Silke Bork

Nairobi

In Kenya führen die meisten Wege nach Nairobi. „Ewaso Nairobi“ – „Ort des kalten Wassers“ in der Sprache der Maasai, bei Touristen auch bekannt als „Stadt der Sonne“ oder im negativen Sinn als „Nairobbery“. Für mich inzwischen eine Art Zuhause. Eben weil so viele Wege nach beziehungsweise via Nairobi führen. Man kommt öfters hin, als einem lieb ist - und dann doch wieder viel zu selten. Zum Beispiel wenn einem auf dem Land nach wochenlangem Ugali*-Essen der Appetit vergangen ist und man alles geben würde für den Luxus einer Pizza, einem leckeren indischen Gericht oder einfach für etwas, das wirklich schmeckt und auch Genuss bedeutet, statt sich auf bloße Nahrungssaufnahme und Energiezufuhr zu reduzieren. Oder wenn man so gern mal wieder abends ausgehen würde, in ein Kino vielleicht, oder in eine richtige Disco, dann sehnt man sich nach der Hauptstadt, nach Nairobi; dem einstigen Streckenposten der Eisenbahnlinie, der unplanmäßig zu einer permanenten Siedlung gewachsen ist und anschließend umso planmäßiger und schneller zur Großstadt entwickelt wurde. Zu stark verschandelt, zu rücksichtslos segregiert, zu viele hoffnungsvolle Seelen angelockt und enttäuscht, Hauptstadt ohne richtigen Charakter - das alles ist Nairobi. Aber zumindest leben die Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen hier besser als in ihren Heimatländern.

Als ich zum ersten Mal im Flugzeug in Nairobi ankam, starrte ich im Landeanflug gebannt auf den Monitor, der die technischen Daten des Fluges wiedergab: Uhrzeit, Außentemperatur, Entfernung zum Ziel, Fluggeschwindigkeit und nicht zuletzt die Höhe über dem Meeresspiegel. Irgendwie schien da etwas nicht zu passen: Es waren nur noch wenige Minuten bis zur Landung, doch die Flughöhe betrug noch über zweitausend Meter. „Oh Gott, das darf doch nicht sein, wir stürzen ab“, ging es mir durch den Kopf. - Ich Ignorant. Natürlich stürzten wir nicht ab. Stattdessen landeten wir sanft auf dem Boden, die Höhe wurde mit 1.660 m üNN angezeigt. Ach ja, richtig, Nairobi befindet sich auf einem Hochplateau, erinnerte ich mich beschämt.
In der Ankunftshalle lauerten Taxi- und Hotelschlepper. Ich entschied mich willkürlich und ließ mich zu einem klapprigen Peugeot auf dem Parkplatz führen. Nachdem mein Gepäck verstaut war und ich auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, verschwand auf einmal der Fahrer. Wie sich rasch klärte, musste er „mal eben noch“ eine Autobatterie besorgen … Ich wartete eine gute halbe Stunde, bevor wir losfahren konnten. Das ist eben Afrika, dachte ich mir. Je eher man sich an das Unvorhersehbare gewöhnt, desto besser.

Erreicht man Nairobi auf dem Landweg im Nachtbus von Mombasa oder aus dem Landesinnern, ist es meist noch mitten in der Nacht. Die Stadt ist schwarz und kalt, vor den Geschäften sind Rollgitter herunter gelassen, alles schläft, manche auf der Straße. Eine schmale Seitenstraße zwischen Accra und Latema Road besteht nur aus Müllbergen. Vereinzelt huschen dunkle Schatten um die Ecken, vielleicht Nachtwächter, vielleicht auch nicht, wer weiß - Nairobbery …
Der Bus hält in der River Road. Einige der Insassen werden abgeholt, alle anderen holen rasch ihr Gepäck ins Businnere und bleiben auf ihren Plätzen sitzen, warten, dösen, schlafen bis die Sonne endlich aufgeht. Erst dann gilt es als sicher, auszusteigen. Bei Tag ist die River Road eine quirlige Straße mit vielen Einzelhandelsgeschäften, einfachen Unterkünften, einigen Restaurants und Bars, nahezu ausschließlich in der Hand geschäftstüchtiger Inder. Hier habe ich mir nach leidvoller Erfahrung abgewöhnt, eine Armbanduhr zu tragen. Dennoch zieht es mich immer wieder in dieses Viertel. Vielleicht, weil mir seit jeher das Bahjia-Gericht beim Inder in der Accra Road so gut schmeckt. Vielleicht auch, weil ich dort so gerne in Erinnerungen schwelge, an meine erste Zeit in Nairobi, die Übernachtungen in den Billigunterkünften in der Dubois Road, manchmal nur bessere Stundenhotels, doch für hart gesottene Gemüter auch mit einem gewissen Charme verbunden.

Ich verbringe einen Tag in der Stadt, spaziere durch das überschaubare Zentrum, gehe alt bekannte Wege, um zu sehen, was sich verändert hat, gehe neue Wege, um Neues zu entdecken. Vor dem Aussichtsturm am Kenyatta Conference Center bleibe ich stehen, kann der Versuchung nicht widerstehen und fahre im Aufzug in den 27. Stock. Von dort aus führt eine Treppe zu einer Aussichtsplattform. Schade, der Himmel ist zu stark bewölkt. An klaren Tagen kann man auf der einen Seite bis nach Tanzania zum Kilimanjaro, auf der anderen bis zum Mt. Kenya sehen. Ich lasse den Blick über die Hochhäuser und Wellblechdächer unter mir wandern bis hin zum National Stadium. Dahinter erstreckt sich gelbe Savanne scheinbar endlos bis zum Horizont – Maasai Land, beginnend mit dem Nairobi National Park. Kaum vorstellbar, dass in so unmittelbarer Nähe zur Stadt bereits Zebras, Giraffen, Löwen und Nashörner in freier Wildbahn leben.
Ich wende mich nach Westen, dort liegt der Uhuru* Park mit seinem See. In der Ferne erkenne ich die Ngong-Berge, einstige Heimat Karen Blixens, beschrieben in ihren Erinnerungen „Jenseits von Afrika“. Der Ort am Fuße der Hügelkette ist nach ihr benannt: Karen. Auch ich liebe die Ngong-Berge. Einer Sage nach soll ein Riese aus dem Süden kommend über den Kilimanjaro gestolpert und hingefallen sein, wobei er seine Fingerknöchel tief in die Erde grub – die Ngong-Berge waren entstanden. Eine andere besagt, die Hügel seien aus dem Erdenstaub, den Gott sich aus den Fingernägeln kratzte, nachdem er die Erde erschaffen hatte. Ich mag afrikanische Mythen.

Mittagszeit. Die Jeevanjee Gardens laden mit ihren schattigen Bänken unter duftenden Blüten hunderte schick gekleideter Büroangestellter zu einer Pause im Freien ein. Elstern krächzen, Straßenhändler verkaufen Essen und Getränke, ein Laienprediger versammelt eine Menschenmenge um sich, einige Anzugträger dösen auf dem verdorrten Rasen. Es ist heiß geworden in Nairobi. Ich kann nicht anders, ich muss zu meinem Inder in der Accra Road. Die Bahjia schmecken wie immer köstlich. Genüsslich kauend beobachte ich das bunte Treiben draußen auf der Straße, ignoriere das zischelnde “Ks, ks“ der an meinem Tisch vorbeiziehenden fliegenden Händler, die Feuerzeuge, Taschenrechner, Kugelschreiber und Armbanduhren (- … Nairobbery?) feilbieten.

Nachmittag in Nairobi. Ich verbringe ihn gern am Swimming Pool des YMCA. Außer mir sind einige wazungu*, aber viel mehr Afrikaner anwesend, vor allem Kinder und junge Leute. Kenya ist ein junges Land. Die wazungu grillen träge in der Sonne vor sich hin, die afrikanischen Kids amüsieren sich im Wasser. Ich amüsiere mich dabei, ihnen zuzusehen. Die meisten von ihnen scheinen nicht schwimmen zu können, halten sich aber irgendwie lachend über Wasser. Und das in einem Land mit so viel Meeresküste. Aber dennoch charakteristisch für Afrika: Sich furchtlos irgendwie über Wasser halten. Lachend. Wir könnten einiges von ihnen lernen.

