Karin Schmitz

…erst wenn die Gehwägelchenzeit anbricht…

Ich: „ Hübsches Gehwägelchen!“
Er: „ Danke, ihr Modell ist aber auch ziemlich schnittig!“
Ich: „ Soll es auch sein, damit ER mich erkennt!“
Er: „ Wie ? Jemand soll sie an ihrem Gehwägelchen erkennen?“
Ich: „ Ja, so war es abgemacht! Vor ca 35 Jahren!“
Er: „ Klingt spannend! Erzählen sie mir doch mehr!“
Ich: „ Oh, die Geschichte ist lang, chaotisch und liegt schon lange Zeit zurück.“
Er: „Hübsche Frau, ich habe Zeit! Das heißt… meine Zeit ist fast abgelaufen, aber ich schätze, für ihre Geschichte wird sie allemal ausreichen!“

Ich: „Gut, ich kann mich noch klar an alles erinnern. Ich versuche mich kurz zu fassen. Wie gesagt, es begann alles vor 35 Jahren im November. Ich war jung und hatte mich im Sommer nach 14 Jahren von meinem damaligen Mann getrennt. Ich hatte damals schon 2 Mädels, die waren noch klein. Fortan teilte ich mir mit meinen Mädels das Haus. Ich nutzte das Internet um Kontakte zu knüpfen. Jedenfalls meldete ich mich damals an einer Singleplattform an und chattete mit Gleichgesinnten.

Dann kam dieser besagte Tag. Der 1. November… eigentlich ein trauriger Feiertag… dieser war aber ein ganz besonderer Tag. Ich fand ihn zufällig unter Tausenden! Wir chatteten…und waren uns gleich sehr nah. Er war witzig und charmant zugleich. Diese Mischung war es, die mich faszinierte. Jedenfalls war das Internet ständig gestört und wir hatten Probleme den Kontakt zu halten.
Am Folgetag chatteten wir abermals. Dabei tauschten wir unsere Telefonnummern aus. Wir waren beide nicht überrascht darüber, dass es ein wunderbares Gespräch wurde. Ja, wir haben damals schon richtig geflirtet. Und dieses knistern in der Leitung… kurios. So telefonierten und simsten wir eine Woche lang miteinander. Dann hielten wir es beide nicht mehr aus …wollten uns endlich in die Augen sehen…

Als die Türklingel ging, ich ihm öffnete und ich sah, dass er so war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, nahm ich ihn an die Hand, führte ihn ins Wohnzimmer und wir schauten uns erst einmal in die Augen. Es blitzte und funkte gewaltig. Wir nahmen uns in den Arm und genossen es, uns gefunden zu haben. Es war traumhaft. 50 km trennten uns voneinander… für die Große Liebe peanuts!!!

Bis dahin lief alles wie auf Schienen. Eine schöne Zeit. Gar nicht like November. Er hatte mich völlig überwältigt. Es kommt mir immer noch so vor, als wäre es Gestern gewesen, als wir am Straßenrand standen und uns den
Laternenzug anschauten. Wir waren ausgelassen … verliebt halt! Dann kam der 1. Stein. Darüber sind wir nur gestolpert, sind wieder aufgestanden, weil ich ihm den Mut gab, nicht aufzugeben.
Dann kam ein größerer Stein und wir liefen vorübergehend auf getrennten Wegen. Aber wir konnten beide nicht ohne den Anderen. Wir stellten uns vor, wie es wäre, wenn wir uns noch einmal gegenüberstehen. Wir konnten nicht anders und sahen uns wieder. Ein ganzes Wochenende im März. Man hätte meinen können, Silvester wäre verschoben worden… von Januar auf März… so gewaltig sprühten die Funken. Man kann es nicht in Worte fassen… die Luft war praktisch „erotisiert“.

Das lag wohl an den Augen oder an der Sprache der Augen! Man kann es nicht erklären. Zu gut erinnere ich mich daran, als er meine Hände nahm und sie mit Creme sanft massierte. Dabei ließen seine Augen meine nicht los. Ich hatte das Gefühl, gleich zu platzen, so viel Gefühl kam dabei rüber. Ich kann es nicht beschreiben!“

„Sie weinen ja!“ Tröstend legt er seinen Arm um mich, als wären wir ein altes Paar.

„Ich weine seit 35 Jahren! – Sporadisch!
Wir genossen unser Wochenende. Er hatte immer schöne Ideen und wir kamen uns noch einmal ganz nahe. Es war alles wie in einem Traum.

Am folgenden Tag setzte mich mein Verstand matt. Keine Ahnung, wie er das gemacht hatte. Auf einmal waren da Ängste, die ich vorher nie kannte. Ich tat einen Schritt zuviel und den bereute ich sogleich wieder. Ich ließ ihn gehen. Die Zeit konnte ich nicht mehr zurückdrehen. Wir schrieben und telefonierten wieder. Wir verabredeten uns, im Rentenalter mit unseren Gehwägelchen!
Deshalb habe ich einen Gehwagen in Apfelgrün! Apfelgrün wie die Hoffnung, wie seine Wandfarbe im Wohnzimmer. Apfelgrün, die Farbe, die mich, wenn ich sie irgendwo sehe, sofort an ihn erinnert. Apfelgrün!“

Ich musste schlucken, die Gefühle waren immer noch sehr stark.
„Damals habe ich den Kontakt abgebrochen. Ich konnte es nicht! Ich konnte keine Freundschaft daraus basteln. Die Liebe war zu groß. Ich wollte ihn nie verletzen. Vor 5 Jahren kaufte ich mir dann diesen Gehwagen. Eigentlich brauche ich noch gar keinen, aber er muß mich doch irgendwie erkennen können!“

Sein Arm war immer noch um meine Schultern gelegt. Sanft streichelten seine Fingerspitzen meinen Arm. Wir fühlten uns beide wohl. Dann fragte ich: „ Ihr Gehwägelchen ist aber auch umlackiert, oder täusche ich mich?“
„Ja“ sagte er, „Orange ist ihre Lieblingsfarbe!“
Dann griff er mit der freien Hand in seine Hosentasche und zog ein altes, vergilbtes, zerknüddeltes Stück Papier heraus. Er faltete es auseinander und ich erkannte meine Schrift. „Ich trage ihn seit dieser Zeit bei mir… lese ihn immer wieder und frage mich seit 35 Jahren, ob wir nicht doch eine Chance gehabt hätten. Nun schaute ich in seine Augen und … warum war mir das nicht gleich aufgefallen???
Seine Augen…
Wozu orangefarbene Gehwagen…. ich hätte ihn an den Augen erkennen können, wenn ich meinen Kopf höher getragen hätte!!!

Nun leben wir glücklich unsere letzten Tage! Leider haben wir viel zu viel Zeit vergeudet.

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Karin Schmitz, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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