Reto Elliker

Löwenbrüll und Pferdeschnaub

 
Ich bin ein friedliebender Mensch, offen und verständnisvoll. Ich kann für ziemlich jeden Menschen Verständnis aufbringen, wenn man mich in Ruhe überlegen lässt. Für Karrieremenschen und Kapitalisten, für Amokläufer und Anarchisten, für die behüter der öffentlichen Ordnung und Terroristen, für schlafende und erwachende, für schäumende und träumende, für noch krankere und kranke, für Polizisten und Kriminelle, ziemlich sicher auch für Dich.

Dieses Vesrtändnis verdanke ich selbständigem Studium von religiöser Literatur, Weisheitslehren und Introspektion. Ich gebe auch selber Weisheiten von mir, wie zum Beispiel: "Keiner Sklaverei erspürt, der sich nie gefickt gefühlt." Ich habe verstanden, dass die Welt hauptsächlich aus Prostituierten besteht, besser und weniger gut situierten. Ich bin ein Prostituierter, Du bist ein Prostituierter, wir sind Prostituierte; aber auch dafür habe ich Verständnis.

Ab und zu platze ich fast vor lauter Verständnis, das ist ein schönes Gefühl, ein sehr beruhigendes. So beruhigend wie die Erkenntnis, dass einfach alles im Fluss ist. Und doch wird dieser Fluss, in ungeduldigen Schluchten etwas turbulent. Da fange ich an zu wünschen, dass doch der eine oder andere und eigentlich ziemlich viele endlich in diesem Fluss ertrinken mögen. Sie zerrt an mir, die Ungeduld, sie zerrt mich aus der Welt des grenzenlosen Verständnisses, zurück in die innere Zerrissenheit. Ich habe Verständnis für diese Zerrissenheit, für innerlich zerrissene Leute, für alle Leute.

Ich habe Verständnis für sie und doch: Ich verachte sie. Ich verachte die pädophilen Zuhälter ihres inneren Kindes und die Schänder der inneren Kinder ihrer Kinder. Ich verachte die nekrophilen Zuhälter, diese verkrüppelten Wesen die voller Stolz zugeben, Kapitalisten zu sein. Ich verachte ihre Überzeugung, dass es allen Bewohnern dieses Freudenhauses noch niemals so gut ging und welch eine Freude es doch sei zu verstehen, wie das Kapital die Erde in Schwung hält, wie es die Menschheit bereichert und wie Wohlstand befreit. "Kauft euren Nächsten wie ihr euch selber verkauft." - Ich verachte euch!

Ich verachte ihre Jünger, diese schlafenden Schlampen, die ihnen jeden Furz vom Hintern lecken würden, wenn diese nur nicht so flüchtig wären. Ich verachte ihre Ablehnung von Verantwortung, sich selbst und dem ganzen, heruntergekommenen Milieu gegenüber. Ich verachte ihr nicht verstehendes Verständnis für dieses kranke Spiel, ihre Akzeptanz und ihre Toleranz. Ich verachte ihren Unglauben, ihre Verschlossenheit, ihr Desinteresse, ihre Feigheit. Ich verachte ihr gegenseitiges auf die Schulter klopfen, ihr sich gegenseitig Mut machen. Ich verachte ihre Art sich gehen zu lassen, sich frei zu fühlen, sich selber zu achten um die Verachtung ihrer selber geschaffenen Feinde nicht spüren zu müssen. Ich verachte ihr Unverständnis, ihre Ignoranz den Verlierern in diesem Spiel gegenüber, wie auch die selbstmitleidigen Verlierer selber. Ich verachte sie alle!

Trotzdem bin ich auch selbstkritisch. Ich verachte meine Verachtung und doch: Ich habe Verständnis. Denn alles ist im Fluss. So wäre es dumm erstaunt darüber zu sein, dass dabei so manches bachab geht. Es erstaunt mich nicht, nein, ich habe Verständnis. Es lebt in mir, gleich neben der ungeduldigen Verachtung. Sie leben in mir, spielen in mir, spielen mit mir, toben in mir und ich tobe mit ihnen. Sie zerreissen mich, seit Jahr und Tag tagtäglich.

Ich habe Verständnis, für Dich wie für mich. Doch zerrissen wie ich bin zerreiss' ich auch Dich. Es sei denn Du verstehst.
Hast Du Verständnis?
 
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Reto Elliker).
Der Beitrag wurde von Reto Elliker auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Reto Elliker als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Ambivalente Galaxie von Stefan Läer



Ein außerirdisches Volk, das das Böse nicht erkennt. Nur der 14-jährige Kisjat. Der einzige Weg, es noch zu retten, führt ihn zur sagenumwobenen Ambivalenten Galaxie ins Niemandsland …

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Mensch kontra Mensch" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Reto Elliker

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Pyramiden im Dung - Eine Kultur im Nebel von Reto Elliker (Metaphern)
Der Auftrag an die Tschihadisten von Paul Rudolf Uhl (Mensch kontra Mensch)
Pilgerweg V. von Rüdiger Nazar (Abenteuer)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen