Silke Bork

Brot und Spiele 2006

Gedankenverloren blättert er in seinem Terminplaner. Nur noch eine Woche, jubelt es in ihm, bloß sieben Tage noch – nicht zu fassen! Er weiß gar nicht mehr, wie lange er den Countdown nun schon mitzählt. Ein Jahr vielleicht? Oder länger noch? Egal, jetzt wird es langsam greifbar, fassbar für ihn, das große Ereignis, für das er seinen gesamten Resturlaub nehmen wird: Die Fußball WM. – Oder halt, darf man das heutzutage überhaupt noch so offen aussprechen? „Fußball WM“ - gibt es da nicht juristische Streitereien, in denen die FIFA behauptet, diese Bezeichnung sei geschützt? Irgend so was hat er vorhin doch auf der Heimfahrt von der Arbeit mit halbem Ohr in den Radionachrichten aufgeschnappt. Doch dann ist er in den allabendlichen Stau auf der Autobahn geraten und konnte sich nicht mehr auf den Nachrichtensprecher konzentrieren, war vollauf damit beschäftigt, seinen Platz auf der linken Spur gegen die elenden Drängler zu verteidigen. Nun denn … Nur noch sieben Tage! Der Gedanke macht ihn geradezu nervös vor freudiger Erwartung. Zum Glück hat er vorgesorgt, ist also bestens vorbereitet:

Am Autofenster flattert schon die deutsche Fahne, für die er sich ausnahmsweise einen Kasten Bitburger gekauft hat, obwohl er sonst Kölsch bevorzugt. Doch bei Bitburger gibt’s das Fähnchen jetzt als kostenlose Dreingabe, daran konnte er im Real-Markt einfach nicht vorbei. Und ein Bit schmeckt schließlich auch ganz ordentlich, findet er.

Sein Panini-Sammelalbum ist seit gestern auch komplett, da hat er nämlich den Lehmann bekommen, das letzte Klebebild, das ihm noch gefehlt hat, getauscht gegen Podolski und Ronaldinho im Doppelpack. - Mann, das muss man sich mal vorstellen: den Lehmann gegen Poldi UND Ronaldinho! Aber die beiden hat er jeweils dreifach gehabt, zu viel des Guten.

Der „Teamgeist“ schwebt schon seit Wochen in seinem Wohnzimmer, genau gesagt: Er thront stolz und blank poliert in der Wohnzimmervitrine, samt Spielerautogrammen. Nur dass der Kuranyi auch drauf unterschrieben hat, stört ihn ein bisschen.

Und last but noch least: Beim Öffnen des Kühlschranks ertönen die berühmten Sätze aus dem Originalkommentar des Endspiels von 1954 aus einer kleinen Fußballkugel. Wenn das mal keine Einstimmung auf die Weltmeisterschaft ist!

Doch das Beste kommt noch: Er wird sich jedes Spiel anschauen, wirklich jedes einzelne, und zwar nicht allein zuhause, nein, weit gefehlt. Er hat sich eine Dauerkarte für sämtliche Spiele besorgt, sich einen Tribünenplatz gesichert, immer schön in der Mitte, natürlich überdacht. Hat ihn eine gehörige Stange Geld gekostet, aber dafür verzichtet er dieses Jahr ja auf den Mallorca-Urlaub. Impossible is nothing, denkt er lächelnd. – Woher kennt er diesen Spruch doch gleich noch mal? Egal, Hauptsache, er hat seinen Platz, bei jedem Spiel. Und die Stimmung wird bombastisch sein, besonders bei den Deutschland-Spielen - er sieht es schon genau vor sich: Er wird seinen Schal tragen, die große Deutschlandfahne mitnehmen und das Ballack-Trikot anziehen. Das hat er schon voriges Jahr in der Türkei für die Hälfte des offiziellen Preises gekauft, der kluge Mann baut eben vor. Natürlich kein Original, aber das darf man nicht so eng sehen. So ausstaffiert wird er auf seinem Tribünenplatz sitzen, zwar umringt von Fremden, aber dennoch Gleichgesinnten, die mit ihm hoffen, zittern, bangen und hoffentlich überwiegend jubeln werden. Ach ja, und ein Vorrat an Videokassetten liegt auch schon bereit, für die ganzen Serien, die er in den kommenden Wochen verpassen wird. Da kann der Sommer seinetwegen ruhig ins Wasser fallen, nach der WM wird er zu Hause vor dem Fernseher genug nachzuarbeiten haben. Und während der WM kann’s von ihm aus auch so weiter regnen wie bisher, er hat ja seinen überdachten Tribünenplatz.

Echt toll, dass die Stadt so was anbietet, denkt er, lässt da auf den Münsterplatz ein kleines, eingezäuntes „Stadion“ errichten, Dauerkarte für 659,- Euro, Mitte, überdacht natürlich, inklusive Eröffnungsfeier, Wahnsinn! Nur noch sieben Tage …Schade bloß, dass er niemanden hat, mit dem er die Spiele gemeinsam ansehen könnte.


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Silke Bork, 2006
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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