Thomas Ulrich

Das ist Deutschland

Seit Tagen war ich nun unterwegs. Hamburg, München, Bremen. Das Plastikessen der Bahngesellschaft hing mir bereits gehörig zum Hals raus.
Am Fenster flog wieder eine dieser namenlosen Städte vorbei. Graue Häuserfassaden vermischten sich mit dem Grau des wolkenverhangenen Himmels.
Wohin ging es heute? Ich schaute auf meine Notizen, die fein säuberlich auf dem Stapel von Manuskripten lagen, die ich während der Zugfahrt hatte bearbeiten wollen.
Potsdam. Der goldene Osten, wie meine Schwester zu sagen pflegte. Ich stellte mir immer goldene Häuserkuppeln vor, wenn ich an den goldenen Osten dachte, wie in Prag. Oder das goldene Zeitalter. Nur wenige Menschen konnten mit diesem Begriff etwas anfangen und ich, als Leser der Metamorphosen, war einer unter ihnen. Tja, wenn wir mit einem goldenen Zeitalter angefangen haben, wo waren wir dann heute?
Ein Blick auf die Zeitung nebenan half nur unmerklich weiter. Die Ehefrau irgendeines Fußballers hatte sich umgebracht. Vermutlich, weil sie mit dem Druck, den die Gesellschaft auf sie, da sie nur noch die zweite Frau des zweiten Geigenspielers im Kader war, ausübte. Die gesamte Mannschaft war betroffen. Ganz Deutschland zeigte sich betroffen.
Mich hingegen ließ die Nachricht vollkommen kalt. Die ganze Fußball-WM hing mir jetzt schon zu den Ohren raus. Am Freitag würde es losgehen und überall waren die Autos mit Flaggen geschmückt, die Kinder auf den Straßen mit schwarzrotgelber Schminke verunstaltet. Zahnlose Grinsefratzen, überall gleich. Hamburg, München, Bremen und in Potsdam wahrscheinlich auch.
Der Regen prasselte noch heftiger gegen die Scheibe des ICEs. Ich hasste es, zu verreisen, aber so wie es aussah, würde ich mein ganzes Leben im Transit verbringen. The Modern Way of Life. Wie meine Freunde es heutzutage nannten. Denglisch. Der Begriff erschien irgendwie passend. In der Schule kannte ich einen Spinner, der sich dem Verein zum Erhalt der deutschen Sprachkultur angeschlossen hatte. Damals hielt ich ihn für einen armen Irren. Heute sah ich meine Annahme  bestätigt.
Mehr Häuser. Auf den Straßen waren kaum Menschen zu sehen. Ich musste mich an die Schlagzeile der FAZ erinnern. Ausländern war ausdrücklich davon abgeraten worden, ihr Quartier im Osten Deutschlands zu beziehen. Zuzüglich zu den Flaggenwagen fehlte eigentlich nur noch der Fackelmarsch, um ungeliebte Assoziationen von einst wieder in den Köpfen entstehen zu lassen.
Ich frage mich immer wieder, was Menschen dazu treiben kann, ihr Gegenüber mit solcher Konsequenz zu hassen. Vor allem aus so einem niederen Beweggrund wie einer unterschiedlichen Hautfarbe. Aufgrund der modernen Selbsterfahrung schob ich es auf die psychologischen Selbsterkenntnisse. Man kann solche Vorgänge sicher auch in der freien Natur beobachten. Niedere Primaten haben auch Angst vor ihrem Spiegelbild, warum sollte es bei den Menschen anders sein? Aber dieser Fremdenhass war nur der Beginn der modernen Misere. Ich dachte an Niklas Luhmann und dessen Ausführungen zum Erwachen des modernen Individuums in der Neuzeit. Die französische Revolution. Segen oder Fluch? Wer dachte wohl sonst auf einer Zugfahrt von Bremen nach Potsdam über solche Dinge nach? Vor allem, wenn die Fußball-WM so nahe vor der Tür stand.
Manchmal überkommt es mich einfach. Ich könnte heulen. Warum? Vermutlich, weil ich mit meiner eigenen Situation nicht zufrieden bin. In solchen Momenten rede ich mir allerdings auch gern ein, dass ich meine Tränen für die Menschheit vergieße.
Fast ein religiöses Motiv. Jesus starb für uns alle. Oder nur für die Juden? Oder die Christen? Wer sind wir alle? Wer sind wir Deutschen? Habe auch ich, als dreißigjähriger, durchschnittlich gewachsener Mann eine Volksschuld zu tragen, die auf Ereignisse gute fünfundvierzig Jahre vor meiner Geburt zurückgeht? Du bist Deutschland? Aber was ist denn jetzt eigentlich Deutschland? Die Werbung konnte mir diese Frage nicht beantworten. Einmal war ich Johann Wolfgang (von) Goethe und ein andermal Beate Uhse. Wie viel haben diese beiden denn wirklich gemeinsam? Darf man Henning Boetius trauen, wenn er Goethe in seinen letzten Momenten von homosexuellen Gedanken durchfressen beschreibt? Ich denke eigentlich nicht. Aber selbst wenn, wen geht denn das wirklich etwas an? Sind die vielen Männer, die alljährlich ihren Christopher Street Day feiern, eher Goethe oder eher Beate Uhse. Was ist vor allem der Mann, der mir gegenübersitzt und unter seiner Zeitung ins Schnarchen verfallen ist?
