Maria Peters

Im Spiegel (Kapitel 3)

Sowohl Donnerstag, als auch Freitag schienen ruhige Tage zu werden. Christina hatte wirklich aufgehört vom Spiegelkabinett zu reden und sich nur noch anderen Themen gewidmet, was Alexandra ebenfalls entspannte. Obwohl es Chris ziemlich schwer fiel, sich am Freitag noch auf den Unterricht zu konzentrieren.
In der letzten Stunde glaubte Alex fast, Chris könne schreiend rausrennen, denn sie hatte morgens schon im Fernsehen einen Trailer zum Kabinett gesehen, der sie vollkommen aus der Bahn warf. Die Erinnerung an ihren Einbruch lag ihr immer noch auf der Zunge, jedoch verlor sie kein Wort, wie sie es Alex versprochen hatte.
„Man... wann gehen wir denn heute hin?“, fragte sie leise, als die Klingel sie auch für diesen Tag erlösten.
Alex seufzte leise, öffnete ihren Spinnt, legte ihre Bücher ab und sah sie an.
„Du kannst es nicht lassen, oder? Wir werden noch früh genug dahin kommen. Es wird dir keiner zuvorkommen.“, versuchte sie Chris zu beruhigen, doch die hüpfte immer wieder von ihrem rechten Fuß, auf den Linken und wieder zurück.
„Ja, aber wenn mir dann doch jemand zuvorkommt? Ich kann einfach nicht mehr warten.“, entgegnete sie wieder so aufgeregt, wie nie zuvor.
Langsam verließen sie die Schule und gingen nach Haus.
„Wieso? Ist doch nur ein Kabinett mit unzähligen Spiegeln. Ich versteh nicht, warum du dich daran so hochziehst. Ist es, weil es das größte überhaupt ist?“, fragte Alex weiter, doch schien jetzt schon wieder etwas genervt zu sein.
„Du musst es einfach sehen.“
Und mit diesem Satz kamen sie auch schon bei Alex an.
„Ich hol dich dann nachher ab und wir fahren zusammen, oder?“, fragte sie Chris noch, bevor sie die Haustür aufschloss.
„Ja, okay. Vielleicht kannst du ja in einer Stunde kommen. Ich muss nur noch auf meine Mutter warten und hätte dann Zeit.“, schlug Chris vor.
„Geht in Ordnung. Eine Stunde und dann bist du endlich zufrieden. Dann kann ich dieses Kabinett endlich vergessen und auch die letzten drei Tage, die mich einige meiner Nerven gekostet haben.“, wiederholte Alexandra noch einmal und setzte dann einen Schritt ins Haus hinein.
„Gut, dann bis nachher.“
Schließlich ging Christina los und beide trennten sich, wenn auch nicht für lange.
Zuhause angekommen machte Chris erst einmal ihr Zimmer sauber, wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte, dann wartete sie weiter auf ihre Mutter, die sie kurz brauchte und irgendwann klingelte es an der Tür.
Es war, als hätte Chris ganz vergessen, dass sie mit Alex verabredet war, denn sie hatte in diesen 60 Minuten keine einzige Freie.
„Hey, du bist schon da?“, fragte sie verwundert, als Alex eintrat und ihre Mutter begrüßt hatte.
„Ja, ich hab mich sogar verspätet. Ich dachte schon, du machst mich wieder voll. Wenn es etwas gibt, das dir wichtig ist, dann ist doch schon eine Sekunde schlimm, die man zu spät kommt.“, entgegnete Alex ihr jedoch und blickte auf ihre Uhr.
Chris sah sie an.
„So schlimm bin ich auch nicht.“, protestierte sie verärgert und holte ihr Tasche, die sie auch noch gepackt hatte.
„So schlimm? Na ja, du musst es wissen.“, erwiderte Alex noch einmal und dann gingen die beiden los.
Alex hatte Schwierigkeiten mit Chris mitzuhalten, als sie die Straßen, in denen es heute von Leuten nur so wimmelte, entlang fuhren. Es schienen sogar einige aus anderen Städten zu kommen, nur um in dieses Kabinett zu gehen. Immerhin war es ja das größte, wie es hieß. Und Chris hatte keinen Zweifel daran.
