Am Fenster flog wieder eine dieser namenlosen Städte vorbei.
Graue Häuserfassaden vermischten sich mit dem Grau des wolkenverhangenen
Himmels.
Wohin ging es heute? Ich schaute auf meine Notizen, die fein
säuberlich auf dem Stapel von Manuskripten lagen, die ich während der Zugfahrt
hatte bearbeiten wollen.
Potsdam. Der goldene Osten, wie meine Schwester zu sagen
pflegte. Ich stellte mir immer goldene Häuserkuppeln vor, wenn ich an den
goldenen Osten dachte, wie in Prag. Oder das goldene Zeitalter. Nur wenige
Menschen konnten mit diesem Begriff etwas anfangen und ich, als Leser der
Metamorphosen, war einer unter ihnen. Tja, wenn wir mit einem goldenen
Zeitalter angefangen haben, wo waren wir dann heute?
Ein Blick auf die Zeitung nebenan half nur unmerklich
weiter. Die Ehefrau irgendeines Fußballers hatte sich umgebracht. Vermutlich,
weil sie mit dem Druck, den die Gesellschaft auf sie, da sie nur noch die
zweite Frau des zweiten Geigenspielers im Kader war, ausübte. Die gesamte
Mannschaft war betroffen. Ganz Deutschland zeigte sich betroffen.
Mich hingegen ließ die Nachricht vollkommen kalt. Die ganze
Fußball-WM hing mir jetzt schon zu den Ohren raus. Am Freitag würde es losgehen
und überall waren die Autos mit Flaggen geschmückt, die Kinder auf den Straßen
mit schwarzrotgelber Schminke verunstaltet. Zahnlose Grinsefratzen, überall
gleich. Hamburg, München, Bremen und in Potsdam wahrscheinlich auch.
Der Regen prasselte noch heftiger gegen die Scheibe des
ICEs. Ich hasste es, zu verreisen, aber so wie es aussah, würde ich mein ganzes
Leben im Transit verbringen. The Modern Way of Life. Wie meine Freunde es
heutzutage nannten. Denglisch. Der Begriff erschien irgendwie passend. In der
Schule kannte ich einen Spinner, der sich dem Verein zum Erhalt der deutschen
Sprachkultur angeschlossen hatte. Damals hielt ich ihn für einen armen Irren.
Heute sah ich meine Annahme bestätigt.
Mehr Häuser. Auf den Straßen waren kaum Menschen zu sehen.
Ich musste mich an die Schlagzeile der FAZ erinnern. Ausländern war ausdrücklich
davon abgeraten worden, ihr Quartier im Osten Deutschlands zu beziehen.
Zuzüglich zu den Flaggenwagen fehlte eigentlich nur noch der Fackelmarsch, um
ungeliebte Assoziationen von einst wieder in den Köpfen entstehen zu lassen.
Ich frage mich immer wieder, was Menschen dazu treiben kann,
ihr Gegenüber mit solcher Konsequenz zu hassen. Vor allem aus so einem niederen
Beweggrund wie einer unterschiedlichen Hautfarbe. Aufgrund der modernen
Selbsterfahrung schob ich es auf die psychologischen Selbsterkenntnisse. Man
kann solche Vorgänge sicher auch in der freien Natur beobachten. Niedere
Primaten haben auch Angst vor ihrem Spiegelbild, warum sollte es bei den
Menschen anders sein? Aber dieser Fremdenhass war nur der Beginn der modernen
Misere. Ich dachte an Niklas Luhmann und dessen Ausführungen zum Erwachen des
modernen Individuums in der Neuzeit. Die französische Revolution. Segen oder
Fluch? Wer dachte wohl sonst auf einer Zugfahrt von Bremen nach Potsdam über
solche Dinge nach? Vor allem, wenn die Fußball-WM so nahe vor der Tür stand.
Manchmal überkommt es mich einfach. Ich könnte heulen.
Warum? Vermutlich, weil ich mit meiner eigenen Situation nicht zufrieden bin.
In solchen Momenten rede ich mir allerdings auch gern ein, dass ich meine
Tränen für die Menschheit vergieße.
Fast ein religiöses Motiv. Jesus starb für uns alle. Oder
nur für die Juden? Oder die Christen? Wer sind wir alle? Wer sind wir
Deutschen? Habe auch ich, als dreißigjähriger, durchschnittlich gewachsener
Mann eine Volksschuld zu tragen, die auf Ereignisse gute fünfundvierzig Jahre
vor meiner Geburt zurückgeht? Du bist Deutschland? Aber was ist denn jetzt eigentlich
Deutschland? Die Werbung konnte mir diese Frage nicht beantworten. Einmal war
ich Johann Wolfgang (von) Goethe und ein andermal Beate Uhse. Wie viel haben
diese beiden denn wirklich gemeinsam? Darf man Henning Boetius trauen, wenn er
Goethe in seinen letzten Momenten von homosexuellen Gedanken durchfressen
beschreibt? Ich denke eigentlich nicht. Aber selbst wenn, wen geht denn das
wirklich etwas an? Sind die vielen Männer, die alljährlich ihren Christopher
Street Day feiern, eher Goethe oder eher Beate Uhse. Was ist vor allem der
Mann, der mir gegenübersitzt und unter seiner Zeitung ins Schnarchen verfallen
ist?
