Ronny Meyer

Ohne Namen

Es ist ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen Stadt, irgendwo im Nirgendwo.
Es war einmal eine wunderschöne Stadt: viele Villen, gute Infrastruktur, nette Einwohner, eine lange Brücke über einem aquamarinblauen Fluss.
Doch das war mal. Die Villen sind eingefallen, es gibt keine Infrastruktur mehr, alle netten Einwohner sind tot, die Stadt wird von Gangs beherrscht, die sich immer wieder gegenseitig bekämpfen. Selbst die lange Brücke über dem aquamarinblauen Fluss ist nicht mehr so wie früher: die Stahlträger sind verrostet, die Seitenabgrenzungen sind mit Beton ausgegossen.
Und auf eben einer solchen Seitenwand sitze ich gerade und schaue in den dreckigen, grün- grauen Fluss, der heute nur noch Dreck und die Fäkalien dieser Stadt transportiert.
Wäre der Sitz des Teufels auf Erden, so wäre er in dieser Stadt.
Der Dreck rauscht mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit unter meinen Füßen zu einem Ort, dessen Richtung ich nicht mal zu nennen vermag.
Links und rechts sitzen hunderte Leute, doch alle sind anders als ich. Im Hintergrund dröhnt leise die dumpfe Musik verkiffter Großstadtjunkies, die sich in ihren dreckigen, hochgetunten Wagen eine Tüte nach der anderen reinziehen.
„Du willst das gar nicht." Ich blicke in die Richtung, aus der die Stimme in mein Ohr drang.
Ein alter, langhaariger Mann mit grauem Vollbart lehnt sich weit über das Geländer um einen Blick auf das Abwasser zu erhaschen um gleich darauf angewidert in die Ferne zu gucken.
„Früher war es hier schöner."
Wer ist dieser Mann?
„Du willst das gar nicht machen."
Ich blicke verwundert.
„Was will ich nicht machen?" Ich weiß, was er meint, doch ich glaube nicht an sein Wissen.
„Nein, ignoriere mich einfach. Ich rede wirr."
„Ja, das denke ich allmählich auch."
Ich atme tief durch, schließe die Augen und spanne meine Muskeln an.
„Wenn ich du wäre, dann würde ich das nicht tun."
Ich öffne die Augen wieder und sehe ihn böse an.
„Was willst du, Alter Mann?!"
Ich will dich nur vor einem Fehler beschützen. Sonst nicht."
Wer ist dieser Mann?
„Ich bin eigentlich niemand, auch wenn ich alles bin."
Ich will in diesem Spiel mitspielen:
„Du bist Gott?"
Er lacht laut los. Das Geräusch von Freude klingt in jede Ecke, über jeden Quadratmillimeter Wasser, dringt in jedes Ohr, da es doch so selten ist.
Alle Blicke ruhen auf mir und meinem seltsamen Gesprächspartner. Ich merke, wie ich erröte- vor Wut oder Scham, ich weiß es nicht.
„Wo denkst du hin, Junge? Sehe ich allmächtig aus?"
Wer verdammt ist dieser Mann, der mich von meinem so dramatischen Selbstmord abhält. Siebzig Meter bis zum Flussboden, zehn davon Wasser. Kommt man auf der Oberfläche auf, brechen einem sofort die Beine, ist man bis zur Hüfte im Wasser, töten einen die unglaublich niedrigen Temperaturen.
Und wenn das noch nicht geschehen ist, dann ertrinkt man an den Schlammmassen, die sich unaufhaltsam in die Kehle drängen. Ein wunderbarer Abgang.
„Ich bin nur jemand, der sich darum kümmert, dass du nicht so einfach aufgibst."
„Mein Schutzengel?"
„Sozusagen."
Er blickt mit einem breiten Grinsen in meine Richtung. Ich gebe vor, ihn nicht zu sehen.
„Was willst du von mir, Alter?"
„Ich will dir eigentlich nur sagen, dass es keine Erlösung für dich gibt, sofern du jetzt springst."
Was soll das heißen?
„Was soll das heißen?"
„Das heißt, wenn du jetzt reinspringst, dann wirst du in der Jauche da unten bewusstlos, zehn Minuten später rausgefischt, hast einen Hirnschaden und landest in einem Krankenhaus für psychisch Kranke und Labile. Und das ist doch wahrlich keine Erlösung, oder?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Was soll’s. Hauptsache merke ich dann nichts mehr von dieser dreckigen Stadt."
„Tja, Baby, wenn du denkst, dass du das tun musst, dann spring doch. Mir ist es egal. Im selben Augenblick stehe ich an einem anderen Brückengeländer in einer anderen Stadt und rede auf einen anderen Jugendlichen ein, der vielleicht ein wenig intelligenter ist als du. Mir ist diese ganze Scheiße egal. Spring oder lass es. Ich rede mit dir und das ist mein ganzer Job."
„Du denkst wohl, ich habe nicht den Mut zu springen?"
„Mach, was du nicht lassen kannst, Dumpfbacke. Aber denk an meine Worte."
Er drehte sich langsam um und ging mit einem stolzen Gang die Brücke hinunter.
Dem werde ich es beweisen.
Ich werde es allen beweisen.
Ich habe keine Angst.
Ich springe.
Für Momente stockt die Zeit, bleiben die Bässe des Hip Hops in der Luft hängen um sofort danach wieder den gewohnten Gang zu gehen.
Ich tauche in die dreckige Soße aus Schlamm und Scheiße ein, mein Herz stockt und versagt den Dienst.
So fühlt sich also das Sterben an. Es schmerzt. Aber nur einen Augenblick. Danach ist alles ruhig.

Der alte Mann hatte recht. Das ist keine Erlösung...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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