicht zu lange auf dich warten."
Jamack winkte der jungen Fee zu und huschte aus dem Fenster.
Mit einem Schlag war Lilly wach. Sie schlug ihre Decke nach hinten und verließ ihr Bett. Bis zum See war es nicht weit, doch sie beeilte sich um die Königin nicht zu verstimmen. Als sie den kleinen Hang hinunterlief erblickte sie zwei Gestalten am Seeufer. Eine davon war Lynjana, aber die andere konnte sie nicht erkennen. Doch als sie das Ufer fast erreicht hatte, drehte sich der Unbekannte zu ihr um. In Lillys Bauch stiegen Schmetterlinge hoch und begannen wie wild umher zu flattern.
"Sam, wo kommst du denn her?"
Nun hatte auch die Königin ihre junge Fee gesehen und wandte sich ihr zu.
"Lilly, ich bin, als du geschlafen hast, zurück zum Kartoffelacker. Diese ganze Geschichte ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich musste mit Sam sprechen um zu erfahren, was er vorhat. Er konnte mich inzwischen davon überzeugen, dass er unsere Existenz für sich behalten wird. Wir müssen uns aber  zusammensetzten und gemeinsam mit Sam einen Plan ausarbeiten, wie es zukünftig weiter gehen wird. Ich bin der Meinung dass diese Barthbrüder ihr Vorhaben nie aufgeben werden. Sie werden immer wieder versuchen Sam von seinem Land zu vertreiben. Wir müssen uns unbedingt etwas einfallen lassen. Die Zeit drängt."
Lilly die immer noch schrecklich aufgeregt über das unerwartete Wiedersehen war, zuckte hilflos mit den Schultern. Sie sah die beiden ungleichen Wesen fragend an.
"Was können wir denn tun und gleichzeitig unentdeckt bleiben?"
Sam fuhr sich durch seinen dunklen Haarschopf und blickte verlegen auf seine Stiefelspitzen.
"Mir fällt leider nichts Gescheites ein. Was ihr heute Nacht geleistet habt beschämt mich und ich würde alles tun um euch meine Dankbarkeit zu zeigen. Mir ist in dem Gespräch mit eurer Königin klar geworden, wie wichtig es für euch ist, dass ich dieses Stück Land behalten soll, denn ich werde immer dafür sorgen, dass dieser Wald so bleiben wird wie er ist. Doch was können wir tun?"
Sam wandte sich wieder der Feenkönigin zu. Lynjana hatte auf einem Baumstamm Platz genommen und blickte hinaus auf den See. Zwei Schwäne trieben mit stolz erhobenem Haupt auf der Wasseroberfläche. Es war ein idyllisches Bild, wie sie langsam an den geöffneten Seerosen vorbeischwammen, in kurzem Abstand gefolgt von ihren Jungen.
Lynjana schlug erbost mit ihrer Hand auf den Baumstamm. Ein Funkenregen stieg hoch und ergoss sich zischend in dem nahen Wasser. Lilly und Sam, die ganz in Gedanken versunken neben ihr standen, sahen sie erschrocken an.
"Tut mir Leid, aber wenn ich böse werde, dann sprühen bei mir schon mal die Funken. Ich sehe nur eine Möglichkeit um diese Barthfamilie loszuwerden. Geld! Wir müssen ihnen ihr Land abkaufen. Wenn Sam die meisten Felder hier gehören, dann kann ihm niemand mehr schaden."
Sam und Lilly schauten sich verdutzt an. Geld? Sam war arm wie eine Kirchenmaus und Lilly hatte noch nie Geld in der Hand gehabt. Wie stellte sich Lynjana das vor?
"Lynjana, Sam hat kein Geld, er kann kein Land kaufen. Wenn ich die Möglichkeit hätte, ich würde ihm alles geben, was ich besitze, doch ich bin genau so arm wie er."
Lynjana sah die Beiden an. Konnte sie dem jungen Bauern trauen? Konnte ihr Eindruck, den sie sich über den jungen Burschen gemacht hatte, täuschen? Doch war nicht alles verloren wenn sie ihm nicht helfen konnten? Lynjana wusste auch nicht weiter. Lilly stand mit leuchtenden Augen und erröteten Wangen neben Sam. Über das Gesicht der Königin huschte ein Lächeln. Eine kleine, verliebte Fee, auch das noch.
"Lilly, wir können Sam helfen. Denk an die Tauperlen."
Lilly weitete die Augen. Diamanten! Das war die Rettung. Doch hatte der alte Gnom nicht davor gewarnt, den Menschen ihre Fähigkeiten zu verraten? Wie würde Sam reagieren, wenn er erfahren würde, in was sie einen Tautropfen verwandeln konnte? Würde auch er auf die Seite der raffsüchtigen Menschen wechseln? Sie wandte sich zu Sam, dieser sah die Königin verständnislos an.
"Tauperlen? Ihr wollt mir mit Tauperlen helfen? Wie soll das gehen?"
Lynjana war an seine Seite getreten und nahm seine Hand.
