Gerhard Lange

Nur ein Tag in Sams Leben

NUR EIN TAG IN SAM'S LEBEN

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht und die Hitze schien unerträglich. Aber nicht nur die Luft war heiß, auch der Boden und ganz besonders die Steine waren heiß.
Obgleich Sam erst zwölf Jahre alt war, hatte er in seinem jungen Leben bereits viele solche Trockenzeiten hautnah miterlebt, die sich in so manchen Jahren mit sintflutartigen Regenfällen und weit verbreiteten Überschwemmungen abgelöst hatten. Der Grund für Sam's intensive Wahrnehmung des meist unbarmherzigen Wetters war die Tatsache, daß er den weitaus größten Teil seines Lebens draußen im Freien zugebracht hatte. Aber auch im Inneren ihres kleinen Hauses, wie er die Behausung, in der er mit seiner Mutter lebte, nicht ohne Stolz nannte, war er nie vollkommen geschützt vor den Auswirkungen des Wetters. Gewiß, das Haus linderte etwas die sengende Hitze der Trockenzeit und auch die Kühle der Regenzeit, aber es dauerte nie lange, bevor sich die Temperatur im Haus der Außentemperatur angeglichen hatte. Dies war hauptsächlich in den Hitzeperioden der Fall. Das war auch der Grund, warum er mit seiner Mutter, solange er zurückdenken konnte, sich draußen aufgehalten hatte. Während des Tages war es im Schatten der Bäume bedeutend angenehmer und nachts spürte man die willkommene Kühle. Im Inneren des Hauses war es in dieser Zeit immer gleichmäßig und unerträglich heiß. In der kühlen Regenzeit aber war es nur dann nicht naßkalt, wenn seine Mutter oder neuerdings auch er ein offenes Feuer angemacht hatte. Der große Nachteil war dabei jedoch immer, daß der Rauch des offenen Feuers nur durch die Tür oder durch die undichten Stellen im Dach abziehen konnte, dies aber anscheinend nur tat, wenn im Innenraum kein Platz für noch mehr Rauch vorhanden war. So schien es ihm immer. Inzwischen wußte er, daß Feuer zum Brennen eine Luftzufuhr benötigte und die frische Luft offensichtlich durch die Tür kam. Also mußte der Rauch versuchen, durch das Dach zu entweichen. Dies war bei der Planung des Hauses aber nicht vorgesehen. Vielleicht war sein Onkel ja doch nicht so ein großer Baumeister, wie er in seinem kindlichen Stolz immer gedacht hatte. Aber selbst vor dem Regen konnte das Haus keinen vollständigen Schutz bieten. Sam kannte zwar jetzt die Stellen an denen es stets durchtropfte und während des Regens fühlte er sich im Haus auch geborgen und war dankbar, daß es auch für seine Mutter und ihn ein Entkommen aus den tagelangen starken Regenfällen gab.
In der kalten Zeit war es schön, sich fest in seine Decke zu wickeln und von der Sonne zu träumen. Die Decke hatte er von seiner Mutter erhalten, als er alt genug war alleine zu schlafen. Zuerst mochte er diese Decke gar nicht, da sie ja das sichtbare Zeichen war, daß er nicht mehr bei seiner Mutter schlafen durfte. Es fiel ihm sehr schwer, sich daran zu gewöhnen. Hauptsächlich in den so richtig unangenehmen Nächten war es immer herrlich gewesen, sich stets noch dichter an seine Mutter drücken zu können. Aber diese Zeit lag jetzt ja schon einige Jahre zurück und mittlerweile war er auch stolz und dankbar für seine inzwischen alte Decke geworden, wußte er doch, daß längst nicht alle Jungen seines Alters eine eigene Decke hatten. Denen blieb nichts anderes, als sich mit Geschwistern eng zusammen liegend eine gemeinsame Decke zu teilen. Für die Jungen war das Warmbleiben aber eigentlich kein so sehr großes Problem, selbst wenn man sich mit mehreren eine Decke teilen mußte. Er war aber bereits alt genug, um zu wissen, daß die Kälte für die Alten ein wirkliches Problem war.
