Wolfgang Urach

Kasperle und die Teufelsbrille

Liebe Kinder,
 
Seid Ihr alle da?
Ja?
Das ist gut, denn ich muss Euch eine aufregende Geschichte erzählen.
 
Eines Tages machte ich die Bekanntschaft mit einem merkwürdigen Herrn mit rotem Umhang und zwei kleinen Hörnern auf der Stirn. Doch am komischsten war seine Brille. Sie war groß und rund, und ich hatte den Eindruck, dass er gar nichts sehen konnte, weil sich zwei Ein-Euro-Stücke an der Stelle der Brillengläser befanden.
 
„Hallo Kasperle!“
„Guten Tag, fremder Mann! Kenn ich dich?“
„Nein, ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind.“ Da lachte der Mann gackernd, und ich verstand gar nichts mehr.
 
„Kinder, kennt ihr den Herrn?
Was?
Das soll der Teufel sein?
Aber nein!
Der Teufel hat doch nicht eine solche lustige Brille.“
„Richtig, Kasperle“, sagte der Fremde, „willst du mal meine Brille ausprobieren?“
„Aber klar doch“, antwortete ich und setzte die komische Brille auf. Das war ein tolles Gefühl!
 
„Was siehst du denn, Kasperle?“
„Ich sehe Geld, überall Geld! Das ist ja klasse!“
„Erzähl mal, was du siehst, Kasperle!“
„Da hinten sitzt ein kleiner Junge, der hat ganz viel Taschengeld von seinem Papa bekommen. Jetzt zählt er es gerade.
Dort ist ein Mädchen, das hat einen sehr schönen Pullover an, war der teuer! Sie ist ganz stolz. Das Preisschild hängt noch dran.
Und hier ist eine Mama, die holt gerade ihr Portemonnaie heraus, um Eis für ihre drei Kinder zu kaufen. Ich will auch eins. Wartet auf mich!“
„Einen Moment mal“, hielt mich der Fremde an der Schulter zurück, „musst du nicht die Einkäufe für deine Großmutter machen?“
„Doch“, fiel mir mein Versprechen wieder ein, „Großmutter hatte ich fast vergessen. Ich muss los. Darf ich die Brille behalten?“
„Aber sicher“, sagte der Fremde und gackerte wieder.
Ich beeilte mich, nach Hause zu kommen.
 
Großmutter wartete schon auf mich.
„Guten Tag, mein lieber Kasperle!“
„Hallo Großmutter!“
„Hast du Zeit, für mich die Einkäufe zu machen?“
„Klar doch, das habe ich doch versprochen.“
Da schob sie ihre große Schatztruhe heran und machte sie auf.
„Boooor“, staunte ich, „du hast aber viel Geld, Großmutter!“
„Aber Kasperle, das weißt du doch seit langem, dass ich mein Erspartes in der Schatztruhe verwahre.“
„So viel Geld“, schwärmte ich und konnte meinen Blick nicht von der Schatzkiste wenden.
„Na, für den Bäcker brauchst du nur einen Euro“, meinte Großmutter, öffnete die Truhe und gab mir eine Euro-Münze. „Jetzt mach dich auf den Weg.“
Großmutter gab mir einen Kuss auf die Wange, und ich sagte: „Bis gleich!“
Und ich tat so, als ob ich ihr Haus verlassen würde. Doch das tat ich nicht, sondern versteckte mich im ihrem Hauseingang.
 
Meine Großmutter wollte ihrem Haushalt nachgehen:
„So, Kinder, jetzt räumen wir mal tüchtig hier auf. Was meint ihr?
Genau jetzt mach hier mal sauber.
Was? Kasperle?
Nein, der ist doch zum Bäcker gegangen.
Ich sehe hier keinen Menschen.
Vielleicht bin ich ja schon alt.“
 
Ich wartete, bis Großmutter in der Küche verschwunden war, dann stürzte ich mich auf die Schatztruhe, die sie im Wohnzimmer zurückgelassen hatte.
„So viel Geld! Mann, ist die Kiste schwer!“ Ich bekam sie kaum hoch. „Geld, Geld, Geld!“, jubelte ich und schleppte mühsam die Truhe aus Großmutters Haus.
 
