Markus Schale

12,5%

Lautes Gelächter schallte durch den „Rock Away Grill“ bis auf die Straße hinaus. Derart geräuschvoll, dass es zeitweise sogar Kool and the Gang’s „Celebration“ übertönte, welches aus der antiquiert wirkenden Jukebox hallte. Ken hob sein Glas Bier einer Trophäe gleich in die Höhe: „Auf unser Examen!“ johlte er, während der Gerstensaft überschwappte und sich eine klebrige Spur seinen Arm hinunter bahnte. „Auf das Examen!“ brüllte der Chor jovialer junger Leute zurück, die mit ihm am Tisch saßen. Gerade einmal zwei Tage war es her, dass endlich die Ergebnisse der Abschlussprüfungen publiziert und dem Schicksalsweg des Lebens die Pforten geöffnet wurden. Der Wirt schüttelte lächelnd den Kopf, während er den Tresen säuberte. Aus Erfahrung wusste er, dass es gerade die jungen Akademiker am hemmungslosesten zu feiern verstanden.
 
„Tja Leute, jetzt beginnt der Ernst des Lebens“, sagte Peter beinahe melancholisch, während er mit dem Zeigefinger über den Rand seines Glases strich, sein Kinn auf der anderen Hand aufgestützt. Peter war seit jeher von kontemplativer Natur gewesen. „Aber vorher wird ordentlich gefeiert!“ jubelte seine Freundin, Maria, und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange, der ihn wieder aufzuheitern schien. Obgleich Frohsinn und Vergnügen die dominierenden Elemente in der Runde waren, so kroch doch allmählich tief aus dem Dunkeln des Unterbewusstseins eines jeden Individuums die unabwendbare Tatsache hervor, dass sich alsbald die Wege der Clique trennen würden und jeder seinen eigenen Weg weiterverfolgen würde, die einen mehr, die anderen weniger erfolgreich.
 
„Also nächstes Jahr“, lallte Steve, der es eigentlich nur seinen formidablen Qualitäten im Football zu verdanken hatte, es überhaupt zum Abschluss gebracht zu haben, „wenn du deine eigene Kanzlei hast und richtig Kohle scheffelst, komm ich dich mal besuchen, Ken!“ Ken lächelte und genehmigte sich einen weiteren Schluck Bier. Noch hatte er nicht einmal eine Anstellung gefunden, die Aussichten auf eine eigene Kanzlei stufte er zum gegenwärtigen Zeitpunkt als geradezu utopisch ein. „Ja, dann treffen wir uns alle in deinem Penthouse am Strand von Miami Beach“, flüsterte ihm Jessica ins Ohr, mit der er drei Jahre lang zusammen war, bevor sie sich vor einem halben Jahr trennten. Immer noch faszinierte sie ihn, wie kein anderes Mädchen. Ken wusste, dass Jessicas Satz rein ironischen Ursprungs war, und der überschwänglichen Fülle unrealistischer Erwartungen an die Zukunft lediglich eine weitere Garnitur der Phantasterei hinzufügen sollte.
 
Unversehens versagte die Jukebox ihren Dienst. Als ob sich ein Kassettenband im Rekorder verfangen hätte, verlangsamte der Musikfluss mehr und mehr, wurde die Gesangstimme tiefer und tiefer, so dass sie nahezu dämonisch anmutende Züge annahm. Zäh quälte sie die letzten Strophen des Liedes hervor. „PASS GUT AUF, KEN!“ klang es plötzlich dunkel aus ihr hervor, bevor sie verstummte. Kens Lächeln gefror ihm plötzlich. Perplex starrte er die Jukebox an. „Habt ihr das eben auch gehört?“ fragte er mit aufgerissenen Augen in die frohgemute Runde. Steve schaute ihn verdutzt an: „Was denn, Mann?“ „Na, was eben aus der Jukebox kam, mein Name!“ Sandra, eine weitere Kommilitonin am Tisch, fing an zu kichern. „Ich glaube, da hat jemand ein paar Bier zuviel“, schäkerte sie und stupste Ken mit dem Ellbogen in die Rippen, worauf er kurz zusammenzuckte. Der Chor stimmte wieder sein kollektives Gelächter an. Ken mühte sich ein Lächeln hervor. Hatte ihm der Alkohol tatsächlich einen derartigen Streich gespielt?
 