"Sam, wir werden dir ein großes Geheimnis verraten. Aber du musst dein Versprechen geben, niemandem davon zu erzählen und dies als einmalige Hilfe anzunehmen. Diese Hilfe wird dir nur ein einziges Mal gewährt, wenn du versuchen solltest dies auszunutzen, oder meinem Volk zu schaden, dann wird dir entsetzliches Leid widerfahren. Sam, ich habe Vertrauen in dich, doch ich weiß wie Reichtum den Charakter eines Menschen verderben kann. Ich sage es nur noch einmal! Wir werden dir helfen, doch solltest du in irgendeiner Weise uns Schaden zufügen, dann wirst du deines Lebens nicht mehr glücklich sein."
Aus Sams Gesicht war jede Farbe verschwunden. Sein Herz raste.
"Feenkönigin, ich werde dir mein Wort geben, dass ich egal was ich jetzt erfahren werde, nicht eine einzige Sekunde daran denken werde, euch ein Leid zuzufügen. Ich weiß ja nicht einmal ob ich eure Hilfe überhaupt annehmen kann. Ihr habt schon soviel für mich getan."
"Glaub mir Sam, es ist auch in unserem Interesse. Lilly, lauf hinüber zum Schloss und bitte Jamack, dir meinen kleinen Lederbeutel auszuhändigen."
Lilly rannte so schnell ihre Füße sie tragen konnten zum Schloss. Dort erwartete sie bereits Jamack und hielt, als hätte er es gewusst, einen kleinen schwarzen Lederbeutel in der Hand.
Lilly griff danach und lief zurück zum See. Sie hielt der Königin den Beutel entgegen.
"Gib ihn Sam!"
Lilly trat vor den jungen Burschen und reichte ihm den Lederbeutel. Sam griff danach und wog ihn fragend ab. Er drehte ihn nach allen Seiten. Lynjana kam lächelnd auf ihn zu.
"Du musst ihn schon öffnen um zu sehen was er beinhaltet."
Sam öffnete die kleine silberne Schnalle und ließ den Inhalt des Beutels in seine geöffnete Hand gleiten.
Ungläubig riss er seine Augen auf, als die Steine in seiner Hand glitzern sah.
"Das ist ja ein kleines Vermögen!"
"Wir wissen nicht welchen Wert sie haben, aber in deiner Welt kannst du einiges damit erreichen, Sam. Geh hin und kaufe den Barths ihr Land ab. Dann wirst du deine Ruhe finden."
Sam ließ die funkelnden Diamanten wieder in den Lederbeutel gleiten und reichte ihn der erstaunten Feenkönigin.
"Lynjana, ich kann das nicht annehmen! Auch wenn ich es täte, damit würde ich meine Probleme nicht lösen. Was glaubt ihr was los sein wird, wenn ich den Barthbrüdern, diesen Schatz unter die Nase reibe. Sie werden mir nie ihr Land verkaufen, im Gegenteil, sie werden hier jeden einzelnen Stein umdrehen auf der Suche nach weiteren Diamanten. Nein, sie dürfen nie etwas davon erfahren. Ich muss versuchen alleine mit ihnen fertig zu werden. Wie es aussieht, werde ich dieses Jahr eine gute Ernte haben und kann mir einen Knecht leisten. Dann sind wir schon zu zweit um weitere Angriffe abzuwehren. Lynjana, ich danke dir für alles, aber ich muss es alleine schaffen. Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen. So lange ich Besitzer dieses Waldes bin, wird euch nichts geschehen und euer Geheimnis ist gut bei mir aufgehoben. Ich muss zurück, habt vielen Dank für eure Hilfe."
Lynjana hielt Sam am Arm fest.
"Wir kennen die Menschen nicht gut. Eines haben wir aber gelernt. Es gibt nicht nur schlechte Menschen, sondern auch solche mit reinem Herzen. Sam, du bist ein guter Mensch und ich bin stolz dich kennen gelernt zu haben. Ich verstehe deine Entscheidung sehr gut, doch solltest du wieder einmal Hilfe brauchen, so komme hierher an unseren See und wir werden für dich da sein."
Sie griff in den Beutel und entnahm einen einzigen Diamanten.
"Nimm diesen einen Stein, Sam. Vor vielen Jahren hat ein solcher Stein deinen Vorfahren Glück gebracht. Nimm ihn, er wird dir helfen."
Lynjana drückte Sam den Diamanten in die Hand, drehte sich um und ging zurück. Lilly drehte sich zu Sam. In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie wusste dass nun der Moment des Abschieds bevorstand.
"Ich wünsche dir viel Glück, Sam."
Mehr vermochte sie nicht zu sagen. Sam kam auf sie zu und nahm sie in den Arm.
"Ich danke dir, Lilly. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Es fällt mir schwer, aber ich muss zurück. Werden wir uns wieder sehen?"
Lilly stand mit hängenden Flügelchen vor ihm und hob hilflos ihre Schultern.
"Ich weiß es nicht, Sam."
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Carine Redlinger).
Der Beitrag wurde von Carine Redlinger auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Carine Redlinger als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Das Museum der Wahrheit, Band I -Die Gedichte- von Doris Ambrosius



Außergewöhnliche Gedichte über Liebe, Leidenschaft, Religiöses, Spirituelles und Wissen. Eine ungewöhnliche spirituelle Erfahrung war Anregung für die Autorin diesen Gedichteband und ein Buch zu schreiben.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Carine Redlinger

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Starke Gefühle von Carine Redlinger (Zwischenmenschliches)
Die fünf Hühner von Christa Astl (Märchen)
Wunderlappen von Norbert Wittke (Glossen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen