Helmut Hafner

Das Ekelpaket

Es klingelte an der Tür. Tony Nachreiner, der in der einen Hand sein Brötchen hielt und mit der anderen nach seinem Sakko fingerte, öffnete. Aber es war niemand da, Tony hörte nur noch leiser werdende Schritte. Als er zum Treppenaufgang gehen wollte, wäre er beinahe über ein Paket gestolpert. Das hatte der Unbekannte offensichtlich zurück gelassen.

 

Das Paket erregte Tonys Aufmerksamkeit, denn es trug keinen Absender. Hastig durchtrennte er mit seinem Frühstücksmesser die Schnur und befreite den Karton von dem unansehnlichen Papier. Zum Vorschein kam ein ganz normaler weißer Schuhkarton. Nichts als ein dämlicher Schuhkarton! dachte Tony. Eine Bombe schien nicht drin zu sein, denn Bomben pflegen nicht zu stinken. Und es stank fürchterlich. Nach Fisch! Ein toter Karpfen, oder besser gesagt dessen Kopf, mit weit aufgerissenen Augen starrte Tony entgegen. Aber was hatte der im Maul? Tony holte den kleinen Zettel heraus.
"Du wirst dem Fisch bald Gesellschaft leisten!" Die sieben Worte reichten, um Tony völlig aus der Fassung zu bringen. Mit der sonst zur Schau getragenen Coolness war es mit einem Mal vorbei. Der Gestank, der ihn eben noch unsäglich nervte,
war ihm plötzlich egal. Tony stand auf, ging einmal um den Küchentisch herum und begutachtete den ekelhaft riechenden Guten-Morgen-Gruss. Er zermarterte sich das Hirn. Wer zum Henker wollte ihm hier einen Schrecken einjagen? Vielleicht war es auch nur ein schlechter Scherz? Nichts weiter als ein Fischkopf und diese beknackte Nachricht. Dabei hatte er eigentlich gar keine Zeit, großartig über die merkwürdige Paketsendung nachzudenken. Er musste ins Büro.

 

Geistesabwesend zog er sich seine Schuhe an und steckte die Haustürschlüssel ein. Während er auf den Aufzug wartete, überlegte er weiter. Obwohl es um diese Tageszeit im Treppenhaus normalerweise recht kühl ist, begann er zu schwitzen. Er drückte auf UG.
Die Tiefgarage befand sich im Untergeschoss. Plötzlich stoppte der Fahrstuhl. Tony zuckte unwillkürlich zusammen. Doch es stieg nur Frau Morgenstern, eine Mitbewohnerin aus dem dritten Stock, zu.
In Gedanken war er wieder bei dem Paket mit dem Fischkopf.
"Ja, natürlich. Jetzt wird mir das klar. Gottlieb Pfeilstifter, der alte Fischkopf!"
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es kam nur einer in Frage, der ihm das Paket geschickt haben konnte. Ein früherer Klassenkamerad von Tony. Er hieß Gottlieb Pfeilstifter. Ein kleiner, dicklicher Junge, der nie Anschluss fand. Dafür sorgte hauptsächlich Tony. Er hänselte ihn, wo er nur konnte. Vor dem Schuleingang, im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof. Er riss ihm die altmodische Hornbrille mit den dicken Gläsern herunter, verspottete ihn ständig wegen seiner roten Haare und sorgte dafür, dass er keinen Fuß auf die Erde bekam. Tony war damals Anführer der "Bloodhound Gang" und die Bandenmitglieder machten noch nicht einmal vor Gottliebs Haustüre Halt. Er wurde mit anonymen Anrufen bombardiert und selbst sein Fahrrad klaute man ihm aus dem Hausflur. Einmal allerdings gingen sie zu weit.

 

Tony hatte wieder mal eine spitzenmäßige Idee, wie man dem blöden Fischkopf eins auswischen konnte. Er verschanzte sich mit einem seiner Kumpane hinter einem Baum, der neben einem Fahrradweg stand, den Gottlieb täglich benutzte. Sie hatten einen Strick dabei. Das eine Ende verknoteten sie an einer Zaunlatte, das andere hielt Tony in der Hand. Als Gottlieb mit seinem Rad um die Ecke bog, pfiff Tonys Kumpel zweimal kurz und in dem Moment riss Tony den Strick hoch. Der arme Gottlieb wurde regelrecht aus dem Sattel katapultiert. Bei dem Sturz zog er sich eine schwere Knieverletzung zu; das linke Bein blieb steif.
Obwohl man sofort Tony und seine Gang in Verdacht hatte, konnte man ihnen nichts beweisen. Die Sache verlief im Sand. Der Junge zog mit seinen Eltern damals in eine andere Stadt. Und keiner hörte mehr irgend etwas von Gottlieb Pfeilstifter.
Tony musste unwillkürlich lachen, als er die Bilder wieder vor sich sah. Gottlieb Pfeilstifter war wirklich das geborene Opfer. Und der schickte ihm jetzt einen toten Fisch. Zum Totlachen!

 

Wie von einer Last befreit, legte er die letzten Meter zu seinem roten Flitzer zurück. Lässig klemmte er sich hinter das Lenkrad und drehte den Zündschlüssel. Damit löste er den Zündmechanismus der Autobombe aus.
Frau Morgenstern, die gerade die Ausfahrt erreichte, hörte noch einen lauten Knall und sah im Rückspiegel wie Tonys Wagen in Flammen aufging.

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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