Sam hatte nur seine Mutter. Er wußte, daß seine Eltern aus einer anderen Gegend gekommen waren, aber er wußte nicht woher. So lange er erinnern konnte, hatten sie hier in diesem Tal gelebt. An seinen Vater, der von anderen Männern getötet worden war als Sam gerade ein Jahr alt war, konnte er sich eigentlich nicht erinnern. Da waren, wenn er zurückdachte, immer nur seine Mutter und er und manchmal noch Männer, die er Onkel nannte. Diese waren nett zu seiner Mutter und auch zu ihm gewesen und es war einer von ihnen, der zusammen mit einigen anderen dies Haus gebaut hatte.
Sam nannte es immer das Haus, obgleich er wußte, daß es nicht eigentlich vergleichbar war mit den meisten anderen hier im Tal. Aber der Bau des Hauses war das erste, was er genau erinnern konnte. Vorher hatten sie unter einem der großen Bäume gelebt, geschützt durch viele Zweige, die zwei Erwachsenen notdürftigen Schutz vor Wind und Regen boten. Sam war damals so klein, daß er noch ein Teil seiner Mutter gewesen war. Er wußte zwar von dieser Zeit, erinnern konnte er sie aber nicht. Seine Erinnerung und damit sein bewußtes Leben fing mit dem Bau des Hauses an. Daran hatte er bereits Anteil genommen, ja er hatte sogar mitgeholfen.
Wie stolz war er gewesen, als die kleinen Steine, die er gesammelt hatte, zum Ausfüllen der Wände zwischen den Holzstücken, die den Rahmen des kleinen Hauses bildeten, benutzt wurden. Aber viel öfter hatte er geweint, weil seine kleine Mithilfe nur belacht wurde. Die Männer machten ihre Witze über die kleinen Steine, die er anschleppte; ganz freundschaftlich zwar, aber es hatte ihn doch sehr verletzt. All das liegt jetzt Jahre zurück.
Dann waren da die verschiedenen Hochwasser gewesen. Die Leute im Tal, mit denen zusammen sie hier lebten, hatten ihre Häuser in bequemer Entfernung zum Wasser, zum Fluß, gebaut. Der Fluß war immer das Zentrum des Lebens in ihrem kleinen Tal gewesen. Die größeren Jungen hatten mit ihren Händen ein flaches Becken gegraben, in dem Sam zusammen mit anderen kleinen Kindern spielen konnte. Dort waren sie ganz sicher. Der Fluß, der hauptsächlich nach dem Regen viel Wasser führte, war an dieser Stelle schnellfließend und hatte sich in Millionen von Jahren ein tiefes Bett gegraben. Sam hatte seiner Mutter nie so recht geglaubt, wenn sie ihn vor der Tiefe des Flusses warnte und einmal wäre er tatsächlich fast ertrunken, wenn nicht einige mutige, schnell entschlossene größere Jungen eingegriffen hätten.
Das größte Erlebnis seiner Kindheit war aber doch die große Überschwemmung. Trotz der großen Geschwindigkeit mit der das Wasser durch das Tal floß, war es immer dichter an den oberen Rand der Uferböschung herangekommen, um dann zuerst an einer Stelle und schließlich an vielen Stellen über das Ufer zu fließen. Es dauerte nicht lange, bis ein großer Teil des Tales überschwemmt war. Überschwemmungen konnte er einige erinnern, doch diese war die schlimmste gewesen. Es war zwar keiner ertrunken, aber viele, die ihre Häuser in den tief gelegenen Teilen errichtet hatten, verloren doch ihr ganzes Habe. Sam und seine Mutter waren hiervon verschont geblieben, weil ihr Haus auf einem kleinen, nur wenige Meter hohen Erdhügel am Rande des Tales lag. Für Sam und die anderen kleinen Kinder waren das aufregende Tage gewesen. Die tragische Auswirkung für einige der Talbewohner hatte damals noch keinen Zugang zu der kleinen Welt der Kinder gefunden. Inzwischen war er aber alt genug geworden, um die mögliche Gefahr des Flusses zu verstehen.
