Ich finde, ihr Blick hat etwas Überlegenes, fast Geringschätziges. Sie trägt ein leichtes, geblümtes, etwas altmodisch wirkendes, dennoch nicht hässliches Sommerkleid. Es gibt ihr einen biederen Eindruck, der so gar nicht zu dem amazonenhaften Gesichtsausdruck passen will.
Auf dem Dekolletee ihres Kleides ist eine lilafarbene, rechteckige, papierende Anstecknadel zu sehen: "Befreiung zum Greife nah." Ich bemerke, dass das Lila der Anstecknadel mit den lila Blumen des Kleides ausgezeichnet korrespondiert, möglicherweise fiel die Wahl des Sommerkleides also bewusst nach farblichen Gesichtspunkten. Etwas unpassend finde ich dagegen die Wahl des Ortes für die Anstecknadel, direkt am Dekolletee, dass kein hoch geschlossenes ist. "Befreiung zum Greifen nah", darunter befindet sich ein weißes Feld, darin hatte sie fein säuberlich mit einer Schreibmaschine ihren Namen eingetragen. Ich entdecke später andere dieser Ausweise, auch in fremden Sprachen, die mit weit weniger Sorgfalt ausgefüllt sind, zum Beispiel mit Kugelschreiber oder Filzer. Sie aber nimmt es offenbar genauer als all die anderen.
In dem Moment hält unser Zug an der Münchner Freiheit. Andere Ausweisträger steigen zu - Männer, Frauen, Kinder - offenbar, um von der Freiheit zur Befreiung zu gelangen. Ich mustere ihre Blicke, viele davon ähneln dem der Frau im geblümten Kleid. Auch freudige Erwartung kann ich entdecken. Wohin die Reise wohl geht?
Unser Zug kommt an den Scheidplatz. Hier begegnen sich zwei Linien und man hat letztmalig die Chance, den Weg zu wechseln, zum Olympiazentrum oder Richtung Feldmoching. Unser Zug soll Richtung Olympiazentrum weiterfahren. Ich muss den Zug wechseln.
Vom gegenüberliegenden Bahnsteig strömen Menschen entgegen. Freudig, überlegen. Suchend? Ein freundlich aussehender alter Mann mit schwarzem Hut und grauem Fischgrätsacko weist den rechten Weg. Er hält ein Schild hoch. In Lila aufgedruckt die Zinnen eines Bergfrieds und ein Pfeil, der auf den Zug weist, den ich gerade verlassen habe.
"Ein feste Burg ist unser Gott", schießt es mir noch durch den Kopf, da haben sich die Türen schon geschlossen. Die Menschen auf dem anderen Gleis, fahren ihrer Befreiung entgegen. Ich fahre zur Arbeit.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.07.2006.
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