Außer Atem kamen sie in der überfüllten Stadt an. Es drängelten sich die Leute, wie in einem Erlebnispark, um in das Kabinett zu kommen. Wäre ein Schild am Ende angebracht, um die Wartezeit anzuzeigen, dann hätte Chris schwören können, dass sie nicht unter einer halben Stunde lag.
„Müssen wir uns da wirklich anstellen?“, murrte Alex leise und blickte sich auf dem Weihnachtsmarkt um.
Es war sonst alles so, wie letztes Jahr. Die gleichen Stände und sie hätte schwören können, sogar die gleichen Verkäufer. Überall roch es nach Bratäpfeln, gebrannten Mandeln und vor allem nach Zuckerwatte, die es zu kaufen gab.
Von Rechts drangen ein paar Schreie an ihre Ohren, denn es gab noch ein anderes Karussell, das auch ziemlich gut besucht war.
„Ja, wenn wir uns jetzt anstellen, dann haben wir es gleich hinter uns.“, entgegnete Chris ihr nur überwältigt und war schon an die Kasse gesprungen, um zwei Karten zu kaufen.
Alexandra folgte ihr nur widerwillig, doch nach nur wenigen Minuten standen sie auch schon inmitten der Warteschlange.
Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging, bis eine kleine Frau vor ihnen stand mit rabenschwarzem Haar und durchdringendem Blick.
„Ah, noch zwei junge Damen, die ihr inneres Ich finden wollen, hab ich nicht Recht?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme, doch Chris reichte ihr nur die Karte und drängte sie, sie abzureißen.
„Seit ihr euch auch wirklich sicher, dass ihr hier rein wollt? Es gibt welche, die nie wieder herausgefunden haben.“, machte die Frau weiter und ein breites Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit.
„Wir sind sicher, Danke.“, entgegnete Chris hibbelig und Alex schien sich die Worte jedoch durch den Kopf gehen zu lassen.
Dann schleifte Christina sie auch schon hinein. Es war zwar alles so wie am Dienstag, doch in dem Licht, mit dem die Spiegel nun angestrahlt wurden, wirkte alles anders.
Alexandra sah sich um. Sie hörte gar nicht, was Chris murmelte, denn auch sie war nun vollkommen in dem Bann der Spiegel.
„Wahnsinn.“, hauchte sie leise.
„Ja, oder?“, entgegnete Chris und schon schleifte sie Alex auch wieder weiter, denn sie rührte sich nicht und von hinten rutschten ein paar Leute nach. „Lass uns gehen und warten, bis das Kabinett ein bisschen leerer wird.“, schlug Chris ihr wieder vor und Alex stimmte nickend zu und blickte sich noch immer um.
Sie gingen nach Rechts, genau wie Christina es am Dienstag getan hatte und stellten sich in irgendeine Ecke. Ständig kamen Leute an ihnen vorbei, die gegen irgendwelche Spiegel liefen, in der Hoffnung, dass es da weiterging. Und nach geschlagenen 43 Minuten schienen keine Leute mehr zu kommen, denn nur ab und an marschierten Jungendliche hindurch, die jedoch bald verschwunden waren.
Erst als sie außer Sicht waren, wagten Chris und Alex sich vor. Chris hatte den dunklen Spiegel noch direkt vor Augen und fand ihn auf Anhieb. Trotz der Lichtstrahlen wirkte er dunkel, wie das letzte Mal.
„Siehst du, wie dunkel er ist? Durch den Spiegel kannst du einfach durchgehen.“, erklärte sie Alexandra, die in ihn hineinsah.
Schließlich streckte Christina ihre Hand aus und glitt ohne zu zögern hindurch. Alex erschrak, tat es ihr aber nach, da sie schon wieder ein paar Stimmen im Rücken hörte.
Der Raum hatte sich seit Chris’ letzten Betreten nicht verändert. Noch immer waren die Wände schwarz und es gab kein Licht. Und auch der Spiegel war noch immer mit einem Tuch verdeckt.
