Klaus-D. Heid

Doppelmoral

Brecht betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Bett lag. Wie hieß sie noch gleich? Susanne? Sabine? Suzette? Er hatte es vergessen. Hatte er sie überhaupt nicht nach ihrem Namen gefragt? War es denn wichtig, ihren Namen zu kennen? Brecht wusste, dass jeder Name, den sie ihm genannt hätte, ein falscher Name wäre. Frauen, die sich prostituierten, suchten sich immer irgendeinen lächerlichen Künstlernamen aus, von dem sie glaubten, dass er auch eine südbayrischen Stundennutte in eine französische Edelkonkubine verwandelte. Wahrscheinlich hatte sie sich Suzette genannt – und hieß im wirklichen Leben Walburga. Brecht lächelte bei dem Gedanken, es mit einer Walburga getrieben zu haben. Amüsiert wanderten seine Blicke über Suzette/Walburgas hellblonde Haare, die sich bis hinunter zum Ansatz des Popos verteilten. Sowohl das blonde Haar, als auch die irgendwie typisch bayrischen Körperproportionen sprachen eindeutig gegen eine ‚Suzette’ im Bett. Suzettes ‚spreschen nischt’ mit bayrischem Akzent. Walburga hingegen schrie sogar beim Orgasmus mit jener bayrischen Mundart, die Brecht an den Damen dieses Etablissements so überaus schätzte. Ein weiterer Grund, weshalb Brecht seine immer häufigeren Besuche auf den Puff von ‚Madame Claire’ beschränkte, lag in der faszinierenden Fähigkeit der Damen des Hauses, sich perfekt den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Kunden anzupassen. Zählte man nach dem vierten oder fünften Besuch zu den ‚Stammkunden’, wurde auch der finanzielle Teil des Arrangements erst dann erledigt, wenn der eigentliche Zweck des Besuches zu vollsten Zufriedenheit abgearbeitet war.

Brecht war zufrieden. Mehr noch: er war rundum zufrieden! Er war sogar so zufrieden, dass er Suzette-Walpurga zusätzlich zum vereinbarten Liebeslohn noch einen Bonus unter die Bettdecke schob. Erstaunlicherweise musste das Mädchen derart erschöpft sein, dass sie selbst dann noch schlief, als Brecht ihr Zimmer verließ. Brecht überlegte, ob diese Müdigkeit seinen ausdauernden Liebeskünsten oder eher seinen unzähligen Vorgängern in Walburgas Bett zuzuschreiben war. Die bayrische Suzette war wirklich kein Mädchen, das Mühe hatte, ausreichend Freier abzuschleppen. Im Vergleich mit allen anderen Mädchen bei Madame Claire war sie vielleicht sogar das beste, was Brecht bislang erleben durfte.

Brecht dachte an diese seltsame Jaqueline, für die er sich vor ein paar Wochen entschieden hatte. Fast hätte das Erlebnis mit Jaqueline dazu geführt, dass er künftig einen großen Bogen um Madame Claires Puff gemacht hätte. Das Mädchen, das auch leistungstechnisch nicht annähernd hielt, was ihm Claire versprochen hatte, entpuppte sich bereits beim Vorspiel als zickige Hure, die es kaum abwarten konnte, dass Brechts Brecht sich endlich wieder in den kleinen Brecht verwandelte. Sie hatte es scheinbar sehr eilig, ihren Job zu erledigen, denn im gleichen Moment, als Brecht sich in ihr ergoss, kramte sie bereits nach ihren Sachen, um sich wieder anziehen zu können. Natürlich äußerte Brecht Madame Claire gegenüber seinen Unmut. Zwei Tage später zählte Jaqueline nicht mehr zu den französischen Liebesdienerinnen der Madame Claire...

