Silvia Pree

Betroffenheit

Betroffenheit

Anja sperrte die Tür zu ihrer Wohnung auf.
Geschafft!
Eben begann es zu regnen.
Zu gießen wie aus Kübeln.
Der Wind wirbelte die Gardinen in der Küche auf.
Anja ging hin und schloss das gekippte Fenster.
Sekunden blieb sie stehen.
Verharrte vor der Glasscheibe.
Und starrte hinaus.
In das Grau.
Dicke Tropfen klopften an das Glas.
Langsam ging sie zum Kühlschrank.
Schenkte sich ein Glas Cola ein.
Versunken blieb sie am Tisch stehen.
Sie vergaß fast zu trinken.
Das Mädchen aus der U-Bahn drängte sich immer wieder in ihre Gedanken.
Dunkles, gefärbtes Haar.
Piercings an den Lippen und an der Zunge.
Ein wenig füllig.
Ein weiter Rock.
Eine Tunika dazu.
Beides dunkel.
Aber das hatte Anja nicht so sehr beachtet.
Immer wieder sah sie den Unterarm des Mädchens vor sich.
Als es den Halteknopf in der U-Bahn gedrückt hatte.
Und sie war neben ihm gestanden.
Hatte den Blick nicht lösen können…

Anja zündete sich eine Zigarette an.
Nippte vom Glas.
Wieder fixierte sie das Fenster.
Sie dachte an das kaputte Auto.
Die Reparatur würde ein Vermögen kosten.
Heinz fiel ihr wieder ein.
Der sie vor vier Wochen verlassen hatte.
Und die Wunde schmerzte wie Feuer.
Manchmal zumindest.
Keine Ahnung wie sie das durchstehen sollte.
Nach über fünf gemeinsamen Jahren.
Weil er nicht mehr gewollt hatte.
Einfach so.
Es gab nicht einmal eine andere.
Wie hatte er formuliert?
Du nervst.
Du bist eine Zicke.
Du regst dich wegen jeder Kleinigkeit auf.
Und im Bett spielt sich nichts mehr ab zwischen uns…
Was willst du noch?
Was willst du noch?
Die Worte dröhnten in Anjas Kopf.
Ein Kind hatte sie gewollt.
Ein Kind von Heinz.
So sehr.
Und mit einem Mal hatte ihr Leben keinen Sinn mehr gehabt.
Der Unfall mit dem Wagen vorige Woche war nur Draufgabe gewesen.
Ihr war nichts passiert.
Aber wäre ihr das nicht im Grunde schon egal gewesen?

Anja sog an der Zigarette.
Der Rauch brannte in ihren Augen.
Das Mädchen aus der U-Bahn zeichnete sich wieder vor ihr ab.
Und der linke Unterarm, mit dem es den Halteknopf gedrückt hatte.
Anja wusste nicht, warum sie diesen Arm angesehen hatte.
Unverwandt.
Sie kannte doch das Mädchen gar nicht.
Aber dann fiel ihr etwas auf.
Feine, weiße Linien auf der gebräunten Haut.
Narben von Schnitten.
Daneben Schürfwunden.
Blaue Flecken.
Und kleine, fast kreisrunde Flecken.
Mit Kruste.
Es dauerte einige Zeit bis Anja begriff.
Da dämpfte jemand Zigaretten aus auf dem Arm des Mädchens.
Immer wieder.
Und schon länger.
Wie die alten Narben zeigten.
Und die Schnittwunden…?
Anja ballte ihre Fäuste in Erinnerung.
Wunden.
Das Mädchen fügte sie sich selbst zu.
In selbst zerstörerischer Absicht.
Und das sehr oft.
Das Mädel machte sich Furchtbares mit.
Gedemütigt und geschlagen.
Um nicht zu sagen: gefoltert.
Erniedrigt.
Und es kam mit der Situation nicht zurecht.
Völlig hilflos.
Verletzte sich immer wieder selbst.
So viele Schnitte in der Haut…

Ein übles, menschliches Schicksal.
Anja hatte sich da eine Tragödie offenbart.
Rein zufällig.
Weil sie hingesehen hatte.
Als das Mädchen den Haltegriff gedrückt hatte.
Anja hatte ihm nach dem Aussteigen nachgeblickt.
Bis sich die Tür wieder schloss.
Wo würde das Mädel nun hingehen?
Heim?
Wenn man das so nennen konnte?
Waren die Eltern die Übeltäter?
Die sich an ihrem Kind schadlos hielten?
Auf unvorstellbare Art und Weise?
Oder misshandelte der Freund dieses blutjunge Wesen?
Und es konnte nicht von ihm lassen?
In völliger Verkennung dessen, was Liebe war?
Der Regen hatte nachgelassen.
Anja dämpfte ihre Zigarette aus.
Sie wusste es nicht.
Und sie konnte nichts tun.
Keine Anzeige machen.
Oder sonst irgendwie dem Mädel helfen.
Das doch fast noch ein Kind war.
Noch so jung.
Und doch war sein Leben schon gelaufen.
Vorbei.
Narben auf dem Unterarm.
Deutlich zu erkennen.
Narben auf der Seele.
Nicht zu sehen.
Aber umso schmerzhafter.
Gerade erst zu leben begonnen.
Und doch schon vom Weg abgekommen.
Irgendwo im Dickicht verlaufen.
Kein Halt, kein Ziel.
Keine Chance mehr in diesem Leben…
Anja atmete schwer.
Und sie, Anja?
Sie tat sich selber Leid.
Wegen Heinz…!
War das nicht grotesk?

Vivienne
www.aus-den-tiefen-meiner-seele.com

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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