„Jetzt wird es sich ja zeigen, was es ist.“, wisperte Chris und trat einen Schritt auf ihn zu, wurde jedoch von Alex am Arm gepackt.
„Ich bin nicht sicher, dass wir es tun sollten. Spürst du das nicht? In diesem Raum ist eine ganz komische Atmosphäre.“, hielt sie Chris auf.
„Ach, was? Willst du jetzt kneifen?“
„Nein, dass hat nichts mit kneifen zutun. Ich hab nur so ein dummes Gefühl. Wir sollten erst einmal...“
„Jetzt komm mir nicht wieder so. Du siehst ja auch in allem etwas Böses.“, sagte Christina etwas strenger, griff nach dem Tuch und zog es hinunter.
Sofort trat sie einen Schritt zurück.
Es war wirklich ein Spiegel. Ein sehr alter Spiegel. Er war vollkommen verstaubt und hatte einen goldenen Rand, wie Chris es Alex beschrieben hatte. Man konnte ihn nämlich unter dem Tuch sehen. Doch es waren nicht Christina und Alexandra, die sich in ihm spiegelten, sondern zwei andere. Durch den Staub konnte man die Gesichter nicht richtig entziffern. Aber es waren zwei Jungs, wie Chris bemerkte.
Sie hatten kurzes Haar.
„Wahnsinn.“, murmelte nun sie und trat erneut vor, doch auch dieses Mal griff Alex nach ihrem Arm.
„Chris, lass uns verschwinden.“, schlug sie vor. „Das sieht nicht gut aus.“
„Wieso nicht? Wahrscheinlich ist da noch ein Raum. Lass uns gehen. Wer weiß, was sich dahinter versteckt.“, entgegnete sie ihr, riss sich los und blickte ihr tief in die Augen. „Vertrau mir! Es kann hier doch nichts passieren.“
Alexandra überlegte stark, ob sie ihr glauben sollte, doch auch sie konnte nicht leugnen, dass sie es spannend fand, was sich hier überall verbarg. Also nickte sie ihr zustimmten entgegen und beide näherten sich dem Spiegel.
Chris, noch immer das Grinsen auf dem Gesicht, dass sie immer hatte, wenn sie neugierig war und Alex, die nicht wusste, ob sie es ihr gleich tun oder aber doch einfach zurückgehen sollte. Beide standen sie da. Und wieder war es wie ein Signal ohne Worte. Denn beide nickten sich mutig zu und strecken zur gleichen Zeit die Hand nach dem staubigen Spiegel aus. Doch dieses Mal versunken sie nicht in der Scheibe, sondern etwas trat ihnen entgegen. Sowohl Christina, als auch Alexandra. Chris wusste nicht, was geschah, doch Alex wusste, dass sie es nicht wissen wollte.
Schnell ließ sie von dem, was da aus dem Spiegel kam ab, riss auch Chris weg und war drauf und dran durch den anderen durchgängigen Spiegel wieder zu verschwinden. Christina jedoch blieb stehen und sah weiter dem zu, was passierte. Ihre Augen hatten sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, was ihr erleichterte die Umrisse zu erkennen.
Schließlich, nach nur wenigen Sekunden – auch wenn es Alex und Chris wie Stunden vorkamen – standen zwei Jungs in ihrem Alter vor ihnen.
Einer, mit pechschwarzem Haar, gestriegelter Frisur und einem piekfeinen Anzug und der andere mit braunem Haar, einer Jeans und einem Shirt, darüber eine Jeansjacke. Der Zweite lehnte sich an den Spiegel an, sobald er draußen war und sagte kein Wort, wobei der andere mit den schwarzen Haaren anfing zu sprechen.
„Na, toll.“, sagte er ungehalten und sah sich hektisch um, wandte sich dann aber Alex zu, die erschrocken zurückwich. „Warum hast du das getan?“
„Was... wer bist du?“, fragte diese geschockt zurück und ballte die Fäuste, um sich jeden Moment zu wehren.
