Ingrid Armstrong-Boehk

Auswanderung

 
Im September ’54 kletterten über ein tausend Menschen an Bord der ‘Anna Salen’ um ihre Heimat für immer zu verlassen.  Auch wir waren dabei.  Die Bremerhaven Blaskapelle spielte ‘Muss i denn zum Städtele hinaus’ und fast kein Auge blieb dabei trocken.  Bunte Papierschlangen flatterten wie Nabelschnuren zwischen Hafen und Schiff als letzte Verbindung der Auswanderer mit ihren Hinterbliebenen, bis der Wind sie zerfetzte.  Zurufe wie: ‘viel Glück’, ‘schreibt bald’ und ‘bleibt gesund,’ hallten noch durch die Luft als die Schiffsirene zum Aufbruch mahnte. Unser Ziel war Australien, ein Land von dem keiner so recht etwas wusste. Meine Mutter versteckte ihre Tränen hinter einem Taschentuch, mein Vater versuchte mit zusammengebissenen Zähnen Herr seiner Gefühle zu bleiben und meine kleine Schwester winkte den Menschen am Hafen, die immer kleiner wurden , noch lange herzhaft zu. Ich selbst als Vierzehn jährige, wusste nicht recht ob ich nochmals Abschiedstränen weinen oder mich auf das grosse Abenteuer freuen sollte.
 
Der Entschluss auszuwandern war meinen Eltern nicht leicht gefallen, doch die ersten Nachkriegsjahre in Deutschland ohne Arbeit und ohne Geld waren nicht einfach. Australien, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, lockte damals viele Deutsche an.
Als ich meinen Freunden von unserer bevorstehenenden Auswanderung erzählte, hatten mir einige so richtig Angst gemacht.  “Waaste dass es dort Kängeruhs mit Boxhandschuh gibt?” fragte einer. “Wennde dene iwern Weech dappst, do hoste awer gleisch zwa blaue Aache, kann isch der saache.”
“Net nur des,” meinte ein anderer, “do gibts jo ach gifdische Schlange. Die schleische sisch nachts in dei Bett un beisse disch. Un innerhalb von e poar Stunn biste hie.”
“Also isch hätt aafach zu viel Schiss nach Australien zu mache,” sagte eine Freundin shaudernd.  “Da muss mer doch midde im Busch im Zelt wohne un iwerall laafe die schwarze Eingeborene rum mit ihrne Boomerängs. Wie leischt kann ahm do aaner iwern Kopp haache.”  Dann riss sie ihre Augen ganz weit auf. “Vielleischt mussde sogoar ahn von dene heirade. O jesses!”
Bei ihrer Schilderung hatte ich plötzlich Gaensehaut am ganzen Koerper. In Gedanken sah ich mich schon im Grasroeckchen mit einem Urmenschen um ein Stück rohes Fleisch kämpfen.
“Äwe langts,” warf eine andere Freundin ein. “Wollt ihr der Ingrid dann schon en Herzschlaach verbasse eh die iwerhaupt nach Australien mescht? Garandiert sin die Leud dort genau so zivilisert un schlau wie mir. Wenn die nähmlisch net intelligent wärn, dann deede se net so viel Hase züschte. Isch hab sogar irchendwo gelese dass die Gardezäun bis zu zwaa Meder in die Erd neigebaud sin, dass die Hase ned des Gemies im Garde fresse kenne. Blos aans ded isch gern wisse,” sagte sie etwas nachdenklich zu sich selbst. “Warum breede die eichendlisch so viele Hase?”
Ich muss an diesem Tag ziemlich blass um die Nasenspitze gewesen sein als ich von der Schule nach Hause kam. Meine Mutter fühlte gleich meine Stirn und fragte ob sie mir einen Löffel Lebertran geben solle, den ich natürlich gleich dankend abschlug. Nachdem ich ihr erzählt hatte was ich in der Schule zu hören bekam, beruhigte sie mich mit: “Ach, mach dir mal kei Sorje. Du musst werklich kei Angst hawe.”
An diesem Abend kam mein Vater mit einem Pfadfinder -Messer nach Hause an dem alles mögliche, sogar ein Kompass dran war.  “Des steck ich zu unserm Zeltkram,” meinte er.   “ Wer weiss wie und wann ich des in Australien brauche kann.”
Ja, wenn ich in der Schule nicht zu faul zum lernen gewesen wäre, dann hätte ich zu der Zeit bestimmt etwas mehr über Australien gewusst. Aber ich hasste Erdkunde und war bei diesem Thema immer taub auf beiden Ohren. Damals wusste ich ja auch noch nicht dass ich selbst mal eines Tages nach Australien gehen würde, und vielleicht mehr über dieses geheimisvolle Land wissen würde als der Lehrer selbst.
 