Da war aber etwas, was ihn seit langem beschäftigte. Er war nicht besorgt oder beunruhigt, war sich aber andererseits nicht sicher, ob er nicht doch vielleicht Anlaß dazu habe. Es handelte sich um die Tatsache, daß er und seine Mutter auch nach den vielen Jahren, die sie jetzt hier lebten, immer noch Fremde in dieser eng verbundenen Gemeinschaft der Talbewohner waren. Er wußte, daß er anders war als die Jungen mit denen er täglich hier spielte. Oft schon hatten sie ihn mit besonderen Namen bedacht. Wann immer er seine Mutter fragte, hatte er bisher niemals eine Erklärung darüber erhalten, was denn der Unterschied war. So nahm er an, daß es etwas mit seiner Familie zu tun hatte, vielleicht auch wo sie herkamen. Könnte es sein, daß auch der Tod seines Vaters damit etwas zu tun hatte? Es war ihm nicht entgangen, daß seine Mutter von den Bewohnern des Tales nicht wie andere Frauen respektiert wurde. Wenn gemeinsame Arbeiten zu verrichten waren, hatte seine Mutter stets die Arbeiten machen müssen, die kein anderer tun wollte.
Als Sam sich jetzt dem Flußufer näherte, sah er eine Gruppe Jungen, für die er selbst durch einige dichte Büsche noch nicht sichtbar war. Einer seiner Spielkameraden sagte gerade: "Sie sollten überhaupt nicht hier sein, sie gehören nicht in unser Tal."
Ein anderer erwiderte: "Aber sie waren doch immer hier, solange wir alle zurückdenken können."
Ein kleiner dicker Junge sagte jetzt: "Meine Mutter sagt, daß sie zu denen gehören, die früher ab und zu zu uns ins Tal kamen. Sie kämpften mit unseren Leuten und sollen sogar einige mit sich fortgenommen haben."
"Ja, ich habe auch davon gehört. Sie sollen ja sogar anders aussehen wie wir. Ihre Haut hat nicht die normale Farbe. Man sagt, sie seien rosa."
"Oh, ich weiß nicht, ob man das alles glauben soll" sagte jetzt ein anderer.
Der kleine dicke Junge wollte sich aber nicht zufrieden geben: "Ist euch die Farbe von Sam's Haut noch nie aufgefallen? Zugegeben, sie ist nicht rosa, aber doch viel heller als unsere. Besonders nach einer kühlen Zeit, ohne viel Sonne. Ich sage euch, sie hätten längst getötet werden sollen. So sagt mein Vater jedenfalls."
"Das ist ausgesprochener Blödsinn. Du kannst doch unmöglich wollen, daß Sam und seine Mutter getötet würden, oder?"
"Ich weiß es nicht, aber mein Vater sagt, daß alle, die keine normale Hautfarbe haben, nicht gut sein können und nur Unglück in unser Tal bringen. Man weiß nie, was man von denen zu erwarten hat. Alle ehrlichen Leute haben schwarze Haut. Wissen wir denn, was sie wirklich sind?"
Sam wartete nicht ab, was noch alles gesagt werden würde. Benommen wie er war, konnte er sich kaum bewegen. War das das Ende seines Lebens und das seiner Mutter? Wenn die Erde sich in diesem Augenblick unter ihm geöffnet hätte, dann hätte er sich fallen lassen und alles wäre vorbei gewesen. Aber nichts passierte. Die Sonne brannte immer noch auf die Erde und auf alles, was sich auf ihr befand. An wen könnte er sich wenden? Seine Gedanken überschlugen sich, sein Herz klopfte wie wild und er fühlte sich am Ende seiner Kräfte.
