Chris Rollinger

Doppelwelten (Arbeitstitel) - Teil 1


Ich schlug die Augen auf und mein Blick fiel auf zartrosa
luftige Vorhänge, Blumen und allerlei kitschigen Zierrat. Wo war ich? Bei einer
Dirne? Einer Geliebten? Meinem Weib? War ich überhaupt verheiratet? Ich
vermochte mich an nichts zu erinnern, in meinem Kopf herrschte nur Nebel.
Langsam und vorsichtig drehte ich den Kopf nach beiden Seiten, da ich nicht
wusste, welcher Anblick mich erwartete, denn mir fiel zu allen drei Optionen
kein dazu passendes Gesicht ein. Doch das Bett war, bis auf meine Wenigkeit,
leer und sah auch nicht so aus, als hätte es, zumindest für diese Nacht, eine
zweite Person beherbergt. Müde, zerschlagen und verwirrt stand ich auf und
schlurfte zu einem Waschtisch. Mit beiden Händen griff ich in die
Waschschüssel, um mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten und die
Müdigkeit zu vertreiben. Dabei fiel mein Blick in den darüber hängenden
Spiegel. Der Schrei des Entsetzens, der sich in meiner Kehle formte, fand
seinen Ausdruck schließlich in einem keuchenden Krächzen einer viel zu hohen
Stimme. Das junge Gesicht, das mich aus dem Spiegel heraus mit weit
aufgerissenen Augen anstarrte, war ganz offensichtlich meines. Und
unzweifelhaft weiblich. Langes, dunkel wallendes Haar umgab ein schmales,
ziemlich hübsches Gesicht mit vollen Lippen und dunkelgrünen Augen. Der
schlanke Hals ging in einen wohlgeformten, kleinen und festen Busen über.
Unbewusst stieß ich einen anerkennenden Pfiff aus. Sicherlich ein Anblick, der
mir auf der Straße aufgefallen wäre, doch mein Gegenüber im Spiegel war mir
vollkommen fremd. Noch viel schlimmer als die Tatsache, dass ich mich nicht an
mich selbst erinnern konnte, war der Umstand, dass mein ganzes Denken und
Fühlen eindeutig das eines Mannes war. Wie vom Schlag getroffen taumelte ich
zum Bett zurück und ließ mich schwer auf die Bettkante fallen. Ich stützte den
Kopf in die Hände. Mein Körper, der nicht der meine war, schüttelte sich, ob
vor unterdrücktem Lachen oder Schluchzen, wusste ich nicht. Beinahe überhörte
ich das zaghafte Klopfen an der Tür. Langsam hob ich den Kopf und rief
unsicher: „Ja?“ Meine eigene Stimme, die mir so fremd war, wollte mir nicht
richtig gehorchen. Die Tür öffnete sich einen Spalt und eine junge Magd schaute
scheu ins Zimmer, den Blick ergeben gesenkt.
"Es ist Zeit, Mylady. Der
Herr erwartet Euch. Darf ich Euch beim Ankleiden behilflich sein?“
Der Herr? Welcher Herr? Mein Ehemann? Der Gedanke war fast
zu absurd, um ihn richtig zu Ende zu denken. War ich etwa doch verheiratet?
Langsam wurde mir immer unbehaglicher zumute und ich verspürte einen Anflug von
Angst, obwohl ich mir aus irgend einem Grund sicher war, früher, wann und wo
auch immer das gewesen sein mag, Angst nicht gekannt zu haben. Was sollte ich
tun?! Mir fiel ein, dass die Magd immer noch an der Tür stand und auf eine
Antwort wartete.
„Ist gut...“ sagte ich, mit noch
immer leicht zitternder Stimme. „Ich komme allein zurecht. Ich bin... gleich
da.“ Weil mir noch rechtzeitig einfiel, dass ich nicht einmal wusste, wo dieses
„da“ eigentlich war, fügte ich schnell hinzu: „Aber warte vor der Tür auf mich
und begleite mich dann, ja?“
Die Magd wirkte für einen Moment überrascht, aber murmelte
dann leise eine Zustimmung und schloss rasch und lautlos die Tür hinter sich.
