Mika Reckinnen

Im Namen Gottes

Sie blickte erneut auf die Uhr
oberhalb des Durchgangs zur Küche. Noch eine halbe Stunde, dann hatte sie endlich
Feierabend. Die ganze Woche hatte sie auf diesen Tag hingearbeitet. Sie
überlegte kurz und dann stellte sie fest, dass sie selten an einem
Freitagnachmittag so nervös gewesen war. Damals als ihr Dylan sie das erste Mal
ins Kino ausführte war es ähnlich gewesen. Heute wartete allerdings kein
schnödes Kino, kein Becher Light-Cola und kein Popcorn auf sie. Nur noch fünf
oder sechs Kaffee für ein paar Fernfahrer, das war alles. Dann musste sie sich
beeilen.
Als sie sich ihren Mantel
übergeworfen hatte und aus dem warmen Cafe schnellen Schrittes gegangen kam,
traf sie die Kälte wie ein Schlag. Sie hatte ganz verdrängt, dass Winter war.
Schnee fiel aus den tiefhängenden Wolken und der Wind blies ihn ihr ins
Gesicht. Sie hatte für Schnee gebetet, sie liebte Schnee, doch musste es
unbedingt heute sein, lieber Gott?
Sie griff an das Kreuz um ihren
Hals, schloss die Augen und flüsterte „Gib mir die Kraft!“ in die Kälte und die
einsetzende Dunkelheit. Dann ballte sie die Fäuste, als hätte sie gerade das
olympische Damen-Tennisturnier gewonnen und bestätigte sich selbst, dass sie
das richtige tat. Am Pick-Up angekommen lachte sie schon ihre Sporttasche an
und mit einem prüfenden Blick vergewisserte sie sich, dass alles in ihr war, was
sie benötigte. Es konnte also losgehen.
Sie fuhr vorsichtig über die
glatten, teilweise gefrorenen Straßen in Richtung Boxhalle in Hypocritical-City.
Mehrfach starrte sie das Marienbild auf ihrem Armaturenbrett an, immer mit der
Unsicherheit, vielleicht doch das falsche zu tun. Doch es gab keinen Einspruch,
es gab keinen Einwand, im Gegenteil, irgendwie schien ihr Gott sie weiter
aufzuputschen. Sie musste heute gewinnen, nein, sie würde heute gewinnen.
An der Boxhalle angekommen sah
sie schon den roten Chevy von Dylan. Er wartete schon draußen auf sie. Sie
umarmten sich kurz und küssten sich auf den Mund. Noch drei Wochen, dann würden
sie heiraten und sie wünschte sich dann sehnlichst Kinder von ihm.
Ihm hatte sie es auch zu
verdanken, dass sie jetzt überhaupt hier war. Ein Arbeitskollege hatte ihm den
Flyer gezeigt: „Chicken-Fight – unprofessional Women-Fighter. No Rules, Fight
until you see a winner!“. Zu erst wollten sie nur als Zuschauer hin. Doch
nachdem Dylan ihr den Flyer gezeigt hatte, war es ihr klar. Es war ihre
Mission. Sie hatte sich schon immer durch ihr Leben schlagen müssen, immer
etwas mollig, immer etwas langsamer als gleichaltrige Mädchen. Doch jetzt gab
ihr Gott ihr die Möglichkeit sich zu rächen, einfach mal ein paar gut
aussehende Mädchen verprügeln. In ihren Gebeten hatte sie Tag und Nacht für
diese Chance gedankt.
„Los, beeil dich, der erste Kampf
von Dir ist in einer Viertelstunde. Zieh dich schnell um, meine Prinzessin!“
Dylan küsste sie noch einmal auf die Wange und schob sie mit einer Hand
zärtlich aus der Kälte. „Du schaffst es, ich bin bei Dir!“
Sie spürte die Wärme, trat in
schnell in die Umkleidekabinen. Dort wimmelte es von sehr angespannt wirkenden
Mädchen. Alle schätzungsweise in ihrem Alter oder jünger. 18 – 28 schätzte sie
einmal grob und einige von den Mädchen wirkten nicht so, als wären sie
freiwillig hier. Nervosität lag in der Luft, man konnte sie amten und schmecken.