„Wer ich bin? Ich bin du. Hast du nicht die Inschriften auf dem Spiegel gelesen. Du enttäuschst mich. Ich hätte mehr von dir erwartet. Vor allem, weil du jahrelang Latein gemacht hast. Für dich wäre es doch eine Kleinigkeit gewesen.“, machte er weiter, doch Alex bekam immer mehr Panik.
Was wollte der Kerl? Sie hatte ihn noch nie gesehen und doch kannte er anscheinend sie. Und das nicht zu knapp.
Hilfesuchend sah sie zu Chris, die jedoch nur Augen für den braunhaarigen Typen hatte, der sich noch immer nicht bewegt hatte und weiter am Spiegel anlehnte.
„Mike?“, murmelte sie schließlich und trat näher.
Zum dritten Mal zog Alex sie zurück.
„Okay, was wird hier gespielt? Das hast du doch alles wieder inszeniert, oder?“, fuhr sie ihre beste Freundin an, und hoffte insgeheim, dass es so war, auch wenn sie sich schwor, Chris dafür zu bestrafen, ganz gleich, wie.
„Ich weiß es nicht.“, entgegnete Christina jedoch zu Alex’ Enttäuschung und nun blickte sie den Jungen mit den schwarzen Haaren an.
„Du bist sie? Was laberst du da?“, fragte sie ihn, doch er schien empört.
„Ich laber nicht. Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Sie hätte die Inschriften...“
„Welche Inschriften?“, mischte sich Christina weiter ein und wieder zuckte er zusammen, empört über ihr Verhalten.
„Die Inschriften an den Seiten.“, antwortete er jedoch und wies mit seiner Hand darauf, während Mike sich nun erhob und zu Chris schlurfte.
Sie machte keinen erschrockenen Schritt zur Seite, wie Alex, denn sie kannte Mike ja schon. Sie hatte ihn schon einmal getroffen und da hatte er ihr das Leben gerettet. Warum sollte sie also Angst vor ihm haben, nur weil er aus einem Spiegel kam?
„Chris, sag dass das nicht wahr ist.“, bettelte Alex nun schon fast kläglich.
„Was soll ich dir groß erzählen?“, erwiderte diese jedoch nur und verstand noch immer nicht, was hier vor sich ging.
Da standen sie nun. Christina, die nervös von Mike zu dem anderen blickte und Alex, die so blass war, dass man sie vor eine weiße Wand hätte stellen können. Und dann noch Mike, der noch immer kein Ton sagte und der Schwarzhaarige, der Alex und Chris vorwurfsvoll anblickte, wieso auch immer.
„Okay, wer bist du?“, fragte nun Alexandra schließlich und der Unbekannte blickte in den Spiegel und zupfte sein Haar zu recht.
„Mein Name ist Tom.“, sagte er dann zu ihr, als er sich vom Spiegel abgewandt, sich ihr genähert und ihr die Hand gereicht hatte.
„Tom, also gut. Schön, dann hätten wir das ja auch geklärt, aber du kannst ruhig wieder gehen. Ich meine, ich werde deinen Ratschlag beherzigen und du kannst wieder in den Spiegel zurückkehren, aus dem du gekommen bist.“, sagte Alex zu ihm, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Ich kann nicht, auch wenn du es dir so sehr wünschst. Ich bin genauso gerne hier, wie du mich hier haben willst.“, widersprach er ihr nur ungern. „Falls es euch beruhigt. Nicht wahr Mike?“
Chris sah, wie er nickte, jedoch noch immer kein Wort sprach.
„Was? Chris sag doch auch mal was.“, kreischte Alex nun Christina an, die jedoch nichts vernünftiges zu sagen hatte.
„Was wollt ihr jetzt machen?“, fragte sie Mike, doch Tom antwortete.
„Keine Ahnung. Ich meine, wir kommen aus einem Spiegel. Ich denke, wir müssen mit zu euch kommen, wenn es euch nichts ausmacht. Immerhin sind wir auch ihr, auch wenn es verrückt klingt.“, sagte er.