Warum sind wir nicht dieser Fußballer? Dann hätten wir eine
Ehefrau weniger. Tragisch. Aber interessieren tut mich das noch immer nicht. Welcher
Deutsche wäre man denn überhaupt gern? Bismarck? Der vom Bösen überfallene,
senile alte Mann, der in seinen letzten
Tagen angeblich gar nicht mehr gewusst hat, wem er dort seine Macht übergeben
hat? Oder sind die negativen Seiten der Geschichte in dieser Kampagne eher
ausgeklammert? Vermutlich. Wer wäre schon gerne Hitler? Ich sicherlich nicht.
Vielleicht die Leute in Potsdam, die sich ihre Schädel so wunderbar rasieren
und die doppelte und dreifache Lernschwächen aufweisen und in meiner
Vorstellung nicht einmal ihren Namen schreiben können. Aber warum sollten sie
auch? So wie sich mir die Sache darstellt, werden sogar solche Leute von
unserem Sozialstaat über Wasser gehalten. Hat man hier etwa ein Zeichen für ein
goldenes Zeitalter? Ist die Würde des Menschen unantastbar oder ist die Würde
des Menschen überhaupt nur noch im privaten Rahmen zu erfahren?
Das Selbst im System. Heidegger. Das „Man“ und
„Mit-anderen-sein“; ich bin noch immer erstaunt, an was für Dinge ich mich aus
meinem Studium erinnere. Ich habe mich gern mit Philosophie beschäftigt und
würde dies auch gern fortführen, doch mein Selbst ist irgendwann unterwegs im
System untergegangen. Ein Blick auf die Manuskripte versichert mich der
Anforderungen, die mein gegenwärtiges Leben zu erfüllen hat. Aber führten die
Menschen im Mittelalter, die laut den
Sozialwissenschaften ihren festen Platz im System hatten und sich in keinster
Weise behaupten mussten, wirklich ein besseres Leben? Ich bezweifele es.
Allerdings kann man sich als moderner Mensch auch nicht vorstellen, wie das
Leben damals ausgesehen haben könnte.
Sendungen wie „Die Alm“ oder „Die Burg“ oder andere peinliche
Verfehlungen suggerieren der Öffentlichkeit zwar, dass auch moderne Menschen zu
solch einem Leben fähig wären, aber ich glaubte diesen Darstellungen nicht eine
Minute lang. Berühmtheiten. Ein weiteres Thema. In diesen einsamen Momenten,
wenn ich wieder ganz Deutschland bin, und eine stille Träne für das Leid in der
Welt vergieße, sende ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass die französische
Revolution doch offensichtliche Änderungen im sozialen System zur Folge hatte.
Bei uns Deutschen kommt hier natürlich noch der erste Weltkrieg zum Zählen und
ergänzt die Rechnung um die zahlreichen Verfehlungen des Kaisers (also nicht
des Beckenbauers, denn der war nie Kaiser und wird nie Kaiser sein, auch wenn
seine Lenden auf der ganzen Welt genug Leute gezeugt haben, um ein kleineres
Königreich zu füllen).
Wieder schweift mein Blick zum Fernseher, der Geißel des
modernen Menschen. Ohne diese Medienhölle gäbe es doch gar nicht solche Leute
wie Tatjana, Foffi und die anderen, die vermutlich auch irgendwie Deutschland
sind. Nerdau hatte bereits im 19. Jahrhundert den Verfall der Adelsschichten
vorhergesagt und auch heute noch sind diese Auswirkungen zu erkennen. Der
dritte englische Thronfolger in SS-Uniform. Ist er etwa auch Deutschland?
Tatjana und Foffi, die Richtung Italien ziehen. Sind sie nicht mehr
Deutschland? Die Deutschen sind ja europaweit das klügste Volk. Ich frage mich,
wie dumm die anderen Völker so sein müssen. Aber glücklicherweise arbeitet die
derzeitige Regierung ja mit allen Mitteln daran, die einzige Ressource der
Deutschen, die Intelligenz, kontinuierlich abzubauen. Erst gestern habe ich ein
Gespräch mit der Vorsitzenden der Rektorkonferenz der Hochschulen verfolgen
können. Es stimmt mich sehr traurig, dass sie der Zukunft des akademischen
Deutschlands sogar noch pessimistischer entgegensieht als ich selbst. Aber so
muss es wohl sein. Die Privatisierung der Unis wird früher oder später zum
Untergang der akademischen Lebenswelt in Deutschland führen. Punkt, wie ein
Freund von mir bei solchen Anlässen sagen würde.
Also soweit wäre wohl klar, dass Deutschland eher Beate Uhse
ist, als Johann Wolfgang von Goethe. Vielleicht definiert man sich heutzutage
ja eher über Körperlichkeit als über Geist. Wer weiß?
Die Wolken wurden dichter, je weiter ich Richtung Osten
fuhr. Die Kampagne soll angeblich acht Milliarden Euro gekostet haben. Acht
Milliarden Euro. Punkt. Geld, mit dem man so viel Besseres hätte anstellen
können. Aber wo wir schon bei Geldverschwendung sind. Der Rasen, der zur WM in
jedes Stadion eingeflogen werden musste, hat sicher auch einige Millionen
gekostet. Aber wieso auch nicht? Zur französischen Revolution hat man der Oberschicht
(sowohl finanziell wie auch von Geburt) bei der Abgabe ihrer Köpfe bejubelt.
Heutzutage bejubelt man die Oberschicht (rein finanziell) eben bei der Abgabe
ihres von indischen Kindesarbeitern zusammengeklebten Fußballs.
Auch das ist Deutschland.