Sie suchte sich einen Platz neben
der Tür, da sie keine Lust hatte durch den Hühnerhaufen zu waten. Hühner sah
sie schon zu Hause genug, scherzte sie in sich hinein. Während sie ihre Sportklamotten
aus ihrer Tasche holte versuchte sie abzuschätzen, wie viele Mädchen wohl in
ihrer Gewichtsklasse kämpften. Es schienen nicht allzu viele zu sein, obgleich
sie mit ihren 1,70m und den 91 Kilo sicherlich nicht die Größte oder gar die
Leichteste war.
„Hey, Bauerntrampel, Du sitzt auf
meinem T-Shirt. Schwing Deinen fetten Arsch davon!“ Sie wurde von der Seite
angeraunzt, während sie sich gerade ihre Turnschuhe zuschnürte. Auf der Stelle
drehte sie sich um und sah das Mädchen an. Lange, hell-braune Haare, klare,
blaue Augen, ein hübsches Gesicht, welches leider von dem vielen Make-Up
verdeckt wurde und pralle, rote Lippen. Eine Cheerleaderin, dachte sie für
sich, so ein Mädchen, welches immer alle Typen bekommt und genau so ein
Mädchen, das Mädchen wie sie immer hänselte.
„Entschuldigung …“ versuchte sie
dennoch höflich zu bleiben.
„Jaja!“ sagte das Mädchen mit
einer abwertenden Handbewegung, nahm das T-Shirt und verließ den Raum.
Vielleicht war sie ihre Gewichtsklasse, das wäre vielleicht ein Spaß, der Mal
ins Gesicht zu schlagen.
Als sie fertig umgezogen war, griff
sie wieder zu ihrem Kreuz. Einige Mädchen im Raum beobachteten sie dabei, aber
das war ihr egal. Sie betete zu ihrem Gott, er möge sie unterstützen und ihr
die Kraft geben, die Kämpfe durchzustehen. Sie hatte zwar immer schon
Nehmer-Qualitäten besessen, doch nie waren sie so wichtig gewesen wie heute.
Mit einem „Amen!“ stand sie auf und verließ die Umkleide.
Dylan war schon am Ring. Er
wirkte sehr nervös. „Baby, wenn was ist, dann gib bitte auf, ich möchte nicht,
dass dir was passiert, ok?“ „Gott steht mir bei!“ entgegnete sie nur. Sie war
sich sicher. Ihr erster Kampf war gegen so ein Stadt-Mädchen. Wohl gerade vom
College gekommen. Es dauerte knappe zwei Minuten, dann lag die Kleine auf den
Brettern, der Kampf war beendet.
Da in ihrer Gewichtsklasse nicht
allzu viele Mädchen kämpften, hatte sie nun Zeit bis zum Halbfinale, ihrem
zweiten Kampf. Sie blickte sich um. Die Boxhalle wurde unter der Woche von
vielen Schulen als Turnhalle genutzt. Die Ausrichter hatten versucht es zu
vertuschen und sie herzurichten, mit Fahnen, Transparenten, Postern etc. Es war
alles am Rande der Illegalität, aber das Preisgeld war mit 1000$ sehr gut. 50$
Startgebühr hatte es gekostet, + 15$ Eintritt für Dylan. Die hätten sie im
Falle eines Finaleinzuges wieder heraus bekommen. Ein Kampf nur noch, dann
hatte sie dieses Ziel erreicht.
In der Halle saßen und standen
viele Menschen. Sie schätzte so um die 400 Personen. Einige kamen ihr bekannt
vor, die meisten aber nicht. Sie schauten alle begeistert zum Boxring, wo
gerade eine Rothaarige von einer Blonden ziemlich übel zu gerichtet wurde. Ihre
Nase blutete und eine Lippe war aufgeplatzt, von dem zuschwellenden Auge ganz
zu schweigen. Die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun, sie sahen allerdings
nicht sehr professionell aus. Ein Arzt schien nicht am Ring zu sein. Nun ja,
war in der Regel ja nicht nötig.
Ihr Halbfinale folgte nach dem blutigen
Kampf der Rothaarigen. Während des Kampfes wäre sie beinahe auf einer kleinen Lache
aus Schweiß gemischt mit Blut ausgerutscht. Doch ansonsten hatte sie auch
diesen Kampf im Griff. Es dauerte ca. vier Minuten, dann war auch dieser Kampf
vorbei. Sie riss die Fäuste hoch, das Publikum klatschte ihr Beifall und sie
stand im Finale.