„Was? Wie stellt ihr euch das vor? Ihr könnt doch nicht einfach auftauchen und dann bestimmen, dass ihr mit zu uns kommt. Was ist, wenn wir euch nicht wollen? Was ist, wenn wir da nicht mitmachen wollen? Oder Christina?“, mischte Alexandra sich aufgebracht ein und starrte von einem Gesicht ins andere.
Chris war zusammen gefahren, als Alex ihren vollen Namen ausgesprochen hatte.
So etwas machte sie eigentlich sonst nie. Nicht mehr, seit der zweiten Klasse.
„Alex, beruhig dich.“, fing sie zögernd an. „Ich denke, Tom hat Recht. Ich meine, wenn sie nun mal nicht mehr zurückkönnen, dann können auch wir sie nicht hängen lassen. Ich denke nämlich nicht, dass Tom lügt.“
Chris hätte schwören können, dass Alex den Tränen nahe war und dennoch hätte ihr Blick auch gleichzeitig jemanden töten können.
„Wollen wir ihnen nicht wenigstens eine Chance geben? Wenn es doch Blödsinn sein sollte, schmeißen wir sie einfach raus.“, fügte Chris noch hinzu, jedoch so, dass auch nur Alex es hören konnte.
Noch immer schüttelte sie den Kopf.
„Mensch, Alex. Sei nicht so stur. Was ist denn daran so schlimm? Ich würde ja beide bei mir aufnehmen, aber ich kann nicht. Du musst Tom einfach bei dir wohnen lassen. Es ist doch nur vorrübergehend.“, erwiderte Chris erneut und Alex sah zu Tom, dessen Blick sich noch immer nicht verändert hatte.
Er sah so selbstzufrieden und so ordentlich aus, dass es Alexandra fast hochkam.
Widerwillig nickte sie schließlich, doch die Farbe in ihrem Gesicht wurde noch ein Tick heller, obwohl das schon fast nicht mehr ging.
„Und was werde ich meinen Eltern sagen?“, fragte sie noch einmal nach, bevor sie auch nur einen Schritt weiter ging.
„Das regele ich schon.“, antwortete Christina nur kurz und nach wenigen Sekunden, die Alex Tom anstarrte, war sie auch schon wieder durch die Spiegeltür verschwunden.
„Ist sie immer so?“, fragte Tom genervt, als sie sich entschieden, ihr zu folgen.
„Nicht immer. Eigentlich ist sie sehr umgänglich. Man muss sie nur besser kennen lernen. Du machst das schon.“, antwortete Christina, warf Mike, der ihnen ebenfalls still folgte, einen Blick zu und dann verließen sie auch das Hinterzimmer, in dem der Spiegel noch immer stand, nur mit dem Unterschied, dass das Tuch nicht mehr davor hing und auch der Staub nicht mehr so dick auflag.
Es war wie ein stechender Schmerz, als die vier in den orangeroten Himmel blickten, denn die Sonne begann bereits unterzugehen.
Alex war bereits draußen, als die anderen drei sie eingeholt hatten.
„Willst du noch in die anderen Attraktionen, oder können wir endlich gehen?“, pflaumte sie Chris sofort an.
„Nein, wir können gehen.“, erwiderte sie und alle gingen los.
Tom ging direkt neben Christina, Mike und Alex hinter den beiden. Er sah weiter zu Boden und sprach kein Wort, doch Alex murmelte immer wieder irgendwelche Sätze wie „Was fällt dem Idioten eigentlich ein“ oder „Ich hätte mich nie dazu überreden lassen sollen“.
Endlich an den Fahrrädern angekommen, schlossen Chris und Alex sie ab und schoben sie vor sich hin.
„Wieso wart ihr im Spiegel?“, fragte Christina gerade Tom, als Alexandra und Mike zu ihnen aufschlossen.
„Wieso? Weil wir eigentlich nur Spiegelbilder sind. Wir sind so gesehen ein Bild eurer Seele. Nicht genau ihr und auch nicht genau das Gegenteil. Ich weiß also auch nicht genau, was wir sind. Jedenfalls gehöre ich zu ihr.“, antwortete Tom ihr und nickte dabei zu Alexandra, die immer noch weiter schmollte.
