Nach Feddersen konnte man die Uhr stellen. Er war der pünktlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Nun ist Pünktlichkeit an sich ja keine schlechte Eigenschaft, aber Feddersen trieb sie auf die Spitze. Er hatte sein Leben in eine Schablone gepresst, in der er sich im Takt der Uhr bewegte. Aufstehen, arbeiten, essen, schlafen… Jeder Tag verlief nach einem Stundenplan, von dem er niemals einen Deut abwich.
An jenem denkwürdigen Donnerstag verließ Feddersen wie gewöhnlich um 17.30 Uhr sein Büro, um wie gewohnt nach Hause zu fahren und sich sein Essen zu bereiten. Auf dem Weg zum Bus fuhr ihn der Schreck in alle Glieder. Ein Gespenst huschte stöhnend an ihn vorbei. „Ach ja, wir haben Halloween“, fiel ihm ein, „wie ich diese amerikanischen Bräuche hasse.“
„In der Nacht vor Allerheiligen ist die Wand zwischen der Welt der Lebenden und der Toten besonders dünn“, kamen ihm auf einmal Worte seiner Mutter in den Sinn, „oft besuchen die Toten die Lebenden.“
„So ein Quatsch“, murmelte Feddersen leise vor sich hin.
Wie gewohnt hatte er genau drei Minuten gewartet, als der Bus wie aus dem Nichts auftauchte und lautlos vor ihm hielt. „Schöner Abend heute“, grüßte Feddersen den Fahrer Willy Otremba.
„Soll aber noch regnen.“
„Dann bleiben die Toten vielleicht Zuhause.“ Otremba schaute ihn verdutzt an. „Ist doch Halloween.“ Beide lachten.
Feddersen steuerte seinen Stammplatz an und hielt überrascht inne. Besetzt! Das hatte es noch nie gegeben. Verärgert schaute er sich um. Der Bus war ungewohnt voll. Nur neben einem bärtigen Alten war noch etwas frei. „Darf ich?“ Der Alte nickte.
„Du hast die Zeit falsch verstanden.“ Der Alte sagte es fast beiläufig und spielte selbstvergessen mit einem Stundenglas.
„Was sagen Sie da?“
„Mein Sohn, du hast die Zeit zu deinem Gefängnis gemacht.“
Feddersen wurde es plötzlich kalt in seinem Wintermantel. „Ich verstehe nicht.“
„Ich habe die Zeit geschaffen, doch du verhöhnst sie. Du presst sie in ein Korsett, nimmst ihr und dir jede Freiheit.“
Feddersen fühlte sich mulmig. Er hatte sich neben einen Psychopathen gesetzt! Er wollte aufstehen, doch er konnte kein Glied rühren. „Willy, Hilfe,“, rief er verzweifelt.
„Willy hört dich nicht.“
„Was ist hier los?“, frage Feddersen vor Angst zitternd.
Ein Mann drehte sich zu ihm. „Glaubst du, ich, Alexander der Große, hätte die Welt erobert, wenn ich jeden Tag um halb sechs Feierabend gemacht hätte?“
Eine Frau erhob sich: “Glaubst du, ich, Marie Curie, hätte die Radioaktivität entdeckt, wenn ich jeden Abend um elf zu Bett gegangen wäre?“
Feddersen erbleichte. „Da-da-das kann nicht sein, ihr seid doch alle tot“, stammelte er hilflos.
„Heute ist Halloween!“ Auf einmal redeten alle durcheinander. „Glaubst du, ich hätte den Faust nach Stundenplan geschrieben?“
„Meinst du, ich hätte das Pariser Nachtleben malen können, wenn ich nicht mal durchgemacht hätte?“
„Denkst du, die Relativitätstheorie ist zwischen Frühstück und Abendessen entstanden?“
„Glaubst du, ich hätte deinen Vater kennen gelernt, wenn ich immer Zuhause gesessen hätte?“
„Mutter?“ Das war zu viel für Feddersen, mit einem tiefen Seufzer versank in eine erlösende Ohnmacht.
„Feddersen wachen Sie auf.“ Otremba schüttelte den Gast.
„Wo bin ich?“
„An Ihrer Haltestelle. Wollen Sie nicht aussteigen?“ Feddersen kam langsam zu sich. Die Gestalten waren fort, der Bus so leer wie immer. „Da waren doch eben Alexander der Große, Goethe und Marie Curie.“ Feddersen war noch ganz verwirrt. „Ich muss geträumt haben.“
„Sie waren wohl sehr müde, Sie haben es nicht einmal bis zu Ihrem Stammplatz geschafft. Nun steigen Sie schon aus, sonst hab’ ich Verspätung.“
„Glauben Sie, Kolumbus hätte Amerika entdeckt, wenn er sich an einen Fahrplan gehalten hätte?“
„Was rede ich da?“ Verwirrt drehte sich Feddersen zu dem Alten. Doch wo der gesessen hatte, funkelte nur im trüben Licht ein Stundenglas.