Dylan nahm sie in den Arm. „Ich
liebe dich, meine Prinzessin. Du hast sie alle im Griff, du kannst sie alle
schlagen. Aber pass beim letzten Kampf besonders auf dich auf, ich will nicht,
dass dir was zustößt, ok?“ Sie nickte nur, sie war sich ihrer Sache sicher. Sie
ging noch einmal in die Umkleide, denn sie wollte ihr T-Shirt wechseln.
Sie zog ihr „Jesus loves
you!“-Shirt an. Ein Jesus-Abbild sollte die Gegnerin angrinsen. Sie mochte zwar
keiner Bilder von Gott, aber dieses hatte ihr schon bei schweren Klausuren und bei
unmöglichen Sportprüfungen geholfen. Außerdem trug sie es, als sie Dylan kennen
lernte. Sie glaubte an die magischen Kräfte des T-Shirts. Als sie sich
umgezogen hatte, nutzte sie das Alleinsein in der Umkleidekabine für ein
letztes Gebet vor dem Kampf.
„Mein Gott, danke dass Du mich
soweit gebracht hast. Ohne Deine Hilfe hätte ich es nicht geschafft.
Unterstütze mich bitte beim letzten Kampf, ich möchte in Deinem Namen als
Siegerin den Ring verlassen. Amen!“ In dem Moment traf ein heller Lichtschein
ihr Auge. Sie sah es als Zeichen Gottes an, während in Wirklichkeit die Tür geöffnete
wurde und eine Frau hereingetragen wurde. Es war die Rothaarige von vorhin und
sie sah aus der Nähe wirklich übel aus. Zwei andere Mädchen legten sie auf eine
Bank und versorgten ihre Wunden danach so weit es möglich war.
Im letzten Kampf ging es dann
tatsächlich gegen das Mädchen, welches sie in der Umkleide so angeherrscht
hatte. Mehr Ansporn brauchte sie nicht. Der Gong zum Kampfbeginn ertönte und
sie lief gleich sicheren Schrittes auf die Gegnerin zu. Gleich zu Anfang setzte
sie zwei schwere Kopftreffer, bekam dann einen Schlag auf ihre Nase. Sie
spürte, wie etwas Blut auf ihr T-Shirt tropfte. Das machte sie noch wütender
und sie drosch auf ihre Gegnerin ein. Links, rechts, links, rechts, links,
rechts. Dann bekam sie einen Treffer in den Magen, einen in die Nieren. Sie
schlug zurück. „Auf den Kopf“ kam von außen. Sie setzte nochmals zwei schwere
Kopftreffer, links an die Schläfe, keine Deckung, zack, rechts auch noch einen.
Der weitere Schlag ging ins Leere, ihre Gegnerin brach zusammen. Die
hellbraunen Haare lagen auf den Brettern. Das Make-Up war vom Schweiß leicht
verlaufen. Verloren, aus!
Sie hatte gesiegt! Das Publikum
stand auf, es gab Standing-Ovations. Sie hatte es geschafft, sie hatte
gewonnen. Sie hatte mit Gottes-Hilfe gesiegt. Nichts anderes ging mehr durch
ihren Kopf. Sie hüpfte im Ring, während einige Menschen auf sie zustürmten. Der
Jubel war scheinbar überall. Dylan war da, er küsste sie. „Ich liebe dich!“
sagte er, dann sagte sie es. Sei weinte vor Glück und kreischte vor
Begeisterung. Einmal im Leben hatte sie gesiegt, einmal! „Danke Gott!“
flüsterte sie in die Woge der Begeisterung.
Dylan löste die Umarmung plötzlich
um sie. Sein Jubel war verschwunden. In seinem Gesicht stand etwas, was sie
nicht deuten konnte. Sie blickte sich um und sah, dass eine kleine Traube
Menschen um ihre Gegnerin versammelt war. Sie wirkten alle überfordert,
hilflos. Sie schienen verzweifelt, sie redeten oder schrieen nahezu panisch auf
sie ein. Keine Regung.
Ihr Gott starb genau in dem
Moment, als ihre Gegnerin der Hirnblutung erlag.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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