Er widerstand dem Verlangen, sich auf den Boden zu legen. Orthu, dachte er, Orthu. Was würde Orthu sagen? Durfte er überhaupt mit Orthu reden? Würde Orthu ihm zuhören? Er hatte noch nie mit Orthu gesprochen. Orthu war der älteste im Tal, älter als irgendeiner von den anderen. Er wurde von allen respektiert und alle hielten sich an Orthus Worte. Nicht, daß er Befehle erteilte, aber bei wichtigen Fragen oder Streitigkeiten galt immer, was Orthu dazu zu sagen hatte. Er lebte für sich alleine am äußersten Ende des Tales und Sam hatte gehört, daß Leute sagten, Orthu sei zusammen mit den allerersten Siedlern ins Tal gekommen. Sicherlich war das übertrieben, denn so alt konnte selbst Orthu wohl nicht sein. Sam hatte ihn nur einige Male aus der Entfernung gesehen, als seine Mutter Nahrung hinbrachte. Er wurde von den verschiedenen Frauen des Tales abwechselnd verpflegt. Sam konnte sich erinnern, daß Orthu ihm sehr alt und gebrechlich vorgekommen war, mit weißem Haar und einem dünnen Gesicht, das mit unzähligen Falten und Fältchen durchzogen war. Es war Orthu, an den er sich wenden mußte. Wenn irgendein Mensch ihm einen Rat geben konnte, dann konnte das nur Orthu sein.
Sam hatte selbst bemerkt, daß er nicht so schwarz wie alle anderen war. Er wußte, daß sein Körper, obgleich dunkelbraun während der heißen Trockenzeiten, doch viel heller als der der anderen Kinder war. Weder seine Mutter, noch sonst einer, hatte jemals mit ihm darüber gesprochen, so daß er selbst bisher auch keinen Grund gehabt hatte, darüber nachzudenken. Von der Hautfarbe her hatte er sich auch noch niemals anders gefühlt als alle anderen Kinder, mit denen er spielte.
Jetzt hatte sich all das geändert. Plötzlich war er sich bewußt, daß er nicht nur aus einer anderen Gegend kam und sich dadurch von den Talbewohnern unterschied, nein, er war sogar minderwertig, weil er ja nicht einmal die normale Hautfarbe hatte. Alle Menschen waren ja schwarz, nur er nicht. Hieß das etwa, daß er in gewisser Weise mit einem der Tiere verglichen werden mußte, obgleich er doch sonst so war, wie all die anderen Jungen. Er hatte mit ihnen zusammen gelernt Kleinwild zu jagen, Feuer auch bei nassem Wetter zu entfachen und er hatte all die alten Geschichten, die von den Alten auf die Jungen übergehen, gelernt. Warum nur konnte er nicht so schwarz sein wie alle anderen Menschen?
Einzig und allein Orthu würde ihm einen Rat geben können. Er mußte jetzt sofort zu ihm. Er sprang vorwärts und rannte in einem großen Halbkreis um die Siedlung herum, mit dem Ziel, das äußerste Ende des Tales zu erreichen, ohne von den Bewohnern gesehen zu werden. Er rannte so schnell er konnte auf die Stelle zu, von der er wußte, daß Orthu sie um diese Tageszeit regelmäßig aufsuchte. Er würde jetzt, geschützt vor der Sonne, unter den weit herabhängenden Zweigen des großen Baumes oberhalb des Tales sitzen. Es fiel ihm nicht schwer, das Dorf ungesehen zu umgehen, da sich keiner in der Mittagshitze draußen aufhielt. Um diese Zeit waren es gewöhnlich nur die Kinder, die meist am Fluß zusammenkamen.
Jetzt näherte er sich dem großen Baum und er konnte Orthu auch bereits dort sitzen sehen. Er saß im Schatten des Baumes und seine Augen blickten über das Tal. Die Talbewohner sagten, daß er fast vollkommen erblindet sei. Sein feines Gehöhr hatte aber die sich nähernden schnellen Schritte wahrgenommen und er richtete seine Augen dem heranhastenden Jungen entgegen. Schließlich stand Sam vor Orthu. Seine Gedanken waren noch wild durcheinander und er hatte große Mühe ruhig zu atmen. Er war vollkommen erschöpft und dann begann er zu weinen. Seit seinem Fall von den Felsen, die er versucht hatte alleine zu erklimmen, als er sieben Jahre alt war, hatte er nicht mehr geweint.