Als Brecht den Puff verließ, sah er sich – wie immer – vorsichtig nach allen Seiten um. Er wollte nicht, dass ihn irgendjemand aus seinem Bekanntenkreis sah. In der gesellschaftlichen Position, in der Brecht sich befand, konnte es überaus unangenehm werden, erkannt zu werden. Nachdem Brecht sichergestellt hatte, dass niemand ihn beobachtete, machte er sich auf den Weg zu seinem Wagen, den er sicherheitshalber weit genug entfernt, abgestellt hatte. Schon das kleinste Gerücht konnte dafür sorgen, dass Brecht zum Gespött der ganzen Gemeinde wurde. Wer würde schon einen Pfarrer akzeptieren wollen, der ein- bis zweimal in der Woche sein Vergnügen bei käuflichen Damen des leichten Gewerbes suchte? Wenn herauskam, was er so alles in seiner Freizeit trieb, würde es nur stunden dauern, bis auch der Herr Bischof involviert war. Ein paar Stunden später würde Brecht einen Anruf vom Sekretär des Bischofs erhalten, in dem er aufgefordert wurde, umgehend beim Bischof vorstellig zu werden. Spätestens eine Woche danach würde es keinen Pfarrer Brecht mehr geben. Ganz still und sang- und klanglos würde die heilige Kirche den Mantel des absoluten Schweigens über die Angelegenheit ausgebreitet haben. Exkommunikation! Ein Pfarrer, der sich im Tal der Sünden aalte! Ein Vergehen gegen das Zölibat! Ein Todsünder auf der Kanzel?

So weit durfte es nicht kommen.

Obwohl Brecht insgeheim Sex als natürliche gottgegebene Möglichkeit der Entspannung betrachtete, durfte er es mit den Besuchen bei Madame Claire nicht übertreiben. Eines Tages würde – auch bei aller Vorsicht – ein Mitglied seiner Gemeinde beobachten, wie der Herr Pfarrer den Ort der Sünde mit verschwitztem Gesichtsausdruck verließ. Andererseits war sich Brecht sicher, dass er vollkommen unfähig sein würde, ganz auf die Reize der Lust verzichten zu können. Einerseits wollte Brecht niemals auf seine Berufung als Pfarrer verzichten – und andererseits wollte er auch nicht darauf verzichten, köstliche Stunden in den Armen nackter lustspendender Damen zu erleben. Hin- und hergerissen murmelte Brecht auf dem Weg zu seinem Wagen abwechselnd die wohlklingenden Namen seiner bisherigen ‚Eroberungen’ und die von Heiliggesprochenen. Ihn, Brecht, würde man niemals heilig sprechen. Im Gegenteil! Noch vor ein paar Jahrhunderten wäre es sein Schicksal gewesen, als Rauch vom Scheiterhaufen gen Himmel aufzusteigen. Heutzutage wurde er zwar nicht mehr verbrannt – aber er wurde ein für alle Male vom Schoß der Mutter Kirche gestoßen.

Warum eigentlich?

Brodelte nicht gerade jetzt die Diskussion um jene Kollegen von ihm, die sich sogar an Schutzbefohlenen Jungen und Mädchen vergangen hatten? Kam nicht immer häufiger ans Licht, dass sogar von allerhöchster Stelle einige dieser Sünder gedeckt wurden, um kein schlechtes Bild auf das Ansehen der Kirche zu werfen? Nahm man also die Sünde in Kauf, um den Ruf der Kirche zu schützen? Wer weiß? Vielleicht hatten gar die Herren Bischöfe und selbst der heilige Vater in Rom ihre Lustknaben und Lustmädchen, mit denen sie die Einsamkeit aus stillen Stunden der Muße vertrieben?

Brecht lächelte wieder, als er in seinen Wagen stieg. Was die konnten, konnte er schon lange! Außerdem hatte er es niemals gewagt, sich minderjährigen Schutzbefohlenen zu nähern, wenn man von dieser kleinen Ausnahme absah, die sich vor drei Wochen zugetragen hatte. Die kleine Marie würde garantiert schweigen! Brecht hatte ihr sehr intensiv erzählt, was geschehen würde, wenn sie das ‚kleine Geheimnis’ preisgeben würde.

Brecht musste sich beeilen. Wahrscheinlich warteten schon die ersten beichtwilligen Schäfchen auf ihn. Marie würde nicht unter ihnen sein. Obwohl sie erst dreizehn Jahre alt war, setzte Brecht einfach soviel Moral bei dem Mädchen voraus.

Jeden Abend betete er, dass sie gefälligst ihre Klappe halten möge...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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