Ich verspürte keine Erleichterung. Also war das Gesicht im Spiegel keine
Halluzination gewesen. Die Magd hatte mich Mylady genannt, nicht Mylord. Ach
ja, und sie hatte etwas von Ankleiden gesagt. Ich trug ein Nachthemd, das sich
jetzt, wo ich ihm zum ersten Mal Beachtung schenkte, seltsam anfühlte, ungewohnt
und irgendwie verkehrt. Unschlüssig drehte ich mich im Kreis, bis mein Blick an
einem eichenen Kleiderschrank hängen blieb. Mit energischem Ruck zog ich die
Türen auf. Und hätte sie am liebsten wieder zugeschlagen. Darin hingen jede
Menge aufwändig gearbeiteter Kleider. Doch was hatte ich eigentlich im Zimmer
einer Frau erwartet?! Wahllos nahm ich eines heraus und drehte es unschlüssig
hin und her. In Ermangelung anderer Alternativen musste ich wohl oder übel so
ein Ding anziehen. Wütend zupfte ich an den zahllosen Schnüren und Haken herum
und hatte keine Ahnung, wie ich da hineinkommen sollte. Fast war ich versucht,
doch die Magd um Hilfe zu bitten. Zwar war der Gedanke, die zarten Hände einer
Frau auf meinem Körper zu spüren, mehr als verlockend, jedoch fand ich es in
meiner gegenwärtigen Situation doch etwas unangebracht. So quälte ich mich,
mehr schlecht als recht, in das Kleid, was eine Ewigkeit zu dauern schien, und
mein Respekt Frauen gegenüber wuchs, die so ein kompliziertes Gebilde in kurzer
Zeit anziehen und sich außerdem noch voll Leichtigkeit und Anmut darin bewegen
konnten. Für mich war es ein einziger Krampf, doch das größte Problem erwartete
mich noch in Form von unmöglich unbequem aussehenden Schuhen - mit Absatz! Ich
hatte da zwar eine ganze Reihe zur Auswahl, doch half mir dies nicht viel
weiter, da sich alle recht ähnlich waren. So wählte ich ein Paar, das mir noch
einigermaßen tragbar aussah. Überraschenderweise passten sie ganz gut,
allerdings war das Gehen auf Absätzen ziemlich ungewohnt und mühsam. Meine
Haare bürstete ich nur kurz durch und ließ sie einfach offen herabfallen. Nach
ein paar weiteren Übungsschritten wagte ich es, die Tür zu öffnen und kam mir
in meinem Aufzug recht albern vor. Halbwegs erwartete ich, dass die Magd in
Gelächter ausbrechen würde. Stattdessen knickste sie nur vor mir und meinte
ehrfürchtig: „Ihr seht hinreißend aus, Mylady. Der Herr wird sehr erfreut
sein.“ Ah, schon wieder dieser mysteriöse Herr! Ich konnte wohl schwerlich
danach fragen, wer sich dahinter verbarg, und so schritt ich (Oh ja! Ich
brachte es tatsächlich fertig zu schreiten!) in stolzer Ergebenheit hinter der
Magd her, als ginge ich zu meiner eigenen Hinrichtung. Allerdings versäumte ich
es instinktiv nicht, meine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen. Als ich
mich kurz umwandte, bemerkte ich mit leisem Erschrecken eine Wache neben der
Tür, aus der ich gerade gekommen war. Die Wache nickte mir jedoch nur höflich
zu, dann starrte sie wieder ausdruckslos geradeaus. Vielleicht nur eine
Ehrenwache, so vermutete ich, denn alle Umstände ließen darauf schließen, dass
ich wohl kein Gefangener (keine Gefangene, berichtigte ich mich zähneknirschend
in Gedanken) war. Ich versuchte, etwas Vertrautes an der Rüstung der Wache zu
entdecken, doch ich kam lediglich zu der Schlussfolgerung, dass sie langweilig,
unpraktisch und zudem mit zu viel Gold verziert war. Das Wappen, das auf der
