Petra Wilhelmi

Wertgutschein Deutschland

Die Geschichte basiert auf folgenden Zeitungsartikel der Kieler Nachrichten:

Schönkirchen: „Was ist das denn? Das habe ich ja noch nie gesehen“, meinte die Kassiererin im Supermarkt und musterte erstaunt das Papier mit dem Aufdruck: Wertgutschein Deutschland,“ damit wollen Sie bezahlen? Als sie aufsah, sah sie wie die Kundin vor Scham die Tränen übers Gesicht liefen. Eine Szene aus der Serie: Was man als Hartz-IV-Empfänger ertragen muss, ohne selbst etwas falsch gemacht zu haben.

 

Müller steht an der Wohnungstür, Müller, Hilde und Egon. Beide wohnen seit 15 Jahren in diesem großen Mietshaus in der 5. Etage. Sie sind nicht mehr die Jüngsten. Hilde sitzt am Küchentisch, etwas zusammengesunken, mit nachdenklichem Blick. Sie hat ihre karierte Schürze an, ihre abgearbeiteten Hände liegen hilflos auf ihrem Schoß. Aus dem geöffneten Kühlschrank gähnt ihr Leere entgegen. Leere, die gefüllt werden muss. Ihre Gedanken kreisen um das Abendessen, sie weiß nicht, was sie auf den Tisch bringen soll. In der kleinen Kammer nebenan, stehen noch zwei Konserven, einmal Gulasch, einmal Linsen. Draußen klappert es, die Tür geht auf, Egon tritt herein. Er hängt seine einfache braune Jacke an den Garderobehaken, die Bewegung drückt Hoffnungslosigkeit aus. „Egon, hat die Arbeitsagentur über deinen Antrag entschieden?“ fragt Hilde ängstlich und hoffnungsvoll aus der Küche. „Er ist nicht aufzufinden“, antwortet Egon mürrisch. „Hier ein paar Gutscheine, das ist alles, was ich bekommen konnte.“ Egon verschwindet schnell ins Wohnzimmer, versteckt sich hinter seiner Zeitung, er ist verzweifelt. 35 Jahre hat er in seinem Unternehmen gearbeitet. Lange 35 Jahre war er immer da, wenn Not an Mann war. Jetzt ist sein Arbeitsplatz irgendwo im Osten. Den Ort kann er nicht aussprechen, er weiß nicht wo er ist, nur sehr weit im Osten. Er will seine Frau nicht sprechen, er zieht sich in ein Schneckenhaus zurück. Hilde steht auf, bindet ihre karierte Schürze ab, wirft sich ihren schon etwas schäbigen blauen Mantel über, nimmt diesen Gutschein, sie hat keine Wahl, der Kühlschrank ist leer. In den Supermarkt an der Ecke will sie nicht gehen. Die an der Kasse kennt sie. Ein Stückchen weiter ist auch noch einer; dort war sie noch nie. Etwas gelöster nimmt sie ihre Einkaufstasche, schleppt sich langsam die Treppe hinunter. Im Supermarkt schaut sie sich erst einmal um, sie weiß nicht, wo die Sonderangebote liegen, nimmt hier und da eine Käsepackung auf, schaut auf den Preis, dann eine Wurstpackung. Zögerlich packt sie alles in ihren Einkaufswagen, etwas Gemüse, ein paar Eier, Nudeln auch noch Anderes. Sie beobachtet die Kasse. Dort stehen zu viele Menschen. Jetzt kann sie noch nicht dorthin. Sie schlendert ziellos zwischen den Regalen umher, immer die Kasse im Blick. Sie tut harmlos, obwohl sie innerlich zittert. Jetzt ist die Kasse leer. Sie stürzt hin, packt den bescheidenen Wageninhalt auf das Laufband, die Kassiererin scannt alles ein. „20,95“ Hilde stockt der Atem. Das ist der Augenblick, den sie so gefürchtet hatte. „20,95“, hört sie wie durch einen Schleier. Sie fingert in ihrem Portemonnaie, ihre Hände flattern, sie legt den Gutschein zögerlich der Kassiererin auf den Tisch, blickt dabei nach unten. Nur nicht in die Augen dieser Frau blicken. Die Kassiererin mustert das Papier: Wertgutschein Deutschland. Sie liest es zweimal, ist erstaunt, fragt, ob sie damit bezahlen wolle. Hilde klopft das Herz bis in den Hals, ihre Wimpern zittern, ihr kullern die Tränen über die Wangen, die Röte steigt ihr ins Gesicht, der Mund ist trocken, sie hat einen Klos im Hals. Sie könnte vor Scham in den Boden versinken. Was haben wir falsch gemacht. Egon war immer so fleißig, so pünktlich, so zuverlässig, nun diese Demütigung. Ein Ruck geht durch ihren Körper, sie richtet ihn auf, hebt den Blick, die Tränen sind getrocknet. Nein, es ist nicht ihre Schuld. Mit viel Selbstbewusstsein schaut sie der Kassiererin in die Augen: „Ja, damit bezahle ich.“      

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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