Plötzlich ging die Tür des „Rock Away Grill“ auf. Obgleich es sich um eine laue Sommernacht handelte, strömte ein kalter Hauch ins innere der Bar. Im Türrahmen stand eine Gestalt, deren Züge man nur vage erkennen konnte, da der üppige Vollmond in ihrem Rücken lag und einen langen Schatten ihrer selbst in die Bar warf, der kurz vorm Tisch der Studiertengruppe endete. Auch die übrigen Gäste drehten sich neugierig in Richtung des Eingangs und je länger der Unbekannte im Türrahmen stehen blieb, desto mehr Blicke zog er auf sich, desto mehr Gespräche verstummten mit einemmal, desto stiller wurde es.
 
Schließlich trat er in die Bar hinein. Er trug einen großen schwarzen Hut und einen langen schwarzen Mantel. Er war von eher hagerer Gestalt und sein schlohweißes, krauses Haar offenbarte sein Alter ebenso, wie die Falten, die sich in tiefen Furchen über seine großen Hände zogen. Er trug einen Aktenkoffer bei sich, den er zu Boden stellte. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Keiner der Gäste sprach mehr ein Wort. Einzig das rhythmisch quietschende Geräusch des Deckenventilators vermochte die Stille zu durchbrechen. Der Typ erinnerte Ken spontan an diese Gestalt aus den „Poltergeist“ – Filmen. Selbst im Hawaiihemd würde den Mann noch eine Aura des Unheimlichen und Geheimnisvollen umgeben. Immer noch schien es, als sei die Raumtemperatur schlagartig um 10 Grad gefallen, als hätte der Winter seinen Odem in den Raum gehaucht. Ken wurde unbehaglich. Er hatte keine Ahnung, weshalb ihm seine Intuition verriet, dass ausgerechnet er es war, dessen Ziel der Mann war, dass sich die nächsten Minuten einzig und alleine um Ken persönlich drehen würden. Doch er ahnte es. Nein, er wusste es. Nervös rutschte Ken in eine Position, die ihn aufrechter sitzen ließ.
 
Der Unbekannte, der die ganze Zeit zu Boden gestarrt hatte, nahm langsam mit beiden Händen seinen Hut ab und richtete seinen Blick in die Runde der jungen Leute. Als er Ken in die Augen starrte, verharrte der Mann. Ken war unwohl, ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Was hatte dieser Typ bloß vor? Den Blickkontakt konnte Ken nur kurze Zeit halten, dann blickte er nervös, beinahe Hilfe suchend, in die Runde. Er erkannte, dass Steve bereits die Fäuste geballt hatte, bereit einzuschreiten, sollte hier irgendetwas zu eskalieren drohen. „Ken Richards!“ sagte der Unbekannte in einer tiefen, rauen Stimmlage. Ken schluckte. „Woher kennen sie meinen Namen?“ wollte er verblüfft wissen. Ratlosigkeit spiegelte sich auch in den Gesichtern seiner Freunde wieder. Er versuchte sich zu erinnern, ob er diese Person jemals irgendwo gesehen hatte, selbst wenn es nur ein flüchtiger Blickkontakt im Supermarkt oder in der Wäscherei gewesen sein sollte. Doch der Unbekannte blieb ihm fremd.
 
Der Fremde zog mit der rechten Hand seinen Mantel auf und griff mit der linken Hand hinein. Ken krallte sich in der Tischdecke fest. Der Mann hielt plötzlich einen Revolver in der Hand. Sandra, Jessica und Maria schrieen ängstlich auf. „Oh Gott!“ wimmerte Maria und fing sogleich an, zu schluchzen. „Hey!“ brüllte Steve warnend und mahnend zugleich, schnappte sich eine Bierflasche und sprang vom Stuhl auf. Der Wirt, der die Szene beobachtet hatte, griff hastig zum Telefonhörer und wählte den Notruf. Verwirrt starrte er den Telefonhörer an, der ihm lediglich das Besetzt – Zeichen entgegen tutete. Mit dem Zeigefinger schlug er wieder und wieder auf die Gabel. Die Leitung schien tot, obwohl er gerade noch vor wenigen Minuten einige Nachbestellungen durchgegeben hatte. Ungeachtet der Unruhe, die allmählich in der kleinen Bar ausbrach, ließ sich der Unbekannte davon nicht beeindrucken. Wieder langte er ruhig in seinen Mantel und holte eine Schusspatrone hervor. „Scheiße, Mann, was soll das?“ fragte Ken panisch, erneut ohne eine Antwort von dem Mann zu erhalten. Was hatte Ken bloß getan? Zweifelsohne war er derjenige, auf dem das Augenmerk des Namenlosen lag. Zudem hatte dieser gerade einen Revolver gezogen, doch warum sollte Ken ausgerechnet in dieser Nacht und an diesem Ort sein Leben lassen müssen? Das Adrenalin strömte durch seine Blutbahnen, versetzte ihn geradezu in einen verwirrten Rausch. Schweiß lief ihm die Schläfe hinab. Sein Pulsschlag hämmerte ihm in viel zu schnellem Tempo eine Melodie der Angst in den Kopf.
 
Während bei den anderen Gästen ein Fluchreflex in Gang setzte und die Bar sich schlagartig leerte, so blieben Ken und seine Gruppe wie gelähmt am Tisch sitzen, fassungslos auf den Mann starrend. Der Wirt bedauerte, keine brauchbaren Waffen in seiner Bar zu haben, langte jedoch vorsichtshalber nach einem der Messer. Der Fremde ließ die Trommel aus dem Revolver klappen. Beinahe demonstrativ zeigte er der Gruppe, dass der Revolver ungeladen war. Die Trommel bot Platz für exakt acht Patronen. Konsterniert verfolgten sie sein Treiben. Er steckte die Patrone in ein Trommelfach, drehte die rasselnde Trommel und ließ sie wieder zurück in den Revolver schnappen. Als er einen Schritt in Richtung des Tisches machte, zuckte die Gruppe ruckartig zusammen. Wie ein wütender Stier schnaubte Steve und wanderte unruhig umher. Ken wusste die Aktion des Mannes nicht vollständig abzuschätzen. Hatte er es auf ihn abgesehen? Oder wollte er gar Selbstmord verüben? Der Mann stand Ken nun genau gegenüber. Immer noch drang sein beinahe hypnotischer Blick eindringlich in Kens Augen ein. Ken schluckte derart heftig, dass sein Kehlkopf vor- und zurückschnellte. Der Unbekannte legte den Revolver auf den Tisch und machte einige Schritte zurück.
 
„Was…?“ Die gesamte Gruppe starrte fassungslos auf den Revolver, der vor ihnen auf dem Tisch lag, einer Einladung gleich, ihn zu greifen, um den Unbekannten damit in Schach zu halten, während man die Polizei rufen konnte. Doch keiner langte zu. „Ich habe ein Angebot für dich, Ken. Lass uns ein Spiel spielen. Die Regeln sind äußerst simpel. Du nimmst den Revolver, hältst ihn an deine Schläfe und drückst ab. Tust du das und überlebst, hast du gewonnen. Deinen Gewinn kannst du sofort entgegen nehmen.“ Der Mann griff sich den Aktenkoffer, löste die Versperrungsklinken und ließ den Kofferdeckel aufklappen. Unzählige Geldscheine prangten der Gruppe opulent entgegen. „Heilige Scheiße“, flüsterte Peter fasziniert. Der Mann sprach weiter: „Das ist deine Chance auf 500.000 Dollar. Unterlässt du es, nehme ich den Koffer und den Revolver und werde auf der Stelle wieder verschwinden.“
 
