Nicole Schneider

Rendezvous vor´m Einschlafen

 

 

Da war es wieder! Jeden Abend, wenn der Mann schlafen ging, und das Licht gelöscht hatte, sah er dieses kleine Männchen mit dem spitzen Hut auf dem Kopf auf der Bettdecke in Höhe seiner Brust sitzen. Meistens hatte er dann schnell das Licht angeschaltet, weil er seinen Augen nicht traute, und dann war das Männchen jedes Mal verschwunden. Da er langsam angefangen hatte, an seinem Verstand zu zweifeln, hatte er einmal sogar laut nach seiner Haushälterin gerufen, die im Morgenrock mit offenem Haar herbeigestürmt war. Aber kaum, dass sie das Zimmer betreten hatte, hatte sich das Männchen in Luft aufgelöst. Seine Haushälterin glaubte nicht an dieses Männchen, sie glaubte eher, dass der Mann einfach Albträume hatte, denn irgend etwas schien ihn seit einiger Zeit zu bedrücken.

 

An diesem Abend jedoch wollte der Mann es wissen. Nervös wartete er ab, bis das Männchen erschien; und als es plötzlich wie aus dem Nichts mit einem Aufblitzen von blauem Licht auf seiner Brust auftauchte, zuckte er zwar kurz zusammen, griff dann aber mutig nach der kleinen Gestalt, um sich endlich zu überzeugen, dass sie echt war. Doch seine Hände griffen ins Leere, obwohl die Gestalt immer noch da war. „Was soll das?“, hörte er ein empörtes Stimmchen. „Ich wollte sehen, ob du echt bist!“, erwiderte der Mann, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt hatte. Gesprochen hatte das Kerlchen bisher noch nicht mit ihm. „Was heißt schon ‚echt’?“, meinte das Männchen. „Siehst du mich oder nicht?“ „Schon“, erwiderte der Mann zögernd. „Na also, die Luft kannst du nicht mal sehen und trotzdem glaubst du, dass es sie gibt. Aber Ende der Diskussion, es spielt keine Rolle, ob ich ‚echt’ bin, wie du es genannt hast oder nicht. Tatsache ist, dass du mit mir reden kannst.“ „Aber wer bist du?“, fragte der Mann. „Auch das ist egal. Vielleicht magst du mir später einen Namen geben. Im Moment ist es nicht wichtig. Ich bin hier, weil dich etwas bedrückt, ich will dich dabei unterstützen, herauszufinden, was es ist und was du dagegen tun kannst. Du beschwerst dich doch immer, dass dir niemand helfen kann. Ich kann dir helfen. Glaubst du mir das?“, fragte das Männchen. Der Mann war inzwischen überzeugt, dass von einer so kleinen Gestalt nichts Gefährliches ausgehen konnte. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht vorstellen, dass er mit Hilfe des Männchens herausbekommen sollte, was ihn quälte. Schließlich war er schon von Arzt zu Arzt und von Experte zu Experte gegangen. Aber was sollte schon passieren. Schlimmstenfalls würde er auch jetzt nichts herausbekommen. Aber die Begegnung mit dem kleinen Männchen machte ihn neugierig. Also nickte er.

 

Dann mach es dir bequem und atme tief durch. Ich zähle jetzt von 1 bis 10 und bei jeder Zahl entspannst du dich etwas mehr und wirst ruhiger und vergisst alles um dich herum bis auf meine Stimme. Deine Augenlider werden immer schwerer, und du kannst sie schließen. Und wenn du wieder erwachst, dann wirst du dich gut und erholt fühlen. Ich beginne jetzt zu zählen, und bei zehn bist du ganz ruhig und entspannt und kannst ganz leicht die Fragen beantworten, die ich dir stelle.

 

1...2...3...4...5...6...7...8...9...10.

 

 

Gesetzt den Fall, es gäbe irgend etwas, was dich unglücklich macht, was könnte das sein? Vielleicht fällt dir sofort etwas ein, und vielleicht benötigst du etwas Zeit. Und du brauchst es mir jetzt nicht zu erzählen, was dir einfällt. Es reicht, wenn du es weißt. Und während dein Verstand sich vielleicht bemüht, meine Frage zu beantworten, werden von ganz allein Antworten in dir hochkommen. Und vielleicht fällt dir eine Sache ein, vielleicht aber auch ein paar mehr.“ Dem Mann schossen ein paar Bilder durch den Kopf und plötzlich, ganz ohne Anstrengung erkannte er, was ihn quälte. Er war traurig, aber gleichzeitig war es, als wäre ihm ein Schleier von den Augen genommen worden.

