Gerda Schmidt

Karriere eines Moleküls

Das kleine Molekül hatte beschlossen, sich gegen die Regeln und Verhaltensmuster der großen aufzulehnen. Dabei wandte es einen Trick an, auf den fast jeder reinfiel: Gehorsam lösen und dann gegen den Strom schwimmen. Zuerst ließ sich das Molekül noch einiges gefallen. Schließlich wollte es mal groß herauskommen. Es wurde in Alkoholen und Fetten gelöst, in Gelen und in Salben versuchte man es aufzuarbeiten. Doch dass es in einer Suspension enden sollte, gefiel dem kleinen Gebilde nun gar nicht. Es musste sich manierlich verhalten und wurde mit anderen, ihm fremden Molekülen zusammen in einer Flasche gerührt. Ständig wurde es von einem haiähnlichen Fisch gejagt, der nicht mal in der Lage war, selbst seine Bewegungsrichtung anzugeben. Dabei rempelte es stets mit anderen, wild umhertanzenden Molekülen zusammen. Auch die aufdringlich riechenden Stabilisatoren machten ihm den Aufenthalt in dem geschlossenen Gefäß unerträglich. Ständig knirschten ihm die unlöslichen Teile zwischen den kovalenten Bindungen, dass es beinahe zu dessen Auflösung kam. Schnell bat es die Van-der-Waals-Kräfte um deren Unterstützung, sonst wäre es zum endgültigen Crack gekommen. Wenigstens hatte man auf die Erwärmung der Suspension verzichtet. Alleine die vorangegangene Behandlung hätte keine weiteren Freundschaften unter den Molekülen hervorgebracht.  
 
Als nun alle aufgewirbelten Bestandteile froh waren, diese Behandlung einigermaßen gesund, aber doch stark zerzaust hinter sich gebracht zu haben, dachten alle, das Ziel erreicht zu haben und in die Verpackungen abgefüllt zu werden. Nur das kleine Molekül hatte eine Vorahnung, dass da noch etwas Unangenehmes kommen sollte.
 
Am folgenden Tag sperrte man die gesamte Suspension in kleine, enge Gefäße, die maximal 10 Tropfen aufnahmen. Luftdicht zugeschweißt saßen sie nun alle fest bis ans Ende ihrer Tage. Doch dem war nicht genug. Jeweils fünf Einheiten wurden in Aluminiumtaschen gesteckt und in völliger Dunkelheit von der Welt abgetrennt. Sollte das wirklich alles gewesen sein? Zu guter letzt stellte man das Molekül mit seinen Leidensgenossen bei 40°C und einer ungesunden Trockenheit von nur 20% Luftfeuchtigkeit in eine Klimakammer. Mit dem Kopf nach unten, hatte es als kleinstes Molekül das Glück, weit oben zu schwimmen und nicht von den anderen erdrückt zu werden. 
 
Für immer von der Welt vergessen schmollte das Molekül vor sich hin. Im Gegensatz zu den anderen Tropfen hatte es sich nicht in Lethargie ergossen, sondern eine rechte Wut aufgebaut. Es wollte nicht umsonst synthetisiert worden sein. Mit all seiner heilenden Wirkungskraft konzentrierte sich das Molekül auf die Personen, die für die Erstellung eines Stabilitätsplanes zuständig waren und aktivierte deren Intuition. Und tatsächlich, nach vier Monaten Dunkelheit kam die Erlösung. Das kleine Molekül wurde wieder aus dem Schrank geholt. Zufrieden reckte und streckte es seine Bindungen, so dass die Suspension im Gefäß herumschwappte. Als es dann noch auf einen Schüttler gestellt wurde, freute es sich anfänglich darüber. Doch die Freude schwand sehr bald, als nach 22 Stunden immer noch kein Ende abzusehen war. Ihm wurde langsam aber sicher schlecht. So langsam leierte sich die ein oder andere Bindung aus und verursachte die reinsten Stresskopfschmerzen. Dazu gesellte sich noch ein Schluckauf, der erst aufhörte, als die Schüttelei ein Ende fand.
 
Doch die nächste Tortour stand gleich darauf an. In einer Zentrifuge wollte man dem Molekül den Rest geben. Ein entsetzlicher Schluckauf begann das Atomgebilde zu plagen. Weder Luftanhalten noch tief durchatmen taten Abhilfe. Letzteres war sowieso nicht richtig möglich, da alle Moleküle in eine Ecke des Gefäßes gedrückt wurden. Manchen wurde dabei so schlecht, dass die Gefahr einer Agglutination bestand. Deshalb zog das Molekül den Kopf ein, bevor es von einem abgerissenen Wasserstoffatom bombardiert wurde. Jetzt wurde ihm auch so langsam klar, weshalb diese Bombenart so gefährlich war. Freie Radikale waren einfach zu allem fähig.
 
Vollkommen erschöpft wurden die Packungen aus der Zentrifuge entfernt, als ob es dem Molekül noch darauf ankam. Doch was folgte jetzt. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte das Molekül, was mit den anderen Abfülleinheiten geschah. Manche wurden geflickt, was im Nachhinein noch die angenehmste Aufrüttelei sein musste. Die nächsten wurden geshaket und noch schlimmer malträtiert, als auf dem Schüttler. Das schlimmste musste das Molekül jedoch selbst erleiden. Mit einem kräftigen Schlag, der sich fünfmal wiederholte, knallte man es und seine Mitinsassen auf die Tischkante. Jedes vernünftige Molekül hätte spätestens hier seine Funktion aufgegeben, aber wer konnte bei solch einer Behandlung noch von Vernunft reden. Danach riss man der Behausung den Deckel ab. Mit vier geübten Fingerdrucken landete jeder Tropfen in einem Kolben. Das kleine Molekül wehrte sich jedoch heftig dagegen. Mit vereinten Adhäsionskräften klammerte es sich am Gefäßrand fest und ließ nicht einmal locker, als bereits der halbe Tropfen aus der Packung rausschaute. Starkes Klopfen nützte nichts. Sogar das Berühren der
 
Gefäßwand ließ das Molekül unbeeindruckt. Als der Tester schließlich mit Gewalt nachhelfen wollte, spritzte das Molekül davon und traf den Tester direkt ins Auge. Sofort löste sich der Tropfen in der Tränenflüssigkeit und setzte sich genussvoll auf die geweitete Pupille. Doch das Abenteuer hatte erst begonnen.
 
Mit einer Augendusche wollte man dem Molekül zu Leibe rücken, doch eine geschickte Flucht gelang ihm durch den Tränenkanal ins Blut. Dort begann es wie wild gegen die Strömungsrichtung zu schwimmen, bis es im Gehirn landete. Erst dort ruhte sich das Molekül aus und hatte genug Zeit seinem Tester klar zu machen, dass dessen Übelkeit nicht von der Wirksamkeit des Moleküls stammte, sondern nur die Revanche für dessen schlechte Behandlung war. Der Name OPC bedeutet jedenfalls nichts anderes als Opthtalmics Principle Confusion.

Danke für die prompte Reaktion. Da stimmt die Chemie scheinbar :-)
Ich bin vom Fach und habe mich schon des öfteren in die Lage so manche Tablette oder Schokolade versetzt. Deshalb ist mir deren Wirkungsmechanismus nicht fremd. Tiefenpsychologie eines Antidepresiva gefällig?

Gruss sg
Gerda Schmidt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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