Steves Anspannung wich ein wenig, da der Mann offenbar kein geisteskranker Mörder war. Wobei er sich mit dem Term „geisteskrank“ noch nicht so sicher war. „Wer garantiert uns, dass sich da kein Falschgeld in dem Koffer befindet?“ fragte Steve barsch und stellte die Flasche wieder auf den Tisch. „Schaut es euch an, prüft es“, antwortete der Mann gelassen und verschränkte scheinbar amüsiert die Arme. Steve langte ungeniert in den Koffer und holte ein Bündel Scheine hervor, die von einem Papierring gehalten wurden. Er wandte seinen Blick zu dem Mann, der ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass Steve fortfahren solle. Steve riss den Papierring ab und hielt einen der Scheine ins Licht. Wasserzeichen, Sicherheitshologramm, alle Merkmale schienen auf den ersten Blick vorhanden zu sein. Steve bat den Wirt, den Schein zu prüfen. Der Wirt hielt den Schein gegen das Licht und drehte ihn mehrmals. „Ich habe hier ein Prüfgerät“, sagte er und schon legte er den Schein darunter. Verblüffte starrte er Steve an. „Der hier ist echt!“ attestierte er erstaunt.
 
„Steve, lass den Scheiß doch sein, als ob Ken bei so einem Schwachsinn mitmachen würde“, wandte Sandra ein. Ken blickte auf den Koffer, ohne eine Mine zu verziehen. „Ken, du wirst doch bei so einem Schwachsinn nicht mitmachen?“ versuchte sie beunruhigt sicherzustellen. 500.000 Dollar waren eine Menge Geld. Geld, welches man innerhalb weniger Sekunden verdienen konnte. Man ging gewiss ein hohes Risiko ein, aber das hatte Ken schon in seinen Wirtschaftsseminaren gelernt: je höher das Risiko, desto höher für gewöhnlich die Gewinnaussichten. Im Prinzip war es perfide auch nur darüber nachzudenken, sein Leben für Geld aufs Spiel zu setzen, ganz gleich um welche Summe es sich hierbei handeln mochte. Das Leben konnte man sich schließlich mit keinem Geld der Welt erkaufen. Just in dem Moment, in dem ihm dieser Gedanke kam, war sich Ken über dessen Wahrheitsgehalt schon gar nicht mehr sicher. Seine kranke Mutter bedurfte dringend einer notwendigen, vielleicht sogar lebensrettenden Operation sowie hochwertiger Medikamente, für die die Familie zu einem großen Teil selbst aufkommen musste, obwohl die finanziellen Mittel nicht ausreichend zur Verfügung standen. Konnte man das Leben in diesem Sinne nicht doch erkaufen? Zumindest einer Verlängerung desselbigen, indem man abhängig war von der kostspieligen medizinischen Versorgung der Pharmaunternehmen? Wäre er bereit sein eigenes Leben zu riskieren, um zumindest die Möglichkeit zu besitzen, das seiner Mutter zu retten?
 
Zweifelsohne, seine Mutter war immer für ihn da gewesen, hatte stets ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte und war stets seine Wegbegleiterin, wenn er persönliche Krisen und Probleme zu bewältigen hatte. Nachdem sein Vater 1992 bei einem Autounfall sein Leben lassen musste, war sie es, die die Familie mit schier unbändiger Kraft vor dem Kollaps bewahrte, und jedem versuchte, wieder den richtigen Weg zu weisen. Bis sich vor etwas mehr als einem Jahr plötzlich und ohne Vorankündigung der Krebs in ihren Körper schlich, um ihn allmählich von innen heraus zu zerstören. Trotz aller qualvollen Behandlungen war sie immer noch eine starke Frau, die um ihr Leben kämpfte. Ken strich nachdenklich mit seinem Zeigefinger über seine Unterlippe.
 
„Bist du wahnsinnig, Ken? Willst du für das Spiel von diesem Verrückten da dein Leben riskieren?“ Maria wusste nicht von Kens Mutter. Einzig Jessica war darüber informiert. Und in Kens Augen sah sie, welche Gedanken ihm soeben durch den Kopf huschten. Es rührte sie. Doch trotz allem lehnte sie es ab, sich auf dieses Unterfangen einzulassen. Auch Peter verkündete seine Meinung: „Ken, du hast das doch gar nicht nötig. Du hast deinen Abschluss, wirst bald einen Job finden und deinen Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit verdienen. Na ja, falls man die Arbeit von Anwälten als ehrlich bezeichnen kann.“ Kurzes Gelächter ging durch die Runde, bevor sich die Gesichter wieder verfinsterten. Der unbekannte Mann hatte ohnehin permanent  ein unangenehmes Lächeln auf den dünnen, spröden Lippen. Steve dachte sich, dass er persönlich das Risiko wohl eingehen würde. Eigenes Haus, toller Sportwagen, außerdem hätten die Frauen bestimmt auch nichts gegen ein paar Scheine auf der Bank einzuwenden.
 