Warum sind wir nicht dieser Fußballer? Dann hätten wir eine Ehefrau weniger. Tragisch. Aber interessieren tut mich das noch immer nicht. Welcher Deutsche wäre man denn überhaupt gern? Bismarck? Der vom Bösen überfallene, senile alte Mann, der in seinen  letzten Tagen angeblich gar nicht mehr gewusst hat, wem er dort seine Macht übergeben hat? Oder sind die negativen Seiten der Geschichte in dieser Kampagne eher ausgeklammert? Vermutlich. Wer wäre schon gerne Hitler? Ich sicherlich nicht. Vielleicht die Leute in Potsdam, die sich ihre Schädel so wunderbar rasieren und die doppelte und dreifache Lernschwächen aufweisen und in meiner Vorstellung nicht einmal ihren Namen schreiben können. Aber warum sollten sie auch? So wie sich mir die Sache darstellt, werden sogar solche Leute von unserem Sozialstaat über Wasser gehalten. Hat man hier etwa ein Zeichen für ein goldenes Zeitalter? Ist die Würde des Menschen unantastbar oder ist die Würde des Menschen überhaupt nur noch im privaten Rahmen zu erfahren?
Das Selbst im System. Heidegger. Das „Man“ und „Mit-anderen-sein“; ich bin noch immer erstaunt, an was für Dinge ich mich aus meinem Studium erinnere. Ich habe mich gern mit Philosophie beschäftigt und würde dies auch gern fortführen, doch mein Selbst ist irgendwann unterwegs im System untergegangen. Ein Blick auf die Manuskripte versichert mich der Anforderungen, die mein gegenwärtiges Leben zu erfüllen hat. Aber führten die Menschen im Mittelalter, die laut  den Sozialwissenschaften ihren festen Platz im System hatten und sich in keinster Weise behaupten mussten, wirklich ein besseres Leben? Ich bezweifele es. Allerdings kann man sich als moderner Mensch auch nicht vorstellen, wie das Leben damals ausgesehen haben könnte.
Sendungen wie „Die Alm“ oder „Die Burg“ oder andere peinliche Verfehlungen suggerieren der Öffentlichkeit zwar, dass auch moderne Menschen zu solch einem Leben fähig wären, aber ich glaubte diesen Darstellungen nicht eine Minute lang. Berühmtheiten. Ein weiteres Thema. In diesen einsamen Momenten, wenn ich wieder ganz Deutschland bin, und eine stille Träne für das Leid in der Welt vergieße, sende ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass die französische Revolution doch offensichtliche Änderungen im sozialen System zur Folge hatte. Bei uns Deutschen kommt hier natürlich noch der erste Weltkrieg zum Zählen und ergänzt die Rechnung um die zahlreichen Verfehlungen des Kaisers (also nicht des Beckenbauers, denn der war nie Kaiser und wird nie Kaiser sein, auch wenn seine Lenden auf der ganzen Welt genug Leute gezeugt haben, um ein kleineres Königreich zu füllen).
Wieder schweift mein Blick zum Fernseher, der Geißel des modernen Menschen. Ohne diese Medienhölle gäbe es doch gar nicht solche Leute wie Tatjana, Foffi und die anderen, die vermutlich auch irgendwie Deutschland sind. Nerdau hatte bereits im 19. Jahrhundert den Verfall der Adelsschichten vorhergesagt und auch heute noch sind diese Auswirkungen zu erkennen. Der dritte englische Thronfolger in SS-Uniform. Ist er etwa auch Deutschland? Tatjana und Foffi, die Richtung Italien ziehen. Sind sie nicht mehr Deutschland? Die Deutschen sind ja europaweit das klügste Volk. Ich frage mich, wie dumm die anderen Völker so sein müssen. Aber glücklicherweise arbeitet die derzeitige Regierung ja mit allen Mitteln daran, die einzige Ressource der Deutschen, die Intelligenz, kontinuierlich abzubauen. Erst gestern habe ich ein Gespräch mit der Vorsitzenden der Rektorkonferenz der Hochschulen verfolgen können. Es stimmt mich sehr traurig, dass sie der Zukunft des akademischen Deutschlands sogar noch pessimistischer entgegensieht als ich selbst. Aber so muss es wohl sein. Die Privatisierung der Unis wird früher oder später zum Untergang der akademischen Lebenswelt in Deutschland führen. Punkt, wie ein Freund von mir bei solchen Anlässen sagen würde.
Also soweit wäre wohl klar, dass Deutschland eher Beate Uhse ist, als Johann Wolfgang von Goethe. Vielleicht definiert man sich heutzutage ja eher über Körperlichkeit als über Geist. Wer weiß?
Die Wolken wurden dichter, je weiter ich Richtung Osten fuhr. Die Kampagne soll angeblich acht Milliarden Euro gekostet haben. Acht Milliarden Euro. Punkt. Geld, mit dem man so viel Besseres hätte anstellen können. Aber wo wir schon bei Geldverschwendung sind. Der Rasen, der zur WM in jedes Stadion eingeflogen werden musste, hat sicher auch einige Millionen gekostet. Aber wieso auch nicht? Zur französischen Revolution hat man der Oberschicht (sowohl finanziell wie auch von Geburt) bei der Abgabe ihrer Köpfe bejubelt. Heutzutage bejubelt man die Oberschicht (rein finanziell) eben bei der Abgabe ihres von indischen Kindesarbeitern zusammengeklebten Fußballs.
Auch das ist Deutschland.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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