Mein Hals schmerzte von ungeweinten Tränen als ich mich am morgen unserer Abreise von meinen Freunden verabschiedete. Sie sollten mich nicht weinen sehen. Tapfer winkte ich der kleinen Gruppe die sich vor unserm Haus versammelt hatte noch einmal zu. Meine Blicke streiften ein letztes Mal über die so gewohnte Umgebung in der ich aufgewachsen und für vierzehn Jahre gelebt hatte. Jede Einzelheit prägte ich mir ein um sie nur nicht zu vergessen. Ob ich dies alles noch einmal sehen würde?
 
Auf der ‘Anna Salen’ ging es dann aber doch ganz lustig zu. Der Kapitän und seine Mannschaft kümmerten sich sehr um ihre menschliche Fracht. Bei den Unterhaltungsspielen, den Film- ,Tanz- und Varitee-abenden die gehalten wurden, vergass man doch ab und zu mal die Sehnsucht nach der Heimat und die Angst vor dem Ungewissen das uns allen noch bevorstand. Auch sonst gab es viel Abwechslung. Bei der Fahrt durch das Mittelmeer kreisten Albatrosse hoch oben über dem Schiff. Weit entfernte Küsten lockten verheissungsvoll und erweckten meine Phantasie. Ewig-hungrige Möwen stürmten das Deck immer wieder aufs neue und streiteten sich um verlorene Krümeln. Schwärme von fliegenden Fischen, in deren silberner Haut sich die Sonne spiegelte, tauchten unerwartet aus den blauen Wellen. In der Nacht leuchtete eine Sternenpracht von einem samtblauen Himmel wie ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hatte; und mir wurde bei diesem Anblick erst mal so richtig bewusst wie klein wir Menschen doch sind in diesem unendlichen All.
 
Bei der Fahrt durch den Suez Kanal gab es auch sehr viel zu sehen. An manchen Stellen schien der Kanal so schmal, dass man glauben konnte das Schiff würde nicht hindurch passen. Leute in langen farbigen Roben bürsteten ihre Kamele an den Ufern, wuschen ihre Kleidung und beteten zu Allah. Eine unendliche weisse Wüste verbreitete sich vor den rollenden Dünen. Ihr Anblick rief so manchen Helden aus ‘Tausend und einer Nacht’ wie Aladin und Sindbad, Sultane und Prinzessinnen in meine Erinnerung zurück.
Als unser Schiff in Port Said anlegte, durften wir für kurze Zeit an Land. Die steilen, engen Gassen von weissen, ungewöhnlichen Gebäuden umgeben, schienen wie aus einem Bilderbuch geschnitten. Wir wanderten an bunt-gekleideten Menschen und geschmückten Kühen vorbei, an Maennern in Uniformen, mit roten Fezen auf dem Kopf an denen schwarze Quasten tanzten. Zu guter Letzt entdeckte mein Vater ein anscheinend sehr altes Hotel. “Hier gibts bestimmt was zu trinken,” meinte er. “Da gehen wir mal rein.” Und ob es was zu trinken gab. Auf den Flaschen stand ganz gross: ‘Münchner Export Bier.’ Ei, wie das schmeckte. Am Nebentisch sass ein dunkelhäutiger Schiffs-Kapitän aus Madagaskar, der anscheinend Gefallen an meinen blonden Haaren und blauen Augen fand. Er entschuldigte sich für einen Moment und kam dann zurück mit einem Fläschchen von teurem französischem Parfüm für mich. Nun kamen meinem Vater doch Bedenken. Man hatte ja schon so viel von entführten europäischen Frauen gehört die in Harems zur Sklaverei gezwungen wurden. Also zog er sein Pfadfinder-Messer aus der Tasche und wedelte es durch die Luft. “Niemand wird mei Fraa und Tochder ahrührn,” drohte er, “sonst is ebbes los.” Plötzlich standen zwei Polizisten da, schnappten ihn kurzerhand und führten ihn ab ins Gefängnis. Meine Mutter lief weinend hinterher und bettelte ihn doch wieder gehen zu lassen. Doch die Kerle blieben stur. Man konnte sich ja auch sprachlich nicht verständigen! Zum Glück hatte ein Mann in unserer Begleitung ein Päckchen Tabak dabei, und zum Glück auch liess sich einer der Polizisten damit bestechen. Vater wurde wieder frei gelassen und wir flitzten in Windeseile zum Boot das uns zurück ans Schiff brachte.
 