Dämmerung. Im Handumdrehen wird es dunkel sein. Nairobbery … Ich gehe die Haile Selassi Road hinunter und je weiter ich mich von der Moi Avenue entferne, desto armseliger, schmutziger und stinkender wird es um mich herum. Zerlumpte Gestalten kommen mir entgegen, schwere Bündel auf den mageren Schultern schleppend. Der benachbarte Markt verbreitet einen unglaublichen Gestank. Mundatmung ist angesagt. Aus einer heruntergekommenen, eingezäunten Wohnsiedlung sickert schmutziges, stinkendes Wasser, mit dem man tunlichst nicht in Berührung kommen möchte. Abrupt kehre ich um.

Das Hauptgeschäftszentrum rund um das Hilton Hotel hat sich inzwischen geleert, nur wenige sind noch zu Fuß unterwegs: Touristen auf der Suche nach einem guten Restaurant, die ersten Nachtwächter beziehen Stellung, die Bettler sind noch da, ebenso die Straßenkinder, die sich wie räudige Hunde zusammenrotten, um im Kollektiv Klebstoff zu schnüffeln. Schwere, schwarze Ambosswolken hängen im noch schwach durchschimmernden Abendrot über der Stadt. Ich könnte ein Taxi nehmen und ins Carnivore fahren, einem außerhalb gelegenen Restaurant, in welchem die Wildtiere, die man am tagsüber auf Safari gesehen hat, auf der Speisekarte angeboten werden. Eine Disco gibt es dort auch. Doch ich bin weder hungrig noch in Tanzlaune, meine Beine sind schwer vom vielen Gehen. Ich könnte auch ins Kino gehen, wo vor jedem Film die Nationalhymne gespielt wird und das Publikum während des Films so schön emotional mitgeht: Kollektives Seufzen, Aufstöhnen, Aufschreien oder das im Land weit verbreitete, je nach Situation tadelnd oder bedauernd gemeinte „ts ts ts“.
Unentschlossen schlendere ich in Richtung River Road, wo die Rush-hour noch andauert. Der aufkommende Wind lässt mich trotz meiner Jacke frösteln. Bunt beleuchtete Kleinbusse mit dröhnendem Reggae- oder Hiphop-Beat füllen sich mit Fahrgästen, die Terrasse meiner Lieblingskneipe scheint bereits voll besetzt. Jetzt ein Tusker baridi*, kommt es mir in den Sinn. Eine kleine schwarze Hand schiebt sich plötzlich in meine, große, dunkle Augen sehen mich bittend an. Der Kleine ist höchstens vier, sein T-Shirt zerlumpt und löchrig, die Jeanshose zu groß und verdreckt, die Füße sind bloß, der Asphalt Nairobis wird nachts bitter kalt. Was kann ich tun? Ich kenne das Für und Wider zur Genüge, doch ich kann nicht anders und drücke ihm ein paar Shillinge in die Hand. Im Nu ist der Knirps um die nächste Ecke verschwunden. Wird er sich Klebstoff besorgen oder etwas zu essen?

Ein Tag in Nairobi geht zu Ende. Müde steige ich die Treppe zur Terrasse empor. Von oben schallt dröhnendes Gelächter herab. Einige Gäste scheinen bereits angetrunken zu sein. Noch bevor ich sie sehe ahne ich, dass ihr Tisch voll sein wird mit sowohl leeren als auch mit noch vollen Tusker-Flaschen. Hier wird nichts zu abgeräumt, schließlich soll jeder sehen können, wie viel man sich leisten kann, dass man kein armer Schlucker ist. Morgen Vormittag wird der Akamba-Bus mich wieder aufs Land bringen. Irgendwie freue ich mich auch wieder darauf – auf die sanft gewellte Hügellandschaft, das frische Grün der Teeplantagen, das rot der Erde, die freundlichen Bauern. Doch ich weiß, bald werde ich die Stadt doch wieder aufs Neue vermissen.

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Fußnoten:

Ugali……………Maisbrei
Uhuru…………. Unabhängigkeit
Wazungu………Weiße, Europäer
Tusker------------Kenyanische Biersorte
Baridi………….kalt

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Silke Bork, 2006

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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