Andrea Mordasini

Rebecca - eine junge Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln

 

Die ersten Jahre einer noch unbekümmerten Kindheit

Geboren wurde ich am 14.10.1982. Die ersten Jahre verbrachten meine Eltern und ich in einer Siedlung am Stadtrand, wo ich eine glückliche sorgenfreie Kindheit verbrachte. Das einzige was mir fehlte und ich mir wünschte, war ein Geschwisterchen. Leider erfüllte sich dieser Wunsch nie. Mein Vater arbeitete als Architekt in der Stadt. Da er vielfach auch an den Wochenenden arbeiten musste, sah ihn nicht so oft. Dafür nahm er sich in den Ferien stets Zeit für mich. Zusammen unternahmen wir Wanderungen,  Fahrradtouren, gingen Schwimmen, in den Zoo, in den Zirkus oder auf den Spielplatz. Er nahm mich mit zum Fasching, wo ich mich in einen Engel, eine Hexe oder Fee verwandeln durfte. Den gemeinsamen Sommerurlaub verbrachten meine Eltern und ich meistens am See, wo wir ein kleines Häuschen besassen. Im Winter fuhren wir in die Berge zum Skifahren und Rodeln. An meinen Geburtstagen durfte ich immer ein paar Freunde aus der Schule einladen. Meine Mutter schmückte die Wohnung mit Girlanden, backte köstliche Kuchen und organisierte für uns lustige Spiele. Um ein wenig  Geld zu verdienen, arbeitete sie in einem kleinen Lebensmittelladen. Als  meinem Vater eine besser bezahlte Stelle in einer anderen Stadt angeboten wurde, zogen wir schweren Herzens um. Vor allem für mich als Zwölfjährige war es damals hart, all meine Freunde verlassen und an einen mir fremden Ort ziehen zu müssen.

 
Der Umzug in die grosseStadt und die Schattenseiten der Pubertät 

Zum Glück war aber alles halb so schlimm. Wir bezogen ein hübsches Reiheneinfamilienhaus, in noch andere Familien lebten. In der neuen Schule fand ich rasch Kontakt zu meinen Mitschülern. Mit Julia, einem gleichaltrigen Mädchen aus meiner Klasse, schloss ich schnell Freundschaft. Sie teilte dieselben Interessen wie ich; liebte Skaten, Lesen und ging gerne Schwimmen. Wir verbrachten beinahe jede freie Minute miteinander und begannen, uns für Mode, Makeup, Musik und Jungs zu interessieren. Wir schwärmten für die Backstreetboys, Take That und Robbie Williams, tapezierten unsere Wände mit Starfotos und verliebten uns zum ersten Mal. Natürlich liess auch der erste Liebeskummer nicht lange auf sich warten. In der Schule kam ich bis auf Mathe mühelos mit. Julias Problemfach war Französisch. Auch da waren wir ein „Dream-Team“ und ergänzten uns ausgezeichnet. Sie half mir beim Rechnen und ich ihr beim Französisch. Nur die Pubertät bereitete mir Kummer. Die Verwandlung vom Mädchen zur jungen Frau ging auch bei mir nicht spurlos vorüber. Ich wurde mollig, bekam Busen, wurde rebellisch, zickig und stritt mich mit den Eltern um Ausgang und Taschengeld. Nie hätte ich gedacht, dass das Erwachsenwerden so anstrengend sein könnte… Ich verkroch mich in mein Zimmer, hörte laute Musik und schrieb Tagebuch. Auch diese Phase ging  vorüber; ich akzeptierte die Veränderungen mit meinem Körper und wurde wieder selbstsicherer.

  

 

„Du wurdest adoptiert“ , Schock und die ganze traurige Wahrheit

Kurz nach meinem 14. Geburtstag riefen mich die Eltern zu sich. Was ich dort zu hören bekam, raubte mir beinahe den Atem. Sie erklärten mir, dass ich nicht ihre leibliche Tochter sei,  sondern im Alter von drei Monaten adoptiert wurde. In diesem Moment brach für mich eine Welt zusammen. Nie hätte ich geglaubt, nicht ihr "eigenes" Kind zu sein. Ich fühlte mich belogen und betrogen und wusste nicht, wie mit dieser neuen Situation umzugehen. Ich schrie und heulte, meine Gefühle überschlugen sich, ich hatte sie nicht mehr unter Kontrolle. Als ich mich nach dem ersten Schock ein wenig beruhigt und mich wieder gefasst hatte, fragte ich nach dem Warum. Warum tat meine Mutter so etwas? Wie kann eine Mutter nur so böse sein und ihr eigenes Kind weggeben, welches sie neun Monate im Bauch getragen hat? Warum wollte sie mich nicht? Ich empfand Hass und Wut gegenüber dieser unbekannten Frau. Meine Eltern  erzählten mir, dass mich meine damals erst 17-jährige Mutter vor der Eingangstüre eines Mehrfamilienhauses in einem Körbchen ausgesetzt hatte. Ein Spaziergänger fand mich und brachte mich in die Kinderklinik, wo ich aufgepäppelt wurde und mich erholte. Später kam ich ins Kinderheim, und mit drei Monaten wurde ich von meinen Adoptiveltern aufgenommen. Meine jetzige Mutter musste sich bereits mit 22 Jahren einer komplizierten Unterleibsoperation unterziehen und  konnte  danach leider keine eigenen Kinder mehr kriegen. Die einzige Möglichkeit war also, ein Kind zu adoptieren. Bis sie mich endlich in den Armen halten durften, mussten Sie unzählige Formulare ausfüllen, auf dem Jugendamt Hunderte von Fragen beantworten und sich diversen Tests unterziehen. Erst drei Jahre nach dem Adoptionsgesuch und vielen Behördengängen klappte es. Gerne hätten sie für mich noch ein Geschwisterchen gehabt; doch die Mühe und die Warterei wollten Sie nicht mehr auf sich nehmen. Meine „biologische“ Mutter blieb trotz Zeitungsberichten, Zeugenaufrufen und Suchaktionen unauffindbar. Von ihr fehlt bis heute jede Spur. Meine Eltern bewahrten einige Tageszeitungen auf, welche damals im Oktober 1982 über mich schrieben.

  
Die Morgenpost vom 15.10.1982:
" Hilfloser Säugling von Mutter ausgesetzt"

"Dank der beherzten Reaktion eines Rentners wurde das kleine Mädchen, dessen Nabelschnur unfachmännisch durchtrennt worden war, gefunden und gerettet. Das Frühchen wurde in die Kinderklinik gebracht, wo es sich von den Strapazen erholt. Von der Rabenmutter fehlt jede Spur..."

  
"Das Blatt" vom 16.10.1982:
"Neugeborenes Mädchen vor Mehrfamilienhaus ausgesetzt"

 "Das vor einem Mehrfamilienhaus ausgesetzte Findelkind kämpft in der Kinderklinik um sein Leben. Ärzte und Pflegepersonal tun ihr Möglichstes, um die Kleine am Leben zu erhalten... Bereits haben sich unzählige Paare gemeldet, welche das Mädchen aufnehmen möchten.“

Unter all den Zeitungsartikeln kam auch das von meiner leiblichen Mutter gekritzelte Schreiben zum Vorschein. In kindlicher und zittriger Handschrift stand da geschrieben:

„Meine Kleine,

Ich wünsche Dir von Herzen, dass Dich Menschen aufnehmen, grossziehen und lieben werden und dass Du Deinen Weg gehen wirst. Was ich hier tue, tue ich schweren Herzens. Ich lasse Dich nicht gerne zurück, doch leider sehe ich keinen anderen Ausweg. Niemand darf von meiner Schwangerschaft und der Geburt erfahren; ich bin doch selber erst siebzehn und noch in Ausbildung. Ich tue dies, weil ich dich ganz fest liebe und weil ich für Dich nur das Beste will. In meinem Herzen wirst Du immer bei mir sein. Ich werde Dich nie vergessen und immer an Dich denken.