Kaum hatte ich ihr Haus verlassen, traf ich auf… den komischen Fremden, der mir jetzt aber ganz sympathisch vorkam.
„Hallo, Kasperle, was hast du denn da?“
„Ach, das? Das ist doch Großmutters Schatztruhe. Da ist so viel Geld drin!“
„Bravo“, lobte mich der Fremde, „gut gemacht! Zeig doch mal!“
Ich öffnete den Deckel, und gemeinsam betrachteten wir das viele Geld.
„Boooor“, sagte ich von neuem.
„Toll gemacht“, stimmte mir der Fremde zu und rieb sich die Hände.
In diesem Moment kam jemand, an den ich in diesem Moment gar nicht gedacht hatte. Es war meine Freundin Gretel.
„Schnell weg damit“, meinte der Fremde. Und geschwind machten wir die Truhe wieder zu und setzten uns darauf, so dass Gretel sie nicht sehen konnte.
 
„Hallo Kasperle! Guten Tag, fremder Herr!“
„Hallo Gretel“, begrüßte ich sie und hoffte, dass sie bald wieder weggehen würde.
„Du hast aber eine komische Brille auf, ich hätte dich fast nicht erkannt“, meinte Gretel.
„Doch, doch, ich bin’s.“
„Aber warum hast du diese Brille aufgesetzt? Ich kann dir gar nicht in die Augen blicken.“
„Das ist nicht schlimm“, erklärte ich, „entschuldige, Gretel, aber der Herr und ich müssen noch arbeiten.“
„Wer bist du denn?“, fragte jetzt Gretel den Fremden direkt.
„Ich?“
„Ja du, du bist komisch, finde ich.“
„Ich bin nicht komisch“, verteidigte sich der Fremde.
„Doch, doch“, sagte meine Gretel hartnäckig, „und du, Kasperle, zieh endlich die blöde Brille ab.“
„Nein, warum?“ Ich schüttelte den Kopf.
Doch ehe ich mich versah, hatte mir Gretel die Brille von der Nase gerissen.
Das war ein eigenartiges Gefühl. Ich sah mit einem Mal die Sonne, unser Dorf und meine Gretel vor mir. Und der Fremde kam mir jetzt wirklich komisch vor.
„Was ist los mit mir?“, fragte ich etwas verloren.
„Erinnerst du dich denn nicht?“, fragte Gretel.
„An was?“
„Der Fremde, ich glaube, es ist der Teufel, hat dir die Brille gegeben. Und ich komme gerade von Großmutter. Man hat ihr die Schatztruhe gestohlen.“
Ich schaute mich um, aber der Teufel war wie vom Erdboden verschwunden, genau wie die Schatztruhe. Da wurde mir alles klar, und ich bekam riesige Angst.
„Das ist schrecklich!“
„Haltet den Dieb!“, rief jetzt Gretel dem Teufel hinter her.
Und da wusste ich, dass Gretel recht hatte: „Ja, haltet den Dieb!“ Und zu mir selbst sagte ich ganz traurig: „Das ist ja alles ganz fürchterlich… was habe ich bloß gemacht!“
Aus der Ferne lachte der Teufel donnernd: „Zu spät, zu spät!“
 
Eine Stunde später führte mich der Wachtmeister am Schlawittchen zu Großmutter.
„Großmutter, hier ist einer der beiden Diebe. Den zweiten haben wir leider nicht gefangen. Der ist mit der Schatztruhe abgehauen.““
„Danke schön, Herr Wachtmeister.“
Gottseidank war auch Gretel da, die mich verteidigte: „Aber Herr Wachtmeister, der Kasperle ist doch kein Dieb. Der Teufel hat ihn mit der Euro-Brille verzaubert.“
„Genau, ich… ich war irgendwie ganz anders mit dieser Brille…“, versuchte ich alles zu erklären.
„Aber du hast doch Großmutters Schatztruhe gestohlen?“, beharrte der Wachtmeister.
Ich schämte mich: „Das ist wahr, und ich werde jetzt ganz viel arbeiten und Geld verdienen müssen, um der Großmutter das Geld aus der Schatztruhe wiederzugeben.
„Komm zu mir, mein Kasperle“, sagte die Großmutter. Ich ging zu ihr. Sie nahm mich in ihre Arme und meinte ganz zärtlich: „Du bist doch mein Kasperle, und Geld ist nicht alles auf der Welt. Das kommt schon wieder in Ordnung. Kinder, wollt ihr jetzt einen warmen Kakao trinken? Herr Wachtmeister, trinken Sie auch eine Tasse mit uns?“
 
Und so ging diese aufregende Geschichte zu Ende.
Bis bald, Kinder! sagt Euch Euer Kasperle.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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