Gert Podszun

Selbsterkenntnis

Die Hotelhalle ist leicht verdunkelt. Der wolkenbedeckte Himmel lässt nur phasenweise das Licht der Vormittagssonne durch. Elsa Blenn kommt mit ihrer Strandtasche aus dem Aufzug und hält nach wenigen Schritten inne. Noch während des Frühstücks, welches sie auf der Terrasse zu nehmen gewöhnt ist, schien die Sonne wärmend auf ihren Rücken. Jetzt das.

Immerhin ist es nicht ganz dunkel. Hin und wieder strahlt ein Bündel Sonnenwärme durch die in östliche Richtung ziehende Wolkenschar und gibt Hoffnung auf einen weiteren angenehmen Ferientag.

 

Elsa Blenn hat mit Wellnessprogramm gebucht. Ihr körperliches, geistiges und seelisches Wohlbefinden  solle im Rahmen dieses Programmes während ihres Urlaubs auf höchstes Niveau gebracht werden. Ihr Selbstwertgefühl werde deutlich aufgebessert, so hat sie es aus dem Prospekt behalten. Weiter hat sie über das Selbstwertgefühl gelernt: es besteht in der Einschätzung der eigenen Person, der eigenen Fähigkeiten und der Abschätzung des eigenen Wertes innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft  Daraus hat sie abgeleitet: Es geht nicht nur um mein Wohlbefinden, sondern auch um mich innerhalb der Gemeinschaft, in er ich mich befinde. Also muss ich sehen,  wie mich die anderen sehen. Diese Forderung war ihre Erkenntnis. Heißt es nicht „sehen und gesehen werden“?

Zögernd was nun zu tun sei, schaut sie nach den Wolken, den hin und wieder hernieder leuchtenden Sonnenstrahlbündeln und auf die durch die Hotelhalle gehenden, schlurfenden oder eilenden Mitbewohner.

Es wird noch zu früh sein, jetzt zum Pool zu gehen. Gestern gab es am Nachmittag auch schöneres Wetter. Das wird heute auch so sein. Der nächste Wellnesstermin ist erst am späten Nachmittag. Kaffee habe ich auch genug getrunken.

 

Robert kennt sich mit Digitalkameras aus. Er hält die von Elsa Blenn begutachtend in seinen Händen.

Ja, ich kann damit umgehen.

Haben Sie ein wenig Zeit?

Elsa Blenn möchte ihre Chance nutzen.

Kommen Sie bitte mit, es gibt einen windstillen Platz. Zeigen sie mir, wie andere mich sehen. Damit ich sehe.

 

 

Robert kennt Elsa Blenn nicht. Er ist auch Hotelgast und hat für heute noch keinen Plan. Warum soll er der Dame keinen Gefallen tun? Sie wird etwa 47 Jahre alt sein. Reif. Dunkelblondes Haar, erste Ansätze von Grau. Vollbusig, in einen luftigen Pareo gehüllt, Bluse und Shorts, Flip-Flops. Die unvermeidbare Handtasche. Alles Ton in Ton.

Robert hat seine Beobachtung hinter ihr her gehend gerade abgeschlossen, als sie den im Windschatten liegenden Terrassenbereich erreicht haben, der üblicherweise erst nachmittags zur Kaffee- oder Teezeit genutzt wird.

Machen Sie einfach ein paar Bilder. Ich will sehen, wie andere mich sehen, Und ich kann mich nicht von allen Seiten sehen.

Elsa legt ihre Tasche auf einen der am Terrassenrand stehenden Stühle und kehrt Robert den Rücken zu.

Er beobachtet die fremde Frau durch das Display und füllt den Speicher der Digitalkamera mit den ersten digitalen Informationen über verschiedene Ansichten von Elsa.

Vielleicht legen Sie auch den Pareo zur Seite.

Sie haben Recht. Das ist ja immer noch meine Verhüllung.

Ihre Bluse ist aus durchsichtigem Stoff. Während sie mit nach oben ausgestreckter Hand  den Pareo in Richtung Stuhl fliegen lässt beobachtet Robert, dass die Wölbung ihres Busens auch aus der Rückenansicht zwischen niedergehendem Arm und Körper zu sehen ist. Digital konfirmiert.

Elsa dreht ihren Körper kokett weiter.

Robert zoomt die Nackenhärchen in den Speicher.

Es ist wie das Betrachten einer traumhaften Hügellandschaft, diese  reife Frau anzuschauen. Robert hält in seiner Betrachtung kurz inne.

 

Durch die Bluse schimmert der Verschluss des Büstenhalters. Den kann Mann mit einer Hand öffnen.

Robert verharrt erneut mit leuchtendem Blick, geht einen Schritt nach vorne, die Kamera mit dem notwendigen Abstand vor sein Gesicht haltend.

Sein Fotoopfer verschwindet aus dem Display und Robert sieht die Farben des Pareos zur Trägerin zurückfliegen.

 

Dankeschön.

 

Die Sonne hat die Wolken verdrängt.

 

Wir sollten gelegentlich einen Drink zusammen nehmen.

 

Ja.

 

Sie nimmt ihre Digitalkamera aus der noch ausgestreckten Hand von Robert und legt sie in ihre Tasche zurück. Er  hört nur kurze Zeit dem Klatschen der Flip-Flops zu.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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