Tränen liefen über sein Gesicht, als er jetzt versuchte zu sprechen. Bevor er aber etwas herausbrachte, sagte der alte Orthu: "Warum bist du gekommen?"
Sam stotterte: "Ich bin .."
"Ich weiß, wer du bist. Du bist der Sohn der Witwe. Was willst du?"
Unterbrochen durch sein Schluchzen erzählte er Orthu, was er gerade am Fluß überhört hatte. Orthu saß, nachdem er sich angehört hatte, was Sam zu sagen hatte, wie in Gedanken verloren unter seinem Baum. Nach einer, für Sam endlos erscheinenden Zeit sprach Orthu zu ihm.
"Setze dich dort hin," dabei zeigte er auf eine Stelle an seiner Seite, "und ich werde dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über das, was hier im Tal geschehen ist." Er sprach sehr langsam und leise. Jetzt machte er eine Pause und blickte in die Ferne.
"Ich weiß, daß die Leute sagen, ich sei blind. Aber in meinem Alter sieht man nicht nur mit seinen Augen. Was meine Ohren hören, zusammen mit dem was meine Nase riecht und meine Haut empfindet, gleicht das allmählich nachlassende Sehvermögen meiner Augen aus. Formen und Schatten können auch meine Augen immer noch wahrnehmen, aber im Laufe vieler Jahre habe ich gelernt, mich mehr auf die Wahrnehmung meiner anderen Sinne zu verlassen. Wenn ich jetzt über das Tal blicke, kann ich den Fluß hören, ich rieche die Vegetation um mich herum und ich fühle die Sonne auf meiner Haut. Das zusammen gibt mir ein Bild des Tales, das ich zusammenfüge mit den Bildern, die ich für viele, viele Jahre mit meinen Augen gesehen habe. Früher konnte ich mir nicht einmal vorstellen, daß man von hier oben den Fluß hören könnte. Jetzt kenne ich alle die verschiedenen Geräusche, die verschiedenen Gerüche und ich kenne das Wetter von verschiedenen Gefühlen auf meiner Haut."
Sam fürchtete sich, etwas zu sagen. Er befürchtete die Gedankengänge des alten Mannes zu unterbrechen. Hatte Orthu vergessen, warum Sam hier war?
Der Alte fuhr fort. "Ich war immer dagegen. Aber am besten erzähle ich dir die ganze Geschichte, so wie sie sich damals zugetragen hat. Wir waren bereits seit vielen Jahren hier, als eine andere Gruppe von etwa 30 Männern mit einigen Frauen und Kindern in, für unsere Verhältnisse, primitiven Booten den Fluß herauf kam. Sie suchten auch einen Platz um sich dort niederzulassen und zu siedeln. Wir waren ihnen damals zahlenmäßig weit überlegen, ja, wir hatten wohl fast doppelt so viele Männer bei uns. Den Fremden gefiel unser Tal und sie wollten es mit uns teilen. Wir aber meinten, daß das Tal zu klein für uns alle sei und sahen möglichen Zwist zwischen den beiden Gruppen voraus. Sie hatten zwei Gefangene bei sich, einen Mann und eine Frau, die zusammenzugehören schienen.
"Die Frau war schwarz, aber der Mann hatte die helle Farbe der Fremden, die ich einmal als ganz kleiner Junge, als ich etwa so alt war wie du jetzt bist, gesehen hatte. Das war zu einer Zeit, als wir noch mit vielen Familien zusammen wohnten. Noch bevor ich mit einer kleinen Gruppe fortzog und wir dann dieses Tal fanden. Die hellen Fremden brannten damals unsere Hütten nieder und töteten viele. Nur die jungen und starken Männer wurden von ihnen mitgenommen. Wir Kinder waren zusammen mit einer Reihe alter Männer und vielen Frauen in einem Versteck in den nahen Bergen, von wo wir aber alles hatten beobachten können.