 

 

 

 

 

 

                                                        Deine Mama"

 
Erschüttert hielt ich diesen Brief in der Hand, welche eine erst 17-jährige Mutter in ihrer Verzweiflung geschrieben hatte. Tränen kullerten über meine Wangen, mein Magen krampfte sich zusammen, und mir würde übel. Der Zorn wandelte sich in Mitleid. Mir tat diese unbekannte Frau leid. Was wohl aus ihr geworden ist; wie es ihr jetzt gehen mag?

 

 

Selbsthilfegruppe, mein Freund Sven, was aus mir geworden ist und unsere Wünsche und Träume für die Zukunft

Für mich war es anfänglich schwer, mit der ganzen Situation klarzukommen. Ich war hin- und hergerissen; meine Gefühle spielten verrückt. Dank einer tollen Psychotherapeutin, welche ich während eines Jahres einmal die Woche besuchte, meinen Eltern und meiner Freundin Julia, gelang es mir, darüber hinwegzukommen und mein Gefühlswirrwarr in den Griff zu bekommen. Noch heute sprechen meine Eltern und ich oft über die Ereignisse vom Herbst 1982. Die Gespräche tun mir gut und geben mir das Gefühl, ernst genommen und verstanden zu werden.

Vor vier Jahren trat ich einer Selbsthilfegruppe bei, welche sich um Adoptiv-Kinder und -Eltern kümmert. Wir treffen uns einmal die Woche, diskutieren über Erlebtes, tauschen Erfahrungen aus und unternehmen viel gemeinsam. Die Gruppe tut mir ebenfalls sehr gut; ich fühle mich wohl unter den Gleichgesinnten und habe die Gewissheit, mit meinen Problemen nicht alleine dazustehen. Seit einem halben Jahr wohne ich mit meinem Freund Sven ganz in der Nähe meines Elternhauses zusammen. Wir bezogen eine gemütliche Zweizimmerwohnung. Ich lernte Sven vor zwei Jahren in der Selbsthilfegruppe kennen. Er ist ein Jahr älter als ich und wurde ebenfalls adoptiert. Seine leibliche Mutter hatte bereits drei Kinder, war geschieden und wäre mit einem weiteren überfordert gewesen. Aufgrund dessen gab sie ihren Sohn damals zur Adoption frei. Sven wusste bereits als kleiner Junge, dass seine Eltern ihn adoptierten, und sie machten keinen Hehl daraus. Somit war dies für ihn das Selbstverständlichste; er hatte auch nie Probleme damit. Nach der obligatorischen Schulzeit lernte er Hochbauzeichner und arbeitet heute in einem erfolgreichen Unternehmen. Sein Ziel ist es, im kommenden Jahr die Meisterprüfung abzulegen und eine eigene Firma zu leiten. Ich wusste lange nicht so genau, was ich eigentlich lernen wollte und entschloss mich, aufs Gymnasium, zu gehen. Nun bin ich an der Universität und studiere im dritten Semester Psychologie. Mein innigster Wunsch ist es, mich später um adoptierte Kinder und  Jugendliche zu kümmern und sie bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern zu unterstützen. Paaren, denen aus irgendwelchen Gründen der Wunsch nach eigenen Kindern versagt blieb und die sich für eine Adoption entschliessen, möchte ich auf dem mühsamen Weg behilflich sein. Sven und ich schmieden bereits Zukunftspläne; wir möchten mal heiraten und selber eine Familie gründen. Doch momentan stehen mein Studium und Svens Meisterprüfung im Vordergrund. Für uns ist klar, dass wir später Kinder haben werden; seien es leibliche oder adoptierte. Für uns käme auch die Adoption eines Kindes aus der Dritten Welt in Frage. Sollten auch wir einmal ein oder gar mehrere Kinder adoptieren, würden wir ihnen von Anfang an erzählen, dass und warum sie damals zur Adoption freigegeben und von uns aufgenommen wurden. Ich möchte nicht, dass sie denselben Schock erleiden wie ich ihn erleben musste.

