Rose Blanche
Isabelle
Lange, lange ist es nun her. Ich erinnere mich kaum noch daran. Erst als sie wieder vor mir stand - Isabelle! Ich habe sie erst nicht erkannt. Die roten Locken waren kurz geschoren, die Sommersprossen auf der Nase schienen erloschen und auch so war kaum Leben in ihrem Körper. Doch die Augen strahlten wie früher. Waren sie es, die mich an unsere Zeit erinnerte oder ihre Frage nach einem Keks.
Vor meinen Augen erwachten die Bilder zu neuem Leben. Ich sah mich auf der Mauer des Waisenhauses sitzen und nachdenken, als ganz in der Nähe ein höhnisches Lachen und erzweifeltes Rufen erklang. Eine kleine Horde von Jungen rannte lachend hinter einem Mädchen her. Sie war nicht gerade ansehnlich. Das feuerrote Haar kräuselte sich widerspenstig, das Gesicht übersät mit Sommersprossen, als hätte ein Maler mit einer Bürste Farbe aufgetragen. Die Figur pummelig und sie schien leicht ungelenkig. Doch ihre Augen strahlten wie das weite Meer in einem tiefen Grün.
Die Jungen fingen sie ein. Neckten das Mädchen, stießen sie in den Staub und nahmen ihr, was sie bis dahin fest umklammert hatte - eine kleine silberne Keksdose. Ich beobachtete eine Weile dieses Schauspiel, als ihr Blick sich hob und mich traf. So sprang ich von der Mauer und trat in den Kreis. Die Jungen wussten nicht, was sie tun sollten und auch verging ihnen der Spass. So warfen sie denn die Dose fort und gingen.
Isabelle - ja, das war das erste Wort, was sie zu mir sagte. Ich hob sie auf und klopfte den Staub aus ihrer Schürze.
Isabelle - erneut nur dieses Wort, so zart gehaucht und schluchzend. Ich drückte ihr die Dose in die Hände und wollte mich abwenden. Doch wieder hob sie den Blick und ich tauchte in das Grün voller Faszination.
Isabelle - erklang es zum dritten Mal und ich antwortete ihr - Ludwig.
Mit bebenden Händen reichte sie mir einen Keks. Ich weiß nicht, warum ich ihn annahm!
Er war köstlich, schmeckte nach Schokolade und Zimt. Wir gingen zusammen hinunter zum Fluss und setzten uns in das Gras. Bald lagen wir Kopf an Kopf, sahen hinauf in die Wolken und schwiegen. Jeden Tag. Wir sprachen zusammen über unsere Träume. Und dann, dann richtete Isabelle sich auf und sah mir in die Augen. Ihre Augen glänzten, die Wangen waren vor Eifer gerötet. Dies war unser letzter Tag, der Tag an dem sie mir sagte, dass sie eine Keksfabrik erbauen würde und die Kekse nach mir benennen würde. Ich war amüsiert über ihre Idee, doch ihre Miene war so ernst, dass ich bald verstummte.
Du magst lachen, aber wenn ich es geschafft habe, dann werde ich dich heiraten - waren ihre Worte. Mit einem seichten Lächeln wandte sie sich um und blickte seufzend in die Ferne.
Wir bleiben doch auf immer zusammen - raunte sie leise und sah mich an. Ihre Augen raubten mir den Atem und so verharrte ich unbeweglich.
Doch die Träume von Isabelle waren noch am selben Abend zunichte. Ich wurde in eine "Familie" aufgenommen und von Isabelle auf immer getrennt.
Jahre vergingen, ich kostete die bitteren Früchte des Erfolges. Ja, ich erreichte mein Ziel, welches ich mir setzte und war schon in jungen Jahren zu einem gefährlichen Geschäftsmann geworden. Meine Vergangenheit wollte ich vergessen, wollte nicht mehr zurückblicken. Und dann? Dann stand diese junge Frau vor mir. Ihre zarten Finger bebten und waren klamm, als sie meine Hand berührte.
Du bist groß gewachsen - sagte sie leicht lächelnd. Ich erkannte sie nicht! Und dann? Fragte sie mich nach einem Keks.
Isabelle - raunte ich leise. Sie lächelte und nickte. Aus dem misswachsenen Mädchen war eine junge schöne Frau geworden. Aber was war nur mit ihr geschehen? Was hatte sie in all den Jahren gesehen? Was hatte ihr ihre Lebendigkeit genommen? Warum war sie zu mir zurück gekehrt? Ich wollte sie meine Arme schließen und an mich drücken, doch... mein Herz ist kalt und ich will kein Stück aus meiner Vergangenheit in meiner Nähe wissen!
So betrachtete ich sie von oben und überlegte, was ich mit ihr tun sollte. Sie musste meine Befangenheit gespürt haben, denn ihr Kopf sackte auf ihre Brust und ein leiser Seufzer entrann.
Warum wollte ich nicht, dass sie ging? Warum lud ich sie ein, bei mir zu bleiben - nur diese Nacht? Trug mein Herz noch Hoffnung, dass ich mich mit meiner Vergangenheit versühnen konnte?
Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Bilder meiner Vergangenheit suchten mich heim und ich erlebte meine Kindheit erneut. Alle meine Gedanken, Träume und Wünsche lebten wieder auf! Tränen, die lange versiegt waren, traten in meine Augen und eine nie dagewesene Sehnsucht war in meinem Herzen entflammt. So nahm ich mir Licht und ging durch die Gänge und Flure zu ihrem Zimmer. Vorsichtig öffnete ich die Tür und leuchtete hinein! Es war leer! Das Bett ungenutzt! Doch ihr Geruch umwehte noch immer den Raum. Und leise konnte ich ihre Stimme hören.
Ludwig - raunte es und ein warmer Hauch streifte mein Ohr.
Wo war sie? Ich hatte sie in dieses Zimmer gehen sehen! Ihr sanftes Lächeln auf den Lippen war in diesem Raum verschwunden! Warum war sie nicht hier?
Der Tag erwachte, als ich noch auf dem Bett saß und ihre Ahnung behielt. Immer und immer wieder hauchte eine unsichtbare Stimme meinen Namen, doch sah ich niemals die Lippen, die es aussprachen.
Mit müden Gliedern erhob ich mich und ging. Kleidete mich an und ging. Ass und trank und ging. Ging um Isabelle zu suchen - meine Vergangenheit zu suchen.
Nun stehe ich hier und blicke hinab auf die Scherben. Ich habe Isabelle gefunden, nach einer langen und mühseligen Suche. Doch ich verstehe nicht, wie sie zu mir kam, denn die Scherben liegen auf ihrem Stein und weiße Blumen schmücken die schon längst zu gewachsenen Buchstaben. Isabelle war bei mir und sie brachte mir die Erinnerung an mich selbst zurück. Sie ist auch jetzt noch bei mir, denn der Wind trägt ihren Duft - ihre Stimme zu mir. Und ich sehe uns beide an dem Ufer des Flusses im Gras liegen und schweigen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.08.2006.
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