Als Jean die
Stimmkarten wieder hervorholte und sich den gelben Pappstreifen mit der „10“
und den grünen mit der „2“ ansah, dachte er unvermittelt darüber nach, was
diese Teile eigentlich darstellten. Er führte auf dieser Versammlung zwölf
Stimmen, Stimmen, die vielleicht entscheidend sein konnten. Aber darauf kam es
nicht an. Vielmehr sah er vor sich die 102 Leute bei der Wahlversammlung seines
Bezirkes, die ihn zum Delegierten gewählt hatten: wie sollte er deren
verschiedenen Absichten und Einstellungen, Erwartungen und Strategien durch ein
Heben dieser farbigen Pappstreifen angemessen repräsentieren? Wäre nicht jedes
eindeutige Verhalten eine Vergewaltigung all derer, die es nicht so wollten?
Denn einen klaren Mehrheitswillen hatte es zwar in Bezug auf seine Person und
einige generelle Marschrouten gegeben, nicht aber zu der Frage, die jetzt anstand.
Und dabei waren jene 102 nur der aktive Teil der 754 Parteimitglieder, die er
vertreten sollte. Die meisten von ihnen kannte er nicht, genauso wenig wie sie
ihn. Was konnte er für sie tun? Ganz zu schweigen von den 87.000 Wählern, die
quasi hinter ihm standen, oder gar der runden Million Bewohner der Region, aus
der er kam.
“Wer stimmt für B.?
Bitte die Stimmkarten hoch!“ Sein Arm rührte sich nicht. Er versuchte, sich
eine Million Individuen vorzustellen, mit ihren Wünschen, Hoffnungen, Ängsten,
ihren persönlichen oder gesellschaftsbedingten Problemen. Hoffnungslos...
“Wer stimmt für M.? Bitte
die Stimmkarten!“ Nein, er nicht. Selbst zu einer Enthaltung konnte er sich
nicht entschließen, er verließ den Saal in Richtung Cafeteria.
M. als den
Repräsentanten des rechten Flügel hätte Jean nie wählen können, dann hätte er
sich gleich aus der Politik zurückziehen können und die bestehenden
Verhältnisse gutheißen. B. war zwar der Exponent des linken Flügels, hatte aber
Vorstellungen, die seine Partei in ein politisches Abseits führen würden.
Durchsetzbarkeit war für Jean eins der letzten haltbaren Kriterien geblieben.
Als F., die
konturenlose Integrationsfigur, nach sechs Jahren amtsmüde geworden war, war
der Streit zwischen den zwei Flügeln in aller Heftigkeit wieder aufgebrochen.
Die Auseinandersetzung war an dem emotionsgeladenen Thema “Zusammenarbeit mit
Kommunisten“ entflammt. Der linke Flügel war zwar ebenso antikommunistisch wie
der rechte, wollte sie aber als Vehikel für die Durchsetzung seiner
Reformvorstellungen gegen den Bürgerblock benutzen. Die Polemik von rechts warf
ihnen vor, sich selbst zu Erfüllungsgehilfen Moskaus zu machen. Die rechte
Gruppe hatte selbstverständlich mit Kommunismus nichts im Sinn, da sie die
Interessen derer vertrat, die sich für die wenigen Spitzenpositionen
qualifiziert hatten oder diese Anstrengung erst gar nicht unternehmen mussten.
Oder sie lebten einfach noch unter dem Kommunismus-Trauma der Ära des kalten
Krieges. Die Kreise, die aus Überzeugung mit den Kommunisten zusammengehen
wollten, waren ebenso klein wie die Gruppe derjenigen, die mit ihrer Hilfe
gewisse anarchosyndikalistische und spontaneistische Kräfte niederhalten
wollten.
Aber diese
Auseinandersetzung lief doch gar nicht an den wahren Fronten - das ärgerte ihn
so. Als der Kaffee in den Kunststoffbehälter lief, dachte er an die geheimen
Überwachungen, die jährlich Hunderten die Existenz zerstörten, Tausende in Angst
versetzten und Hunderttausende zu Opportunisten machten. Er sah zehnjährige
Kinder, für die schon feststand, dass sie nie in ihrem Leben ihre eigene
Situation reflektieren könnten, geschweige denn, durch diese Reflexion auch
noch ihren Lebensunterhalt verdienen.
Der Lautsprecher trug
ihm das Ergebnis des ersten Wahlgangs zu. Weder B. noch M. hatten die
erforderliche absolute Mehrheit erreicht. Ja, die Enthaltungen bildeten sogar
den stärksten Block. Das war abzusehen, denn in der Partei überwogen die
Unentschlossenen, Leute, die erst einmal abwarteten, welche Richtung sich
durchsetzen würde, um dann auf den Erfolg versprechenden Zug aufzuspringen.
Jean begegnete einem
Delegierten, der zu seiner Überraschung noch jünger war als er. Und er erfuhr, dass
dieser noch nicht einmal durch Protektion eines einflussreichen Verwandten oder
Gönners an diesen Posten gelangt war. Vielmehr hatte er sich der Partei in
einem schwach organisierten Bezirk angeschlossen und um die Enttäuschung einer
erfolglosen Partnerbeziehung zu überwinden, hatte er sich so intensiv in die
Parteiarbeit gestürzt, dass er innerhalb eines Jahres einen unbestrittenen
Führungsanspruch besaß. Jean dachte, wie viel positive Energie doch wohl in
seiner Organisation versammelt sei, die man unmittelbar für eine Verbesserung
der Welt einsetzen könnte, anstatt sie auf derartigen Versammlungen zu
verheizen.
Er setzte sich an
einen freien Tisch. Auf so entscheidenden Versammlungen neigte er dazu, sich
abzusondern, um seine Unabhängigkeit zu beweisen.
Er war eigentlich
schnell zum Delegierten für die Zentralversammlung avanciert. Um in seiner
Partei mit ihren weit voneinander entfernten Flügeln, die nur aus taktischen
Erwägungen keine eigenen Organisationen bildeten, Erfolg zu haben, durfte man
oft nicht deutlich zu einem der zwei Flügel gehören. Da die Mehrheitsverhältnisse
selten sehr klar waren, konnte der feindliche Flügel einen Kandidaten des
anderen oft genug fertigmachen und die Unentschlossenen auf seine Seite ziehen.
Irgendwelche Unzuverlässigkeiten oder Abweichungen ließen sich ja fast immer ans
Licht zerren. Vorteilhafter war es daher oft, nicht festgelegt zu sein und vom
jeweils schwächeren Flügel für einen gemäßigten Vertreter des stärkeren
gehalten zu werden, der dann natürlich einem entschiedenen Vertreter desselben genau
so wie einem aussichtslosen eigenen Kandidaten vorzuziehen war. In diese Rolle passte
er gut. Weniger aus taktischen Erwägungen als aus der Tatsache heraus, dass er
sich immer vor alternativen Entscheidungen “JA oder NEIN“ drückte, um nicht all
zu klar Stellung zu beziehen in einer tendenziell feindlich gesonnenen Welt. So
konnte er in seinem Bezirk, von den Linken und der Mitte getragen, sich gegen
einen klar rechten Gegenkandidaten durchsetzen. Fast wäre alles noch schief
gelaufen, als die so genannten Stalinisten ihn angriffen und ihm vorwarfen, nie
eine wirklich antikapitalistische Perspektive gehabt zu haben und daher nicht
wählbar zu sein. “Ja UND Nein“, dachte er, aber da ergriff Stéphan das Wort und
machte den Linken behutsam klar, dass die Alternative hier nur zwischen Jean
und dem Konservativen E. läge und dass es somit nur eine Wahl gäbe. Stéphan
selbst war einer winzigen Gruppe zuzurechnen, deren idealistische Vorstellungen
zwar in einer alten Tradition standen, in der Partei aber keine Chance hatten.
Er setzte darauf, Jean hochzubringen, damit er ihn eines Tages nachzöge. Die Stalinisten
mussten klein beigeben, was sie aber nicht hinderte, ihn nach der Versammlung
zu einigen Bier einzuladen und ihn wie nebenbei zu fragen, ob er auf der ZV
nicht vielleicht für dieses und gegen jenes stimmen könnte. Er wich aus: “Mal
sehen, je nach dem ...“
Helène setzte sich zu
ihm, wollte ihn für B. gewinnen. Er log ihr vor, dass sein Bezirk ihm eine
solche Entscheidung nicht erlaubt hätte. In Wirklichkeit waren die Kandidaten,
die er ausdrücklich wählen durfte oder nicht, gar nicht erst angetreten. Sie
gab sich Mühe, ihn an ihre gemeinsamen Diskussionen im Arbeitskreis “Frauen und
Emanzipation“ zu erinnern. Sie hatte dort die Forderungen der Frauenbewegung so
radikal vertreten, dass er sie zuerst für überzogen gehalten hatte. Sie hatte
ihm aber die über Jahrhunderte tradierten Verhaltensregeln und Rollenerwartungen
so subtil nachgewiesen, dass er zeitweise der entschiedenste Vertreter der
Frauen unter den Männern war. Auch hatte er am Vormittag mitgeholfen, den
Antrag zur endgültigen Gleichstellung zu verabschieden, der allerdings schon
wieder weit hinter dem damaligen Diskussionsstand lag. Gewiss, das musste er
einräumen, und dass von B. mehr für die Frauenbewegung zu erwarten war, lag
auch auf der Hand. Er nahm die Zigarette an, die Hèlene ihm anbot, wich aber
der Entscheidung aus.
Inzwischen hatte sich
die Polarisierung zwischen den beiden Kandidaten verschärft. M. hatte B.
vorgeworfen, vor elf Jahren als Studentenvertreter einen Aufruf unterzeichnet
zu haben, in dem von der „Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates“ die
Rede war; M. wurde ein Artikel aus der XY-Zeitung vorgehalten, in dem er die
Folter in verschiedenen totalitären Staaten als nachvollziehbare “Folge einer
Eskalation von Gewalt“ bezeichnet und damit quasi legitimiert hatte. Und so weiter.
Im zweiten Wahlgang
hatte zwar wieder kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht, aber der
Vorsprung von M. war so deutlich, dass er im dritten Wahlgang mit einfacher
Mehrheit erfolgreich sein musste.
Der linke Flügel
lancierte daraufhin das Gerücht, man wolle sich im Falle von M.’s Sieg von der
Partei trennen. Das machte B. zwar nicht beliebter, aber die Linken leisteten
mit ihrer Jugend- und Vorfeldarbeit der Partei so gute Zubringerdienste und
schnappten den Kommunisten so viele potentielle Sympathisanten weg, dass
niemand gern auf sie verzichten wollte. Daher wurden einige Leute nachdenklich
und die Sitzung für eine Viertelstunde unterbrochen.
Jean blätterte lustlos
in seiner Antragsmappe. Einige schöne Anträge hatten sie ja verabschiedet, so
den für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, für die Unterstützung
einiger afrikanischer Freiheitsbewegungen, gegen die Abweisung politischer
Flüchtlinge aus bestimmten südamerikanischen und osteuropäischen Ländern. Und
den Antrag gegen die nicht prüfbaren Überprüfungen und die unkontrollierten
Kontrollen, den er in seiner präzisen Formulierung nicht für mehrheitsfähig
gehalten hatte.
Bei Wiedereröffnung
der Sitzung geschah etwas Voraussehbares. Die anarchistische Fraktion, die
keine Stimmen, nur Beobachter hatte, die amtierenden Minister der Partei und
namentlich F. schlugen Dr. P.-C. als Kompromisskandidaten vor. P.-C. war zu
sehr Akademiker, um ein kämpferisch-politisches Profil zu haben, eignete sich
für die ihm zugewiesene Funktion recht gut. Die einen hatten ihn vorgeschlagen
aus Sorge um die Einheit der Partei und ihre Verlässlichkeit in der
Regierungskoalition, den Anarchisten lag ein Wischi-Waschi-Mann natürlich mehr
als ein konsequenter Vertreter irgendeiner rechten oder linken Politik. Außerdem
enthalte seine Sozialphilosophie einige Züge, die dem Anarchismus nicht
widersprächen, ließ sich Jean von einem Insider belehren.
Die Rechten fühlten
sich um ihren fast sicheren Sieg betrogen. Sie hielten P.-C. aber für schwach
genug, um unter ihm mit ihrer grundsätzlichen Mehrheit weiter gut arbeiten zu
können. Doch sie sahen die Gefahr, dass sich B. nun eventuell gegen M. und P.-C. durchsetzen könnte, wenn mit einfacher Mehrheit
zwischen drei Bewerbern entschieden würde. Daher erwog man, M. zugunsten von P.-C.
zurücktreten zu lassen. Andere Ratgeber meinten dagegen, dadurch würde P.-C. zu
sehr als Kandidat der Rechten erscheinen, was B.’s Position nur stärken würde,
da man sich zudem nicht sicher war, ob wirklich genug Stimmführer des eigenen
Lagers zu P.-C. gingen anstatt sich enttäuscht zu enthalten. Da es zuviel
Individualisten und Untergruppen gab, die hinterm Berg hielten, konnte man in
Fraktionssitzungen nicht einen ganzen Flügel auf ein einheitliches Verhalten
festlegen. Man zog es vor, M. weiter kandidieren zu lassen und P-C. scharf
anzugreifen, um so von links Stimmen zu ihm herüberzuziehen, Gleichzeitig
wollte man ihm aber auch selbst genügend Stimmen zukommen lassen, um ihn mit
Sicherheit gegen B. durchzubringen. M. sollte sozusagen nur noch als Strohmann
fungieren.
Jean war den ihm
bekannten rechten Strategen in die Wandelhalle gefolgt, da ihn das Sitzenbleiben
im Plenarsaal langweilte. Statt sich aber über die taktischen Erwägungen
aufzuregen, saugte er wie ein Kind an dem Strohhalm, der in seiner Kakaotüte
steckte. “Christine“, dachte er und das machte ihm jetzt mehr Spaß als
“Scheiß-M.“, “Scheiß-B.“ usw.
Der linke Flügel ging
auf das Spiel von rechts voll ein, lobte seinerseits P.-C. für allerlei
fortschrittliche Positionen, um die Rechten vielleicht doch wieder von ihm
wegzutreiben und B. gegen P.-C. durchzubringen. Dieser selbst hatte auf einem
erhöhten Sitz neben den anderen Kandidaten Platz genommen, rauchte ununterbrochen
und blätterte dabei in irgendwelchen Manuskripten.
Jean beobachtete das
Schauspiel von den hintersten Reihen aus, die für die Gäste vorgesehen waren.
Gut, dass die Gäste auch alle Profis in diesem Geschäft waren, dachte Jean bei
sich. Er machte sich aber nicht mehr die Mühe, sich in einen unbedarften
Zuschauer hineinzuversetzen. Er traf den Führer der Radikalsozialisten seiner
Region und stellte ihm für die Zukunft, wenn er erst einmal Bezirksvorsitzender
sei, verstärkte Zusammenarbeit gegen Kommunisten und Sozialdemokraten in
Aussicht.
Der dritte Wahlgang
wurde dadurch verlängert, dass geheime Abstimmung beantragt und durchgesetzt
wurde. Aufgrund des Stimmführerprinzips musste nun jeder Stimmberechtigte sich
einen besonders gekennzeichneten Stimmzettel abholen, der die Zahl der von ihm
geführten Stimmen angab.
Jean betrachtete das
postkartengroße Stück Papier mit der aufgedruckten 12 und schrieb
"Christine" darauf. Dann steckte er den Zettel in die Tasche und
kehrte an seinen Platz zurück. Das Ergebnis: M. erhielt 73 Stimmen, B. 201 und
P.-C. 312 bei 38 Enthaltungen. Blitzlichtgewitter und Blumensträuße für P.-C.,
danach kam es zu den üblichen Formeln von Einheit und Zusammenarbeit, während
jede Fraktion hoffte, ihr eigenes Süppchen möglichst unbehelligt weiterkochen
zu können.
Jean packte schnell
und stieg in sein Auto. Vier Stunden Fahrt - danach würde ihn niemand begrüßen
zu hause, weder 100 Parteifreunde, noch 10.000 Wähler noch irgendwelche Massen,
die für das meiste, was an jenem Wochenende und immer wieder geschah, als
Legitimation herhalten mussten. Nein, einzig und allein Christine würde auf ihn
warten, oder war heute der Planungsabend ihrer Frauengruppe?
(c) bg 1978/2006