 

 

Das Männchen ließ ihm einen Augenblick Zeit, bevor es weitersprach. „Und wenn es etwas gäbe, was an diesen Dingen besser sein könnte, was wäre das? Und auch hier wirst du überrascht sein, wie leicht dir etwas einfällt. Vielleicht eine Sache, vielleicht auch ein paar mehr. Und auch diese Dinge kannst du für dich behalten und die Vorstellung genießen, wie es sein wird, wenn alles so ist, wie du es dir gerade vorstellst.“ Während dem Mann wiederum Bilder und Gedanken durch den Kopf schossen, verwandelten sich seine Gefühle erst in Ergriffenheit und dann in Leichtigkeit, und er hatte das Gefühl, als würde er über seinem Bett schweben, so leicht und glücklich fühlte er sich auf einmal.

 

 Erneut verging ein Moment, bevor die Stimme des Männchens wieder in seine Gedanken drang.

 

„Wenn es irgendetwas gäbe, was dich dabei unterstützen könnte, die Dinge so zu verändern, dass du glücklich bist, was wäre das? Und lass einfach alle Gedanken zu, die dir in den Kopf kommen und lass dich überraschen, was für Ideen du haben wirst. Vielleicht werden dir Menschen in den Sinn kommen oder Tiere oder ganz bestimmte Orte oder vielleicht auch etwas ganz anderes, was dich unterstützen kann, dass du glücklicher wirst.“

 

 Der Mann nickte leicht. Wieder schien eine ganze Zeit verstrichen zu sein, als das Männchen sagte: „Ich werde jetzt gleich von zehn bis eins zählen, und wenn ich bei eins angekommen bin, wirst du dich strecken und die Augen öffnen und du wirst wach und erholt sein, und ich bin gespannt, was du für Wege finden wirst, das, was dich unglücklich macht, zu verändern, und wie du dir die richtige Unterstützung dabei besorgen wirst. Ich zähle jetzt bis eins, und wenn ich bei eins angekommen bist, bist du mit deiner Aufmerksamkeit wieder hier und hörst die Geräusche um dich herum. Und du fühlst dich wohl und entspannt. Und du wirst wissen, dass du mich jeder Zeit wieder rufen kannst, wenn du meine Hilfe brauchst. Denn dort, wo ich hergekommen bin und wo ich wieder hingehe, kannst du mich jeder Zeit erreichen.

 

10...9...8...7...6...5...4...3...2...1.“

 

 

Mit einem erneuten kurzen Aufleuchten war das Männchen verschwunden und es kam dem Mann so vor, als wären nur Sekunden vergangen, als der Radiowecker ertönte. Der Mann öffnete die Augen und blickte auf die Uhr. Tatsächlich, es war der nächste Morgen. Hatte er geträumt? Alles war ihm so real erschienen und doch so unwirklich. Seine Hand ruhte auf seinem Brustkorb. Genau dort hatte er das Männchen gesehen. Er konnte sich auch noch an alles erinnern, was ihm durch den Kopf gegangen war im Gespräch mit dem Männchen. Tatsächlich hatte er eine Menge Dinge herausgefunden, die ihn quälten. Und es verschaffte ihm ein herrlich leichtes Gefühl, jetzt einen Weg gefunden zu haben, die Dinge zu ändern.

 

Von da an konnte der Mann nachts ohne Probleme einschlafen, die allabendlichen Besuche auf seiner Bettdecke blieben aus. Den Mann wunderte das nicht, denn je häufiger er sich an die Geschehnisse dieser Nacht erinnerte, desto sicherer war er sich, dass sich das Männchen nicht einfach in Luft aufgelöst hatte, so wie er es zunächst gedacht hatte. Sonderbar, mit seinem tiefen Einatmen beim Aufwachen schien er es auf irgend eine Weise in sich hinein, in seinen Brustkorb gesogen zu haben. Das war auch der Grund dafür, dass der Mann tief in sich die Gewissheit hatte, dass das Männchen wieder erscheinen würde, wenn er es brauchte, und ihm helfen, Klarheit zu bekommen. Dazu würde er nur die Hand auf seine Brust legen oder auf eine andere Weise die Aufmerksamkeit dahin lenken müssen, wohin das Männchen verschwunden war. Und das war doch ein beruhigendes Gefühl, oder nicht?

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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