Einige Tage später geriet das Schiff in ein Unwetter das es in sich hatte. Schwarze Wolken verdeckten die Sonne und der Tag wurde dunkel wie die Nacht. Ein starker Wind wehte, haushohe Wellen warfen die ‘Anna Salen’ hin und her als wäre sie ein kleiner Tennisball, und riesige Wassermassen ergossen sich über das Deck. Wie sehr wünschte ich mich da zurück nach Hause und in mein eigenes Bett. Viele von uns wurden das erste mal richtig seekrank und manch einer hing über der Reling um eine grosszügige Gabe dem Gott der Meere zu opfern. An jenem Tag wurde die ‘Anna Salen’ in die ‘Schaukelanna’ umgetauft.
Genau fünf Wochen nach unserer Abreise, legte die ‘Schaukelanna’ endlich in Port Melbourne an. Ein goldener Strand, so weit man sehen konnte, lag vor unseren Augen, mit modernen Häusern und Lagerräumen dahinter, und der Lärm von Strassenverkehr drang an unsere Ohren. Mehrere Passagiere wurden mit Freudengeschrei und lautem Hallo von Freunden und Familienmitgliedern abgeholt. Wir nicht. Wir mussten in einen Zug umsteigen der uns zu einem Immigrantenlager in New South Wales verfrachtete.
 Während der Fahrt die etliche Stunden dauerte, betrachtete ich die Landschaft die an uns vorbei flog: Endloses Koppelgelände mit riesigen Herden von Schafen und Kühen und hunderte von Hasen die durch das Gras flitzten. Doch weit und breit sah man keine eingemauerten Gartenzäune. Und mehrere Kängeruhs im schattigen Busch trugen auch keine Boxhandschuhe. Koalas, manche mit ihren Jungen auf dem Rücken, knapperten an den Blaettern der Eukalyptusbäume die ihren frischen Duft verbreiteten. Ich bestaunte Baeume in herrlicher Pracht mit wunderschönen Blüten in lila, gelb und rot und ganze Schwärme von Rosellas und Kakatus die an uns vorbei flogen. Wir rasten an grossen Sädten und kleinen Dörfern vorbei und ich entdeckte manchen Bewohner der zu meiner grossen Erleichterung genauso aussah wie wir.
 
Das Immigrantenlager bestand aus Holz- und halbrunden Blech-hütten, offenen Duschblöcken die im Freien standen und einer Kantine die während der Mahlzeiten nur so wimmelte mit Menschen aus aller Herren Länder.
 
Wir hatten uns kaum eingelebt, als wir wenige Tage später mit mehreren anderen Immigranten nach Queensland geschickt wurden. Die Frauen und Kinder sollten wieder in ein Lager und die Männer als Zuckerrohrarbeiter zu den Farmern aufs Land. Und wieder stand uns eine sehr lange Zugfahrt bevor.
Das neue Lager war mitten im Busch. Mir kam vor als wäre ich im Urwald. Hatte meine Freundin vielleicht doch recht gehabt? Ängstlich suchte ich nach Spuren von giftigen Schlangen und wilden Eingeborenen, konnte aber, gottseidank, keine entdecken. Was mir allerdings trotzdem etwas Angst einjagte, waren riesige Eidechsen mit blauen Zungen und Kullerkragen, die oft unerwartet vor meinen Füssen auftauchten.  Sie jagten mir des öfteren so einen Schrecken ein, dass ich lauthals schrie. Und die Kookaburras auf den Bäumen – die wletweit für ihr lachendes Geschrei bekannt sind - lachten sich darüber halb tot.
Kaum eine Woche nach unserer Ankunft humpelten mein Vater und seine Schicksalsgenossen von den Zuckerrohrfeldern ins Lager zurück. Sie waren kilometerweit gelaufen. Die brennend heisse Queensland Sonne hatte keiner deutschen Haut gut getan. So mancher Mann war stark verbrannt und hatte Blasen auf Rücken, Armen und Beinen. Die Lagerverpflegung jedoch war nur für Frauen und Kinder gedacht, also keine Betten und kein Essen für die Männer. Die Verhältnisse waren noch schlimmer als die in Deutschland in den Nachkriegsjahren. Ich schlief mit meiner kleinen Schwester damit Vater auch ein Bett hatte und Mutter und ich teilten unsere Mahlzeiten mit ihm. Jede Scheibe Brot wurde in eine Schublade gesteckt bis wir merkten dass die Ameisen sich dick und fett dran frassen. Man hatte doch kein Geschirr in dem man das Brot frisch halten konnte, nicht einmal ein Stück Zeitungspapier. Die Kisten die unsere Habseligkeiten so wie Mutters Haushaltsgeräte enthielten, waren alle noch irgendwo gelagert.
Etwa zwei Wochen später verschlug uns das Schicksal nach Heyfiled, Gippsland, ein kleines Dorf im Staate Victoria. Wie es dann weiterging mit uns, ist in meinem Band ‘Memories of Heyfield’ in englischem Format zu lesen.
 
©I. Armstrong-Boehk, 2004

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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