„Ich hab Mike das letzte Mal schon in einem der Spiegel gesehen. Wie kam das? Kannst du mir das erklären?“, machte sie weiter und sah erneut zu Mike, der in den Himmel starrte und die Sterne zu zählen schien.
„Es tut mir Leid. Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich bin nur ein Teil eines Ganzen, das ich nicht geschaffen habe.“, antwortete er.
Den Rest des Weges schwiegen alle.
Plötzlich nieste Chris.
„Hier nimm.“
Diese Stimme. Chris hatte sie schon einmal gehört, auch wenn derjenige damals genauso wenig gesprochen hatte. Es war Mike, der ihr seine Jacke reichte. Er erwiderte ihren Blick. Es war, als würde Chris wirklich in einen Spiegel blicken. Die Augen ähnelten ihren wirklich sehr, auch wenn das übrige Erscheinungsbild nicht ganz dem entsprach, wie sie aussah. Immerhin hatte sie blondes Haar und kein Braunes und auch die Größe passte nicht, genauso wenig wie bei Alex und Tom. Er war fast ganze drei Köpfe größer als sie.
„Danke.“, murmelte sie schließlich und nahm die Jacke an sich.
Sie war warm und sehr bequem. Und der Geruch von Mike glich ihrem auch sehr, auch wenn er nicht so feminin roch.
 
Sie kamen kurz nach 18.00 Uhr bei Christina an. Ihre Mutter war zum Glück nicht da.
Als sie in ihrem Zimmer saßen, brach erneut totales Schweigen aus. Da Chris das aber nicht mochte, sprang sie als erste auf.
„Also gut, ich hab da noch eine Frage.“, fing sie an und zog damit alle Blicke auf sich.
„Wenn ihr nun hier seit in unserer Welt, wie war dann eure Welt vorher?“, fragte sie.
Damit löste sie jedoch nicht das aus, was sie erhofft hatte.
Mike sah sie an, schien aber nicht antworten zu wollen. Vielleicht wusste er nicht was, oder aber es gab nichts zu antworten, denn auch Tom blickte nichtswissend drein.
„Überschlagt euch nicht mit Antworten.“, sagte Chris noch einmal.
„Was sollen wir da antworten? Es gibt nichts Interessantes zu berichten. Es ist genauso eine Welt, wie diese. Es gibt Menschen, sowie Tiere. Es gibt Farben und Dinge. Es gibt Straßen und es gibt Naturgewalten. Es gibt sogar Fremdsprachen. Vielleicht sogar dieselben, wer weiß? Ich hab ja noch nicht viel von dieser Welt gesehen. Dennoch gibt es einige Unterschiede. Es sind mehr die Gegenteile, die unsere Welt beherrschen. Unsere Welt verläuft parallel zu eurer, kann man also so sagen.“, sagte Tom und blickte zu Mike.
„Ja.“, erwiderte auch er nur knapp.
„Aha. Aber sonst ist da alles genauso, wie bei uns?“, wollte Christina erneut wissen und starrte Tom erwartungsvoll an, der gerade wieder loslegen wollte.
„Nein.“, kam Mike ihm dennoch zuvor und auf einmal schien Tom nichts hinzufügen zu wollen, was diesen Satz nähert ausformulierte.
Alexandra beobachtete ihn und versuchte nachzuvollziehen, warum er so schweigsam war. Er sagte nur kurze Worte wie „Ja“ und „Nein“ oder andere, die nur eine Silbe lang waren. Wieso sprach er nur so wenig? War es, weil gerade Chris so viel sprach und es somit ein Gegenteil war. Alex war tief in Gedanken versunken, als Tom sie irgendwann ansprach.
„Wollen wir langsam los? Es ist schon dunkel.“, fragte er Alex.
„Ja, ist ja auch schon“, sie sah schnell auf die Uhr und ihr Atem stockte, „erst 19 Uhr.“
Chris beobachtete die beiden und fand es irgendwie amüsant, wie sie miteinander umgingen. Die beiden hatten noch kein Wort gewechselt, was nicht feindselig war.
Es fing ja schon in dem Hinterzimmer des Kabinetts an und war bis hier gegangen.
