Die
Geschichte basiert auf folgenden Zeitungsartikel der Kieler Nachrichten:
Schönkirchen:
„Was ist das denn? Das habe ich ja noch nie gesehen“, meinte die Kassiererin im
Supermarkt und musterte erstaunt das Papier mit dem Aufdruck: Wertgutschein
Deutschland,“ damit wollen Sie bezahlen? Als sie aufsah, sah sie wie die Kundin
vor Scham die Tränen übers Gesicht liefen. Eine Szene aus der Serie: Was man
als Hartz-IV-Empfänger ertragen muss, ohne selbst etwas falsch gemacht zu
haben.
Müller steht an der Wohnungstür,
Müller, Hilde und Egon. Beide wohnen seit 15 Jahren in diesem großen Mietshaus
in der 5. Etage. Sie sind nicht mehr die Jüngsten. Hilde sitzt am Küchentisch,
etwas zusammengesunken, mit nachdenklichem Blick. Sie hat ihre karierte Schürze
an, ihre abgearbeiteten Hände liegen hilflos auf ihrem Schoß. Aus dem
geöffneten Kühlschrank gähnt ihr Leere entgegen. Leere, die gefüllt werden
muss. Ihre Gedanken kreisen um das Abendessen, sie weiß nicht, was sie auf den
Tisch bringen soll. In der kleinen Kammer nebenan, stehen noch zwei Konserven,
einmal Gulasch, einmal Linsen. Draußen klappert es, die Tür geht auf, Egon
tritt herein. Er hängt seine einfache braune Jacke an den Garderobehaken, die
Bewegung drückt Hoffnungslosigkeit aus. „Egon, hat die Arbeitsagentur über deinen
Antrag entschieden?“ fragt Hilde ängstlich und hoffnungsvoll aus der Küche. „Er
ist nicht aufzufinden“, antwortet Egon mürrisch. „Hier ein paar Gutscheine, das
ist alles, was ich bekommen konnte.“ Egon verschwindet schnell ins Wohnzimmer,
versteckt sich hinter seiner Zeitung, er ist verzweifelt. 35 Jahre hat er in
seinem Unternehmen gearbeitet. Lange 35 Jahre war er immer da, wenn Not an Mann
war. Jetzt ist sein Arbeitsplatz irgendwo im Osten. Den Ort kann er nicht aussprechen,
er weiß nicht wo er ist, nur sehr weit im Osten. Er will seine Frau nicht
sprechen, er zieht sich in ein Schneckenhaus zurück. Hilde steht auf, bindet
ihre karierte Schürze ab, wirft sich ihren schon etwas schäbigen blauen Mantel
über, nimmt diesen Gutschein, sie hat keine Wahl, der Kühlschrank ist leer. In
den Supermarkt an der Ecke will sie nicht gehen. Die an der Kasse kennt sie.
Ein Stückchen weiter ist auch noch einer; dort war sie noch nie. Etwas gelöster
nimmt sie ihre Einkaufstasche, schleppt sich langsam die Treppe hinunter. Im
Supermarkt schaut sie sich erst einmal um, sie weiß nicht, wo die
Sonderangebote liegen, nimmt hier und da eine Käsepackung auf, schaut auf den
Preis, dann eine Wurstpackung. Zögerlich packt sie alles in ihren
Einkaufswagen, etwas Gemüse, ein paar Eier, Nudeln auch noch Anderes. Sie beobachtet
die Kasse. Dort stehen zu viele Menschen. Jetzt kann sie noch nicht dorthin.
Sie schlendert ziellos zwischen den Regalen umher, immer die Kasse im Blick. Sie
tut harmlos, obwohl sie innerlich zittert. Jetzt ist die Kasse leer. Sie stürzt
hin, packt den bescheidenen Wageninhalt auf das Laufband, die Kassiererin
scannt alles ein. „20,95“ Hilde stockt der Atem. Das ist der Augenblick, den
sie so gefürchtet hatte. „20,95“, hört sie wie durch einen Schleier. Sie
fingert in ihrem Portemonnaie, ihre Hände flattern, sie legt den Gutschein
zögerlich der Kassiererin auf den Tisch, blickt dabei nach unten. Nur nicht in
die Augen dieser Frau blicken. Die Kassiererin mustert das Papier:
Wertgutschein Deutschland. Sie liest es zweimal, ist erstaunt, fragt, ob sie
damit bezahlen wolle. Hilde klopft das Herz bis in den Hals, ihre Wimpern
zittern, ihr kullern die Tränen über die Wangen, die Röte steigt ihr ins
Gesicht, der Mund ist trocken, sie hat einen Klos im Hals. Sie könnte vor Scham
in den Boden versinken. Was haben wir falsch gemacht. Egon war immer so
fleißig, so pünktlich, so zuverlässig, nun diese Demütigung. Ein Ruck geht
durch ihren Körper, sie richtet ihn auf, hebt den Blick, die Tränen sind
getrocknet. Nein, es ist nicht ihre Schuld. Mit viel Selbstbewusstsein schaut
sie der Kassiererin in die Augen: „Ja, damit bezahle ich.“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Petra Wilhelmi).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2006.
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