Ken strich sich den Schweiß von den Wangen. 8 Kammern. Nur eine geladen. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben betrug 1/8. Das bedeutete eine Wahrscheinlichkeit von 12,5%, sein Leben zu lassen, auch wenn Ken diese Formulierung nicht gefiel. Eine Wahrscheinlichkeit von 87,5%, 500.000 Dollar zu verdienen, das hörte sich schon besser an. Ken atmete tief ein, füllte seinen eingeengten Brustkorb, um den sich das Korsett der Beklemmung gelegt hatte, mit Sauerstoff. Nach Abzug der Krankheitskosten würde immer noch ein Überschuss verbleiben, der ihm gerade in der Anfangszeit seiner Suche nach einer festen Anstellung behilflich sein könnte. Zudem hatte er aus dem Studium noch einige Schulden angehäuft, die er mit seinem Aushilfsjob im Computerladen sicherlich nicht in nächster Zeit begleichen würde. Seine Hand ging zum Revolver.
 
Jessica ergriff Kens Hand, umschloss sie, drückte sie fest und führte sie zu ihren Lippen, um ihr einen sanften Kuss zu geben. „Bitte Ken, tu es nicht. Auch wenn du das Geld gebrauchen kannst, aber was ist es wert, wenn du stirbst?“ Maria fing wieder an zu schluchzen und bedeckte ihren verkrampften Mund mit ihrer zitternden Hand. Peter nahm sie sorgenvoll in den Arm. Auch Sandra redete auf Ken ein: „Ken, du bist doch erst 25, du hast dein ganzes Leben noch vor dir!“ Alle Gedanken schienen sich bloß um die Wahrscheinlichkeit zu drehen, dass die Patrone in der Schussposition war. Dachte denn niemand daran, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 87% ein Gewinn erreichbar wäre? Dachten die anderen in dieser Situation überhaupt an Wahrscheinlichkeiten? Wieder schossen Ken die Bilder seiner Mutter durch den Kopf, wie sie kahlköpfig, blass und ausgemergelt an den Schläuchen hing und trotzdem ein Lächeln über ihr Gesicht huschte, sobald er das Krankenzimmer betrat. Seine Augen glänzten feucht. Er küsste seinerseits Jessicas Hand und führte sie dann kommentarlos von sich hinfort, um den Revolver zu greifen.
 
„Oh Gott!“ kreischte Maria und vergrub ihr Gesicht in Peters Arm. „Ken, bitte!“ sagte dieser lautstark. Jessica stand auf und ging wimmernd zu Maria und Peter. Auch Steve und Sandra stellten sich dazu. Alle fassten sich an den Händen. Sie wussten, dass Ken eine unumkehrbare Entscheidung gefällt hatte. Ken saß nun isoliert auf dem Stuhl, seine Studienfreunde kauerten unweit von ihm entfernt. Wieder musste Ken heftig schlucken. Die Waffe war schwerer, als er erwartet hatte. Einen Moment lang blickte er sie an, wog sie in der Hand. Sollte dies tatsächlich das Instrument sein, dass ihm unter Umständen bald das Leben aushauchen würde? Bei der Vorstellung erschien die Waffe noch bedrohlicher zu wirken. Ken kratzte sich am Kopf, fuhr sich durch die schweißnassen Haare. „Warum machen sie das?“ fragte er den Mann. „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, da die Spötter sitzen“, antwortete der Mann ominös. „Treffe jetzt deine Entscheidung, Ken“, fügte er hinzu. Kens Blick streifte den geöffneten Koffer, dann spannte er den Hahn des Revolvers nach hinten.
 
