Annie Krug

alles friedlich??

                     

 

 

Im Jahr 1964 war unser kleines 80-Seelen-Dörfchen, welches verträumt auf einem Höhenzug der Fränkischen Schweiz liegt, noch so richtig das, was man rückblickend gerne "Gute alte Zeit" nennt.

Die Dorfstraße war weder geteert noch gepflastert - ein besserer Fuhrweg, zu beiden Seiten von hohen Haselnuß- und Fliederhecken gesäumt.
An den Wegekreuzungen dominierten riesige uralte Linden, deren Blütenduft im Sommer die Luft erfüllte. Mit jedem Tag schien das laute Bienengesumm in den mächtigen Baumkronen noch mehr anzuschwellen. Die Imker konnten sich auf eine reiche Ernte freuen und wir Kinder passten auf wie die Luchse, um rechtzeitig zur Stelle zu sein und eine der begehrten gefüllten Waben geschenkt zu bekommen, wenn der Bienenvater  ans Schleudern ging.
Süß nach Honig duftend, mit klebrigen Händen und Mündern kamen wir dann heim, in der Schürzentasche meist noch ein Marmeladenglas voll Wabenhonig, das wir freudestrahlend der Mutter überreichten. 

Die Häuser der Ortschaft lagen anheimelnd über eine kleine Anhöhe verteilt; die freie Lage ließ den Wind ungehindert von allen Seiten darüber hinwegstreichen, ein steter Luftzug umwehte die Gebäude.
Im Winter mag der eine oder andere sicher schon mal in Versuchung gekommen sein, den zugigen Standort zu verwünschen. Wenn der Schneesturm heulte und pfiff, in den bretterverschlagenen Scheunen Sägespäne, Süü (Spreu)  und staubiges Hai`gseemi (Heublumen) aufwirbelte und in die Augen trieb und man drei Arme nötig gehabt hätte, um Heu oder Einstreu, die man dem Stall zutrug, ausreichend festhalten zu können. Und wenn es in den Stuben nicht warm werden wollte, weil die Gardinen vor den undichten Fensterflügeln sich aufblähten und im Eiseshauch hin und her wedelten. Oder wenn der rußende, qualmende Herd die Hausfrau frei (schier) zur Verzweiflung bringen wollte, weil der Wind, der laut im Kamin orgelte, wieder einmal seine Überlegenheit über diese armseligen kleinen Menschlein demonstrierte, indem er den Rauch gehässig in den Schlot zurückdrückte und trotz aller Mühe das Feuer immer wieder ausblies.  Aber in schwülwarmen Sommernächten war dann eigentlich doch jeder recht zufrieden und dankbar über das frische Lüftchen. Besonders dort, wo gleich in direkter Nachbarschaft geöffneter Schlafkammerfenstern auch Stalltüren nachtsüber offen stehen blieben, um dem Vieh die drückende Hitze ein wenig erträglicher zu machen.

Rings um die Gehöfte wurde das Ortsbild einheitlich abgerundet durch weitläufige, saftiggrüne Obstgärten. Hier tummelten sich Heerscharen von gackerndem, schnatterndem Geflügel hinter silbriggrau verwitterten Staketenzäunen.
Unmittelbar hinter der Dorfgrenze fielen Wiesen und Äcker in sanftem Bogen nach unten ab, immer wieder unterteilt von schlehdorn- und hagebuttenbewachsenen Rainen.

Sternförmig führten zahlreiche Wege hinaus in Wald und Flur. Enge holprige Räderspuren, zwischen denen ein Saum niedrigen Unkrautes unbeeindruckt sein Haupt erhob. Während diese Fahrwege in zahlreichen Windungen und Bögen den Ackergrenzen folgen mußten, verliefen die im Laufe der Generationen tief ausgetretenen schmalen Fußpfade grundsätzlich in gerader Linie querfeldein, so daß die Bauersleute, die zum Hacken oder Heuen  naus di Welt“ (in Feld und Flur ) gingen, immer auf kürzesten Weg ihr Ziel erreichen konnten. 
Und so bestand denn auch eines der ersten Abenteuer meines Lebens darin, diesen gerade mal trittbreiten Schneisen durch die endlosen Weiten der Getreidefelder zu folgen; ein Nervenkitzel, der seinesgleichen suchte.
In
diesem sacht wogenden Meer aus knisternden Halmen, um etliches höher als ich selber, fühlte ich mich eigenartigerweise verloren und geborgen zugleich. Reife, süßlich duftende Ähren stießen raschelnd über mir zusammen, das ganze Feld schien ein einziges Flüstern und Rauschen zu sein und der Weg zurück ins Freie schier unermeßlich weit.

Die halbwüchsigen Bauerntöchter trieben sommers ihre endlosen Gänseherden durch den Ort hinaus auf die Wiesen. Weit außerhalb verbrachten sie dann die Nachmittage zwischen Gänsehüten und Hausaufgaben.
Manchmal durfte ich sie sogar begleiten, aber meistens wollten die jungen Fräulein lieber unter sich sein. Schon von weitem hörte man sie singen und herumkichern und ich bin mir nicht sicher, wer da nun mehr schnatterte, - die eifrig Gras rupfende, "daiende" (Verdauungsschläfchen haltende)  Gänseschar, oder ihre fidelen Hirtinnen.  
Gegen Abend setzte sich der Gänsemarsch dann in umgekehrter Richtung in Bewegung. Die langen Ruten, die beim Austreiben gebraucht wurden, um das Federvieh von Übergriffen auf fremde Felder und Wiesen abzuhalten, wurden auf dem Heimweg für gewöhnlich nicht mehr in Anspruch genommen. Die Gänse hatten sich samt und sonders ihren "Grüsl" (Kropf) vollgefressen und watschelten zufrieden den Weg entlang.
Die Mädchen hatten eher Mühe, ihren satten Schützlingen zu folgen, die nun zügig dem heimischen Stall zustrebten - und vor allem ihrem abendlichen Badevergnügen.
Vor lauter Eile setzten die Gänse ein Stück vor den ersten Häusern gern zum Flug an, was die Hüterinnen dann vollends in Hektik brachte. Nicht immer gelang es ihnen, dies zu verhindern, dann erfüllte eindrucksvolles Flügelrauschen die Luft, wenn die unzähligen Gefieder hoch oben über Dächern und Baumwipfeln hinwegstrichen.
Trotz aller Domestizierung war der angeborene Instinkt erwacht, der die Tiere ebenso selbstverständlich wie ihre wilden Artgenossen in die gleiche wohlgeordnete Formation fügte, in der sie dann im eleganten Bogen in Richtung Dorfteich abschwenkten. 