„19 Uhr bin ich immer noch unterwegs. Wieso willst du los? Morgen ist außerdem Samstag.“, fuhr sie Tom an und zwang sich, nicht laut zu werden.
„Bloß weil Samstag ist, heißt das nicht, dass man bis 12 Uhr schlafen muss. Es gibt vieles, was man bis dahin schon erledigt haben kann. Zum Beispiel Hausaufgaben, dann hat man den restlichen Tag frei oder man könnte auch im Haushalt helfen. Ich denke, deine Eltern würden sich freuen.“, erklärte er ihr ruhig, jedoch mit etwas Anspannung in der Stimmung.
„Was? Machst du mir etwa Vorschriften? Machst du mir Vorschriften?“, kreischte sie nun und war aufgesprungen. „Denkst du, bloß weil du drei Meter größer bist, hast du das Recht, mich herumzukommandieren. Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden und mir nicht von einem ebenso Altriegen etwas sagen zulassen. Schreib dir das hinter die Ohren!“
Toms Miene verzog sich kein Stück.
„Hätte ich gewusst, dass du so anstrengend bist, dann hätte ich mich freiwillig versucht, wieder in den Spiegel zu zwängen. Wäre sicherlich amüsanter, als hier neben dir zu sitzen und mir dieses Gezeter anzuhören.“, sagte er.
Alexandras Atem ging stockend und ihre Augen quollen über vor Wut.
„Wiederhol das noch einmal.“, knurrte sie ihn an und Chris merkte, dass sie erneut ihre Fäuste ballte und ihre Knöchel weiß anliefen.
„Okay, Stopp!“, rief nun Chris dazwischen und hielt Tom auf, bevor er Alex’ Aufforderung nachkommen konnte.
„Ich würde vorschlagen, ihr geht jetzt wirklich. Ein bisschen frische Luft würde euch gut tun.“, sagte sie.
„Lass mich nicht allein mit ihm!“, murmelte Alex Chris wütend zu. „Das überlebt er nicht. Glaub mir, ich weiß nicht, wozu ich gerade im Stande bin.“
Sie warf Tom einen Blick zu, den man nicht beschreiben konnte, doch er wirkte noch immer gelassen.
„Er stirbt! In der ersten Kurve, das sag ich dir.“, machte sie weiter, als er sein Haar zurück strich und hochnäsig aus dem Fenster sah.
„Komm schon. Im Großen und Ganzen ist er doch ganz nett. Man muss ihn sicherlich nur besser kennen lernen. Das wird schon. Ich wette, am Montag seit ihr die besten Freunde.“, erwiderte Christina jedoch nur und schob Alex zur Tür.
Tom stand ebenfalls auf, verabschiedete sich von Mike und dann folgte er den Mädchen.
„Weißt du, dass du ganz allein an diesem Desaster schuld bist?“, fragte Alexandra, als sie gerade in ihre Schuhe stieg. „Eigentlich müsste ich dich hier und jetzt...“
„Ja, ich weiß. Ich gehöre in die Hölle. Wie oft du mir das schon gesagt hast, weiß ich nicht mehr, aber ich weiß es. Du brauchst es nicht zu wiederholen. Aber woher sollte ich das denn wissen? So etwas ist mir doch auch noch nie passiert.“, unterbrach Chris sie jedoch, bevor sie aussprechen konnte.
„Wie gut, dass du das weißt.“, entgegnete Alex ihr und sah dann Tom an, der in den Türrahmen trat und fast oben ankam.
„Können wir?“, fragte er.
„Ja.“, fauchte Alex zurück, warf Christina noch schnell einen unergründlichen Blick zu und stieg dann die drei kleinen Treppen hinunter.
Tom murmelte zu Chris „Bis bald“ und folgte ihr, obwohl er genau zu wissen schien, wo er lang musste.
Chris beobachtete die beiden noch lange, um sicher zu gehen, dass Alex sich nicht wirklich auf ihn stürzte, um ihm die Kehle zu zerreißen.
Als die beiden verschwunden waren, ließ sie die Tür ins Schloss fallen und kehrte zu Mike zurück.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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