Die Gruppe zitterte vor grenzenloser Anspannung am ganzen Leib. Hoffentlich würde diese belastende Nerventortur alsbald ein positives Ende finden. Sogar Steve biss sich nervös auf der Unterlippe herum. Jessica flossen die Tränen aus den Augen. Zitternd richtete Ken den Lauf des Revolvers an seine Schläfe. Er spürte das kalte Metall auf seiner Haut, als würde die Schusswaffe ihm einen letzten, eisigen Todeskuss verpassen. Kens Atem ging nur noch ruckweise, in kurzen, unsteten Intervallen füllten und leerten sich seine strapazierten Lungen, so dass er fast schon mehr Angst hatte zu ersticken, als von einer Patrone den Schädel zerfetzt zu bekommen. Noch einmal holte er so tief er konnte Luft und behielt sie in sich, dann betätigte er den Abzug. Das Klicken, das den Hahn in Richtung der Trommel schnellen ließ, ließ die Gruppe erzucken.
 
Der Revolver knallte dumpf auf den Tisch. Er war Kens nassen Händen entglitten. Es hatte sich kein Schuss gelöst, Ken war noch am Leben. Ein kurzes, ungläubiges Lachen stieß aus ihm hervor. Die Gruppe rannte erleichtert auf Ken zu, alle umfassten ihn und drückten ihn, ließen die Anspannung heraus, die sich innerhalb der letzten Minuten zu einem bedrohlichen Ausmaße in ihren Körpern angesammelt hatte. Der Fremde lächelte immer noch. Er ging auf den Tisch zu und hob den Revolver in die Höhe. Kurzzeitig stockte der Gruppe wieder der Atem, doch der Mann ließ lediglich die Trommel erneut hervorschnellen. „Ein weiterer Schuss, und es hätte geknallt“, merkte Peter mit aufgerissenem Mund an. Tatsächlich, die Kugel steckte nur eine Kammer weiter. Ken nahm einen tiefen Schluck Bier, mit dem er seine staubtrockene Kehle benetzte. Jessica küsste ihm zärtlich die Stirn und rieb ihre Nasenspitze über die beküsste Stelle. Der Mann ließ die Patrone herausfallen und schmiss sie Ken zu, der sie auffing. „Das ist ihr Andenken an diesen Abend“, merkte der Mann an, als er den Revolver wieder in dem Mantel verstaute. „Nennen sie sie Atropos oder Tyche. Ich allerdings würde sie Ate nennen“, grinste der Fremde. Ken verstand nicht, was der Mann meinte und steckte die Patrone in die linke Brusttasche seines Hemdes. „Ach so, das hier ist natürlich ebenso ihr Andenken“, ergänzte er und tippte mit dem knochigen Zeigefinger auf den noch immer geöffneten Koffer.
 
Erleichtert ließ Ken den Kopf in den Nacken fallen. Eine ihn selbst überraschende Mischung aus Lachen und Weinen übermannte ihn. Er konnte es kaum erwarten, seiner Mutter die glückliche Nachricht zu überbringen. Der Mann setzte seinen Hut auf, strich mit dem Zeigefinger über die Krempe, nickte kurz zum Abschied und war so schnell wieder im Dunkel der Nacht verschwunden, wie er gekommen war. „Das glaubt uns doch wirklich kein Mensch“, stellte Sandra fasziniert fest. „Unglaublich, einfach unglaublich“, stotterte Peter, während er skeptisch den Kopf schüttelte. Steve schmiss das Geldbündel, das er zur Prüfung entnommen hatte zurück in den Koffer. „Behalt es“, sagte Ken schniefend. „Teilt es euch bitte.“ Maria nahm das Bündel in die Hand und blätterte es durch. „Kenny, das sind 5.000 Dollar!“ sagte sie verblüfft. „Meine Dankbarkeit kann mit keinem Geld der Welt gemessen oder vergolten werden. Ihr habt euch die ganze Zeit um mich gesorgt und versucht, Schaden und Gefahr von mir abzuwenden. Auch wenn ich eurem Ratschlag letztlich nicht gefolgt bin, so weiß ich doch sehr zu schätzen, wie ihr reagiert habt.“ Maria und Peter legten ihm die Hände auf die Schultern.
 
Noch einige Zeit lang diskutierten sie über die obskure Absurdität dieses Abends und welchen glücklichen Ausgang er letztlich genommen hatte. Noch immer war die Identität des Mannes unbekannt und keiner der Gruppe war überzeugt, man würde diese jemals aufklären können. Ken teilte seinen Freunden seine Überzeugung mit, dass das Schicksal es zwar nicht immer gut mit einem meine, aber dass sich alles meistens zum Guten wende, selbst wenn ein äußerer Eingriff durch Fremde hierzu notwendig sei. Vielleicht war das ganze Leben ein Spiel. Ein Spiel, das von fremden Mächten gespielt wurde, deren Spielfeld Erde hieß, deren Spielfiguren sich Menschen nannten. Menschen, die in ihrem eigenen Streben nach Allmacht und ihrer selbstgefälligen Überzeugung, die Krone der Schöpfung zu sein, sich selbst den Blick darauf versperrten, dass Mächte existierten, die man sich in seinen kühnsten Vorstellungen nicht auszudenken vermochte. Vielleicht manifestierten sich diese Mächte sogar manchmal auf Erden. Möglicherweise sogar an diesem Abend, in dieser Bar. Ken war niemals ein gottesgläubiger Mensch gewesen. Als der Krebs bei seiner Mutter schließlich ausbrach, war er vollends von der Gottlosigkeit dieser Welt überzeugt gewesen. Nach dem heutigen Abend war er sich dessen nicht mehr sicher. War das, was wir gemeinhin als Schicksal bezeichneten nicht vielleicht doch Teil eines lange feststehenden, unausweichlichen kosmischen Planes? Gaukelten wir uns den Faktor des Zufalls vielleicht selber nur vor, um unangenehmen Gedankengängen wie dem der Vorbestimmung zu entfliehen? „Willst du mir sagen, der Typ war so etwas wie ein Engel?“ wollte Steve mit misstrauischem Gesichtsausdruck wissen. „Also ich glaube eher, das war ein durchgeknallter Opa, der zuviel Kohle auf der Bank hatte“, scherzte er. Der Wirt entschloss sich, noch eine Runde auszugeben. Angesichts der Tatsache, dass Ken ihm bereits 500 Dollar zugesteckt hatte, erschien dies wenig verwunderlich.
 
Vor der Bar drückten sich alle nochmals innig und verabschiedeten sich voneinander. Es war kein endgültiger Abschied, noch standen einige Partys auf dem Plan. „Sehen wir uns am Sonntag?“ wollte Maria wissen. „Worauf du dich verlassen kannst!“ entgegnete Jessica und auch alle anderen stimmten ein. Ken und Jessica schauten sich tief in die Augen. Niemals hätte es Ken für möglich gehalten, dass die alten Gefühle wieder derart in ihm aufflammen könnten. Hupend fuhr der Wagen mit Peter, Steve, Sandra und Maria davon, die zum Abschied winkten. „Danke“, flüsterte Ken und ergriff beide Hände von Jessica, die zaghaft mit dem Kopf nickte und die Lippen aufeinander presste. „Es tut mir leid, wie es damals gelaufen ist, ich…“ Jessica legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und hauchte: „Psssst, es ist schon gut Ken. Es ist schon gut.“ Ken streichelte ihr die Haare von der Stirn und küsste sie sanft. „Wir sehen uns Sonntag“, lächelte sie ihn an. Ken nickte. Jessica lief die Straße hinunter, Kens Weg führte in die andere Richtung.
 
Das Gefühl des Koffers in der Hand erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit. Was für ein unglaublicher Abend lag doch hinter ihm. Angesichts der Ereignisse konnte er immer noch lediglich lachend den Kopf schütteln. Die Fußgängerampel sprang auf grün. Nach einigen Schritten vernahm er plötzlich das dröhnende Geräusch eines Motors im hohen Drehzahlbereich. Schockiert drehte er sich um, ein schwarzes Auto raste geradewegs auf ihn zu. Die grellen Lichtkegel waren das letzte, das er erblickte, bevor er erfasst wurde und sein Körper ruckartig hinfort geschleudert wurde. Der Koffer schlitterte auf den Bürgersteig. Der Wagen kam zum Stillstand. Dampf zischte aus der zerknautschten Kühlerfront. Die Patronenhülse, die sich Ken zuvor in die Brusttasche gesteckt hatte, fiel heraus und kullerte klimpernd über den rauen Asphalt, bevor sie durch die Öffnung des Kanaldeckels in der Kanalisation entschwand. Sofort stieg der Fahrer aus. „Oh nein, sagen sie doch etwas. Hilfe! Hilfe!“ schrie er hinaus. Jessica hatte die quietschenden Reifen und den darauf folgenden lauten Knall vernommen und drehte sofort um. Ihre Befürchtung, dass Ken etwas zugestoßen sein könnte, ließ ihr eine kribbelnde Gänsehaut über den Rücken spannen, als würde jemand seinen vereisten Finger über ihre Wirbelsäule streichen. Vielleicht war es auch nicht Ken. Vielleicht eine andere Person, vielleicht bloß ein Blechschaden.
 
Als sie sich der Unfallstelle näherte, gefror ihr das Blut in den Adern, ein schwarzer Cadillac stand quer auf der Straße, die Warnblinklichter flackerten im regelmäßigen Rhythmus und wurden von den grauen Betonwänden reflektiert. Eine Person kauerte über einer am Boden liegenden weiteren Person, versuchte sie offensichtlich wiederzubeleben. Ängstlich näherte sich Jessica den beiden Gestalten. Sie drückte die Person, die offenbar der Fahrer war zur Seite und sank auf die Knie, ein langes, lautes „Nein“ in den Sternenhimmel brüllend. Es war Ken. Der Fahrer, ein korpulenter Mann mit Schnauzbart war sichtlich geschockt. „Die Bremsen haben versagt“, stotterte er. „Ich habe versucht zu Bremsen, aber der Wagen ist stattdessen immer schneller geworden. Ich habe mir den Wagen erst letzte Woche zugelegt und heute versagen mir die Bremsen, das gibt es doch nicht. Ich rufe gleich die Polizei!“ Jessica nahm Kens blutenden Kopf und richtete ihn ein wenig auf. Schlaff fiel sein Kopf in den Nacken. „Oh Kenny, tu mir das nicht an, bitte nicht!“ schluchzte sie. Der Brustkorb war infolge des Aufpralls aufgerissen, Fragmente der zerbrochenen Rippen, die durch die Haut geschnellt waren, lugten hervor. Jessica musste ihren Blick abwenden.
 
Ihr verweinter Blick fiel auf eine dunkle Seitenstraße. Da stand er. Der Fremde. Seine dunkle Kleidung ließ ihn beinahe wie ein Schatten in der Finsternis der Nacht verschwinden, mit der er zu verschmelzen schien. Sein blasses Gesicht formte hierzu jedoch einen Kontrast, der ihn beinahe geisterhaft erscheinen ließ. Er lächelte sie an. Ein finsteres, unheimliches, grausames Lächeln, dann strich er sich wieder über die Hutkrempe und verschwand in der Seitengasse. Jessica rannte umgehend hinterher. Sie würde diesen Typen jetzt zur Rede stellen. Hatte er etwas mit dem Unfall zu tun? Sie trat in die schmale Seitengasse ein, in die der Mann gelaufen war. Wenige Meter von Jessica entfernt endete die Gasse bereits vor einer mehr als zehn Meter hohen, unüberwindbaren Steinmauer. Es war eine Sackgasse. Und der Namenlose war auf unerklärliche Art verschwunden. Jessica sank erneut auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Wieder weinte sie bitterlich. Tränen des Leids. Tränen des Kummers. Tränen des Schmerzes. Tränen der Trauer.
 
„Mrs. Richards?“ Sanft erklang die weiche Stimme des Pflegers in ihrem Gehör. „Mrs. Richards?“ wiederholte er behutsam. Patricia Richards öffnete entkräftet die Augen. Die letzte Bestrahlung lag nur wenige Tage zurück und hatte sie viel Kraft gekostet. Der komplett in weiß gekleidete Pfleger nahm vorsichtig ihre Hand. „Wie geht es ihnen?“ erkundigte er sich. „Ich fühle mich etwas schwach“, gab sie ihm leise zu verstehen. „Ich habe hier etwas, das könnte sie vielleicht aufheitern“, erklärte der Pfleger. „Ich möchte ein Spiel mit ihnen spielen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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