Jelena Sirkorowsky

Die Truhe

Langsam tappte ich mit nackten Füßen über den kalten Boden des Flures.Die Holzleisten ächzten wie ein alter Mann.Ich hoffte nur, dass niemand mich hören würde.Denn schließlich war heute Sonntag, da schlief die Herrschaft etwas länger.
Ich setzte mich auf die dunkle Truhe und zog meine Stiefel an.Dabei stellte ich fest, dass sie zu klein geworden waren.Doch was sollte ich tun.Es war November und Frostbeulen wollte ich keine bekommen.Und wie würde es aussehen, wenn ich barfuss nach Hause kam-den ganzen Sommer und Herbst hindurch auf dem Acker,im Stall und auf den Wiesen geschuftet, aber kein ordentliches Schuhwerk.Ich müsste mir unterwegs welche kaufen.Am besten beim Schindler-Kurt.Der war ein guter Mensch und den interessierte es nicht, dass ich ein Fremder war.
Ich atmete noch einmal tief ein-den Geruch von sauren Äpfeln-dann erhob ich mich.Die Truhe war schon immer ein Geheimnis für mich gewesen.In diesem Haus sprach man oft über dieses alte, morsche Ding.Sie hatte dem Sohn des Bauern gehört, er war zur See gefahren.Diese Truhe war also eine echte
Seemannskiste.Immer wenn die Bäuerin das Ding sah, bekam sie feuchte Augen.Der Bauer hingegen trug mir einmal auf die Kiste zu zerhacken, damit man sie wenigstens als Brennholz nutzen könnte.Doch die Herrin kam dahinter, verstecke das Ding im Schuppen und holte es erst wieder hervor als der Bauer sich beruhigt hatte.
"Is eh zu viel Wasser drin, dat hät uns nur die Bude verräuchert."
Eigentlich war es schon komisch, dass sich so viel Aufregung um eine stinkige Truhe gemacht wurde.Sie roch stark nach salzigem Meerwasser und Seetang.Wie die Luft am Kai.
Ich wusste nicht viel über den verschollenen Sohn.Nur,dass er schon früh-mit 13,14 Jahren-zur See fuhr.Angeblich,so erzählte mir die Nachbarstochter, wegen seines brutalen Vaters.Das konnte ich mir gut vorstellen.Auch mir hatte der Alte einige Male eins mit der Peitsche übergezogen.Mal wegen einer zerbrochenen Mistgabel,dessen Holzstiel genauso von Würmer zerfressen war wie die Truhe,mal hieß es,ich wäre faul und ein Träumer,mal ,weil ich den Pastor nicht gegrüßt hatte,den ich damals noch nicht kannte und der auch nicht so aussah wie ein Gottesdiener als er da auf dem Feld hinter dem Pflug herlief.Und irgendwann kam noch so ein Gerücht mit der schönen, bereits erwähnten Nachbarstochter auf.
Doch die Leute im Dorf tratschten viel und gern.Und so war vieles was man gestern noch gehört hatte,morgen schon Schnee von letzter Woche.
Ein Geheimnis möchte ich noch lüften, bevor ich für immer von hier fort gehe-das Geheimnis der Truhe.Vielleicht war gar nichts drin oder nur ein paar alte übelriechende Kleinigkeiten des Sohnes.Aber wenn mich zu Hause jemand fragen würde, was sich denn in der Truhe befand, so könnte ich keine Antwort geben.Aber vielleicht war es auch eher meine eigene Neugierde.
Der Deckel war schwer und das erste, was mir entgegen strömte:ein bestialisch-modriger Gestank.In der Kiste selbst fand ich nur ein paar alte Kleidungsstücke,ein Messer,eine Decke,verschimmeltes Brot und ein von Wasser durchtränktes Buch.
Es schien eine Art Tagebuch zu sein.Auf den einzelnen Seiten wurde eindrucksvoll vom harten Leben auf See berichtet.Von Klabautermännern,herzlosen Kapitänen,entsetzlichen Strafen,
schlechtem Essen,schönen Frauen,Alkohol und von der Sehnsucht.
Dieses Tagebuch war wie ein Roman geschrieben,teilweise sehr übertrieben,aber auch mit viel versteckter Wahrheit.Ich war selbst zwei Jahre zur See gefahren-schreckliche Zeiten.
Der letzte Eintrag im Tagebuch jedoch schockierte mich.
23.Mai 1897.
Morgen wird die Windjammer im heimischen Hafen von Stettin anlegen.Müsste ich mich nicht freuen nach Hause zu kommen?Zu den geliebten Eltern und Geschwistern,der vertrauten Heimat,zu meiner ach so sehr vermissten Verlobten.
Und wie heißt es noch im Lied der Heimat:

"Bist ja doch das Eine in der ganzen Welt,bist ja mein,ich deine,treu dir zugestellt,kannst ja doch von allen,die ich
je gesehen,mir allein gefallen,Pommernland,o schön!"

Aber nein!Ich kann mich nicht freuen, so wie die anderen.Der Schnaps fließt in Strömen.Woher kommt dieses billige Weib schon wieder, dass einem die Nächte mit ihren Reizen versüßt?Sieht es der 1.Steuermann nicht?-Er ist der Betrunkenste von allen.Der Zweite?-Liegt schon in seiner Koje und schläft seinen Rausch aus.Himmlisch wird er nun träumen von seinem geliebten, unerreichbaren Pommernland.
Ich wünschte,ich könnte mit ihnen Feiern, aber es ist mir nicht vergönnt.Dieses Buch ist voll bis zur letzten Seite,die lange Fahrt vorbei und auch ds schönste Lied hat einmal ein Ende.

"Jetzt bin ich im Wandern,bin bald hier bald dort,doch aus allem andern treibt's mich immer fort,
Bis in dir ich wieder finde meine Ruh',send ich meine Lieder dir,o Heimat zu!"

Ein furchtbarer Gedanke stieg in mir auf.Ich schaute an der Wand entlang,hin zum Fenster und schließlich zu Treppe.Die Bäuerin!Vor Schreck ließ ich das Buch fallen.Ein dumpfer Knall auf den harten Boden, doch die Bäuerin tat nichts.
Wir standen stumm,ich hatte sie nie so gesehen.Langsam kam sie die Treppe hinunter,hob das Buch auf und hielt es mir vor.
"Du darst es niemanden erzählen!"flüsterte sie leise.
Ich nickte und ging.
Es war ein grauer Novembertag.Nebelschwarden zogen über das Meer.Die Kirchturmuhr schlug sieben Mal.Irgendwo krähte ein Hahn.Ich kann mich an ein dumpfes Schiffshorn erinnern.
Und daran,dass meine Schuhe drückten...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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