Am Wasser angekommen begann erst einmal eine großartige Begrüßung mit lang ausgestreckten Hälsen, aufgeregtem Geschrei und Flügelschlagen, bevor sich die weiße Schar unter allgemeinem Geschnatter ins einladende Nass stürzte. Während die Hirtenmädchen nach Hause eilten, wo sie bei der Stallarbeit helfen, oder auf kleinere Geschwister aufpassen mußten, plantschten und gründelten derweil ihre beneidenswerten Gänse nebst zahlreichen Enten nach Herzenslust in den trüben, sonnenwarmen Weihern herum.

Die beiden Dorfweiher wurden von den Leuten "oberer-" und  "unterer See" genannt, so wie auch die Ortschaft streng geographisch in öbers und ünders Dorf  eingeteilt war...

In lauen Sommernächten schallte das unermüdliche Quakkonzert  der zahllosen Frösche, die diese Tümpel bevölkerten, durch den stillen, nachtdunklen Ort und raubte der müden Einwohnerschaft den wohlverdienten Schlaf.

Dicht am unteren See stand das Millich-Benkla, ein großer Tisch aus stabilen Bohlen, die auf vier gemauerten Pfeilern ruhten. Allmorgentlich standen darauf die ordentlich aneinandergereihten, grün nummerierten Milchkannen. An der jeweiligen Anzahl der Behälter konnte man leicht ersehen, wieviel Stück Melkvieh der betreffende Bauer im Stall stehen hatte. 
Mit der ihm eigenen Routine wuchtete der Millichbauer (Milchkutscher)   die Kannen  schwungvoll herunter auf seinen Wagen, mit dem er anschließend seine scheppernde Fracht zur Sammelstelle karrte.
Jeden Morgen weckte mich der nörgelige Klang seines Schleppers. Solange ich mich erinnern konnte, hörte dieser sich an, als läge er gerade in den letzten Zügen. Ich wartete förmlich darauf, daß die Zugmaschine gleich im nächsten Moment ihre schmierölstinkende Dieselseele aushauchen würde. 

 Wenn der Milchfahrer im Winter manchmal Verspätung hatte, und das Wetter wirklich ganz und gar unerträglich war, zeigte er sich gelegentlich gnädig und lud die Schulkinder, die täglich mehrere Kilometer zum Nachbarort tippeln mußten, auf seinen Wagen und ließ sie mitfahren.  Das passierte aber wirklich so selten, daß es einem direkt wie ein Festakt vorkam, sich angelehnt an die kühlen Blechbehältnisse auf dem ungefederten Gefährt durchschütteln zu lassen. Aber wie schon das alte Sprichwort sagt: "Besser schlecht gefahren, als gut gelaufen!" Für diese Ehre nahm man auch liebend gerne eine marmorierte Sitzfläche in Kauf.    
 Der „öber Sii“ (oberer See) schmiegte sich in leichtem Halbkreis in eine strauchbewachsene steile Böschung und roch deutlich nach Jauche. Zur erhöht liegenden  Dorfstraße hin war er mit einer aus langen Stangen bestehenden Umschrankung gesichert.
Nach Aussage der Erwachsenen sollte das Gewässer ein grauenvolles Ungeheuer beherbergen, das sie den "Heeglfruusch", oder auch "Heeglmoo" (Hakenmann – Frosch) nannten.
Er würde, so sagten sie, heimtückisch kleinen Kindern auflauern, die sich alleine zum See hin wagten, sie mit seinem langen Haken greifen und in die Tiefe ziehen. Und nichts und niemand könne sie dann mehr retten!

Allen Warnungen zum Trotz stand ich, die damals Fünfjährige, wieder und wieder eigensinnig gegen das Geländer gelehnt. Voll gespannter Erwartung und heimlichem Schauder hoffend, daß das Monster nur ein einziges Mal aus dem stillen, grünen  Wasser auftauchen und sich zeigen möge. 
Geduld war jedoch noch nie meine Stärke und so begann ich schon recht bald, Steine ins Wasser plumpsen zu lassen, um diesen lahmen Häkelfrosch mal ein wenig auf Trab zu bringen, weil mir das halt gar zu lange dauerte. 
Aber statt des erwarteten Grusels bekam ich bloß immer warnende Zeigefinger zu sehen, wenn mich ein Großer dabei ertappte, oder es gab gleich gar was auf den "Bobbers" (das Hinterquartier), um der Mahnung noch ein wenig mehr Nachdruck zu verleihen.

..die vielen Gänse scheinen meinem Dörfchen wohl den Namen gegeben zu haben..
Aber mehr verrate ich nicht, ein bißchen Spannung muß ja auch sein..

liebe Grüße
Annie
Annie Krug, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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