Vor gut sechs Monaten traf Sven zum ersten Mal seine leibliche Mutter! Diesem Treffen vorausgegangen war ein reger Briefwechsel, der knapp über ein Jahr andauerte. Nicht Sven war es, der nach seiner Mutter forschte, sondern sie. Je näher das Treffen rückte, desto nervöser und angespannter wurde Sven. Ich unterstützte ihn so gut ich es konnte und fuhr ihn am Tag X an den vereinbarten Treffpunkt am Bahnhof. Als Erkennungszeichen trug mein Freund einen blauen Schal, seine Mutter eine rote Handtasche. Die Begegnung war freundlich. Sven ist froh, dass er sich mit seiner Mutter getroffen hat. Seit dem ersten Zusammenkommen haben sie sich mehrere Male gesehen. Mittlerweile treffen sie sich regelmässig

einmal bis zweimal im Monat und gehen zusammen essen. Seine Mutter lernte vor kurzem auch Svens Adoptiveltern kennen. Sie fürchteten sich ein wenig davor, hatten Angst, Sven an seine leibliche Mutter zu verlieren. Doch diese Angst war und ist gänzlich unbegründet! Sven betrachtet seine Adoptiveltern als seine richtigen und seine Mutter als gute  Bekannte.

In zwei Wochen wird er zum ersten Mal seinem Vater und seinen drei älteren Geschwistern begegnen. Er freut sich riesig, endlich auch den Vater, seinen Bruder und seine beiden Schwestern kennen lernen zu dürfen. Über diese Menschen weiss er noch nicht viel; bloss, dass alle im Umkreis von nur 50 Kilometern wohnen!

Motiviert durch Svens Erfolge, habe ich mich nun entschlossen, nach meiner leiblichen Mutter zu „fahnden“, möchte aber nichts überstürzen. Mitglieder der Selbsthilfegruppe, Sven, meine Freundin Julia wie auch meine Eltern haben mir versprochen, mir dabei zu helfen und mich tatkräftig zu unterstützen.

 

Ich sage Danke!

An dieser Stelle danke ich all denen, die mir stets geholfen und zu mir gestanden haben. In erster Linie danke ich meinen lieben Eltern, die mich damals aufgenommen, grossgezogen, mich immer geliebt und mich zu einem selbständigen Menschen erzogen haben und noch heute ein offenes Ohr für meine Anliegen haben. Spezieller Dank gebührt meiner langjährigen Jugendfreundin Julia, welche auch in den schwierigsten Momenten stets zu mir gehalten hat, sowie Sven, der mich ermutigte, nach meiner Mutter zu suchen. Zuletzt aber danke ich meiner leiblichen Mutter, dass sie mir dieses schöne Leben überhaupt ermöglicht hat. Deshalb widme ich die letzten Zeilen ausschliesslich ihr:

„Liebe unbekannte Mama,

Leider habe ich erst vor rund neun Jahren erfahren, was mit mir im Herbst 1982 geschehen ist. Ich hoffe, dass wir uns irgendwann mal sehen können, denn ich habe Dir so viel zu erzählen. Ich hoffe, dass es Dir gut geht und Du Dein Leben trotz allem, was Du als junges Mädchen durchmachen musstest, geniessen kannst. Ich weiss nun, dass Du aus Verzweiflung gehandelt hast und nicht, weil Du mich nicht liebtest. Du sollst wissen, dass es mir gut geht und Du Dir wegen mir keine Vorwürfe machen musst. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen alles Gute und Liebe. 

 

 

 

                          

                                                                 Deine Rebecca“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Geschichte und die darin vorkommenden Personen sind alle frei erfunden. Ähnlichkeiten mit existierenden oder bereits verstorbenen Personen sind daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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