Brust des Mannes übergroß prangte, sagte mir ebenfalls nichts: eine Schlange,
die sich um einen Felsen wand, über dem ein großer Vogel, vielleicht ein Adler
oder ähnliches, kreiste. Meine Musterung des Wachmannes hatte nur wenige
Herzschläge gedauert, allerdings schien es die Magd eilig zu haben, denn sie
war in dem kurzen Gang aus grob behauenen Steinquadern schon ein ganzes Stück in
Richtung einer Treppe, die nach unten führte, vorausgeeilt. So kam ich nicht
dazu, mir die Gobelins, die links und rechts an den Wänden hingen, näher zu
betrachten, allerdings schienen sie nur Jagdszenen zu zeigen. Und noch etwas
fiel mir auf. Die Tür zu dem Gemach, in dem ich erwacht war, war die einzige
auf diesem Gang. Es blieb nur ein Weg. Der nach vorn, zu diesem mysteriösen
Herrn. Die Magd war am oberen Treppenabsatz stehen geblieben und wartete
geduldig auf mich und so beeilte ich mich, ihr zu folgen. Ich hoffte nur, dass
meine Unsicherheit nicht auffiel und niemand merkte, dass irgend etwas nicht
stimmte. Zunächst, beschloss ich, musste ich herausfinden, wer ich war und wo
ich mich befand. Danach konnte ich weitere Schritte unternehmen. Doch zunächst
galt es, eine weitere unerwartete Schwierigkeit zu überwinden – die Treppe. Das
Gehen mit diesen ungewohnten Absätzen auf ebener Strecke ging ja noch, doch die
Stufen stellten eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Die Magd hatte schon
fast den unteren Absatz erreicht, als ich meine Füße auf die oberste Stufe
setzte. Vorsichtig wankte ich nach unten, mich regelrecht am Handlauf
festklammernd. Als ich kurz aufschaute, traf mich der besorgte Blick der jungen
Magd.
„Ist mit Euch alles in Ordnung?
Soll ich Euch stützen?“ Abwehrend hob ich eine Hand und wäre beinahe gestürzt.
„Nein, nein. Es geht schon. Nur
ein vorübergehender Schwindel. Keine Sorge, mir geht es gut.“ Ich war selbst
überrascht, wie glatt mir diese kleine Lüge über die Lippen kam, doch die Magd
schien tatsächlich beruhigt zu sein, denn sie setzte ihren Weg, wenn auch
langsamer, fort. Ich konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken, als
ich endlich am unteren Absatz ankam und sich der anschließende kurze Gang in
eine kleinere Halle weitete. Offensichtlich blieb mir eine weitere Treppe
erspart. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass die Halle fast leer
war. Zwei weitere Gänge wie der, aus dem wir jetzt traten, mündeten links und
rechts ebenfalls in die Halle, zudem gab es noch fünf Türen. Eine davon lag uns
direkt gegenüber und schien die Eingangstür zu sein. Sowohl vor jeder Tür, als
auch neben jedem Gang standen je zwei Wachen wie der Posten, der auch vor
meinem Gemach gestanden hatte, mit ebensolchen unpraktischen und überladenen
Rüstungen und dem gleichen ausdruckslosen Gesicht. Unbeeindruckt steuerte die
Magd auf eine der beiden linken Türen zu, klopfte kurz und öffnete,
offensichtlich auf eine Antwort von innen, die Tür für mich. Nach einem letzten
tiefen Atemzug und innerlich wachsam und angespannt trat ich in den Raum und
blieb für einen Moment an der Tür stehen.  

Hallo Ihr Lieben! Traut Euch! Bewertet und kommentiert, was das Zeug hält, freue mich über jede Kritik und Anregung... ;)
LG
Chris
Chris Rollinger, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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