"Hier bei den Neuankömmlingen war also einer von ihnen, der offensichtlich mit einer schwarzen Frau zusammen war. Wir trieben die anderen wieder in ihre Boote und verfolgten sie ein Stück den Fluß abwärts. Als wir dann ins Tal zurückkehrten, sahen wir zu unserem Erstaunen, daß sich die beiden Gefangenen befreit hatten und hier geblieben waren. Die Frau warf sich damals den Ältesten zu Füßen und bat für sich und den Mann, im Tal bleiben zu dürfen. Sie sagte, daß wenn wir sie fortjagen würden, sie unweigerlich von der anderen Gruppe getötet werden würden.
"Eine lange, hitzige Debatte unserer Männer entbrannte daraufhin. Einige waren dafür, sie sofort zu töten, da sie ja nur Unglück ins Tal bringen könnten. Die meisten Männer wollten sie fortschicken und nur einige wenige waren dafür, sie im Tal mit aufzunehmen. Ich selbst war dafür, sie fortzuschicken.
Dann geschah es, daß einer der Ältesten von einer Frau hörte, die Fremde erwarte ein Kind und daß ein Fortsenden sicheren Tod für Mutter und Kind bedeuten würde. Obgleich unsere Frauen keinerlei Hilfe bei der Geburt benötigen, so brauchen sie doch die Unterstützung der Familie. Darauf begann erneut eine lange Beratung und am Ende fand sich eine Mehrzahl, die für den Verbleib der Fremden war. Die Mehrzahl war allerdings sehr knapp.
"Zwei Monate später wurdest du geboren. Sie nannten dich Sam nach deinem Vater. Ungefähr ein Jahr später wurde dein Vater dann getötet, in der Nacht nach einem unserer Feste. Deine Mutter hätte in den anschließenden Jahren einen anderen Mann nehmen können, es bewarben sich genug, aber sie lehnte dies deinetwegen stets ab. Sie lehnte es auch ab, dir von deinem Vater zu erzählen, bevor du alt genug seist, um das Vorgefallene wirklich zu verstehen. Es tut mir leid, daß du das jetzt von anderen hören mußtest. Aber vielleicht bist du doch schon alt genug, um das Wichtigste zu verstehen.
"Du bist in der Vergangenheit als der Sohn eines Hellhäutigen angesehen worden und du wirst in der Zukunft so angesehen werden. Das ist so, obgleich deine Haut ungefähr so dunkel wie die deiner Spielkameraden ist. Du sprichst unsere Sprache und hast unsere Rituale und alles andere von uns gelernt. Es widerstrebt mir, dir zu sagen, was du tun mußt, aber ich kann dir nur den guten Rat geben, fortzuziehen und zu versuchen Menschen zu finden, deren Haut nicht ganz so dunkel wie die unsere ist. Ich weiß, daß es früher solche weiter unten am Fluß gegeben hat.
Du kamst zu mir. So nimm meinen Rat mit dir, wenn du mich jetzt wieder verläßt. Geh irgendwo hin, wo man nichts von deinem Vater weiß."
Während der folgenden Nacht versorgte sich Sam mit Proviant. Er wußte, daß Orthu, sollte er verschwunden sein, seine Mutter aufklären würde. Dann nahm er eines der leichten Boote, an deren Herstellung er selbst noch mitgewirkt hatte und brach auf, um ein neues, eigenes Leben zu suchen.
Er mußte Menschen finden, die nicht viel dunkler als er selbst waren und die, da sie nichts von seinem Vater wußten, ihm keine Vorurteile entgegenbringen konnten, sondern ihn als einen von sich anerkennen würden.
Er war ja nur ein kleiner Junge, der, außer den Talbewohnern, keine anderen Menschen kannte. Darum konnte er sich auch nicht vorstellen, wie schwer das war, was er sich vorgenommen hatte...

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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