Reinhard Schanzer

Die Brille

Schon als kleiner Junge von ca. drei Jahren hatte ich es mir als das Schlimmste auf der Welt vorgestellt, nichts mehr sehen zu können, also völlig blind zu sein.
Ich weiß gar nicht mehr, wie und woher diese Ängste entstanden sind, denn ich muß sagen, daß ich schon immer mit einem sehr überdurchschnittliches Sehvermögen gesegnet war.
Von dem Einödhof auf einem Hügel des Bayerischen Waldes, wo ich als Kind aufgewachsen bin, hatte man eine weite, herrliche Fernsicht.
An kalten, klaren Wintertagen konnte man über hundert Kilometer weit ins Gebirge sehen.
Die Salzburger Alpen, die Hallstätter Tauern, der Watzmann und der Dachstein waren so klar erkennbar, daß man meinte, sie fast schon vor Augen zu haben.
Mein Opa war ein sehr kluger Kopf. Im ersten Weltkrieg war er viel herumgekommen und er hatte mir genau erklärt, wie die einzelnen Berge hießen, die man an solchen Tagen von hier aus sehen konnte.
Oft meinte ich sogar, dort einige Skifahrer erkennen zu können, welche die schneebedeckten Berge hinunter fuhren, aber aus heutiger Sicht weiß ich natürlich, daß diese Vorstellungen wohl eher meiner lebhaften Phantasie entsprungen sind.
Zwischen diesen hohen Bergen und den Hügeln des Bayerischen Waldes konnte man wabernde Nebelschwaden erkennen, welche das ganze Tiefland der Donauauen von Regensburg bis Linz und sogar einige, etwas tiefer gelegene Baumwipfel des Bayerischen Waldes in eine ganz geheimnisvolle Atmosphäre tauchten.
Ganz gewiß wimmelte es darin nur so von Feen, Trollen und Elfen, vielleicht auch noch von anderen Fabelwesen?
Meine Großmutter hatte mir manchmal von solchen Fabelwesen erzählt, aber dabei auch den bösen Rauhwutzelbären erwähnt, der im dunklen Wald lebt und kleine Kinder frißt, die von zuhause weggelaufen waren.
An solch klaren Wintertagen hatte man wirklich das Gefühl, am Dach der Welt zu stehen.
Nur hier oben schien die Sonne, sie hatte die geschlossene Schneedecke in ein wahres Meer von vielen, kleinen Eiskristallen verwandelt, welche in den Sonnenstrahlen glitzerten. Der klirrende Nachtfrost hatte über dem metertiefen Schnee eine tragende Schneedecke geschaffen, die manchmal sogar erwachsene Menschen problemlos tragen konnte. Für mich als Kind jedenfalls die ideale Rodelbahn.

Eines Tages nahm ich meinen Rodelschlitten und fuhr damit über den Hügel hinter unserem Haus weit hinunter ins Tal bis zum Rande eines kleinen Gehölzes.
Heissa ja, das machte Spaß! Die Abfahrt über die steile Piste war sehr schnell und die tiefstehende Wintersonne blendete dabei so sehr, daß man kaum noch die Richtung der Fahrt erkennen konnte. Es war ein herrliches Gefühl.
Zurück ging ich eine ganze Weile über diese gefrorene Schneedecke und eine ganze Flut von Gedanken gingen mir dabei durch mein kleines Gehirn. Was wohl so ein armer Mensch empfindet, der gar nicht in der Lage ist, diese Pracht zu sehen?
Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen, deshalb schloß ich ganz fest die Augen und ging über die harsche Schneedecke, die mein kleines Gewicht sicher leicht tragen konnte.
Es war ein ganz eigenartiges Gefühl: Ich spürte die warme Wintersonne auf meiner Haut, sah einen rosa Schimmer durch meine geschlossenen Augenlider, ja, ich konnte den Schnee jetzt sogar riechen.
Da, plötzlich, ein falscher Tritt, ich brach mit dem linken Bein in den metertiefen, weichen Pulverschnee ein, der sich unter der harschen Schneedecke befand und versank darin bis zur Hüfte.
Entsetzt riß ich die Augen auf und krabbelte wieder aus dem Loch. Es war überhaupt nichts passiert, aber trotzdem überfiel mich plötzlich eine panische Angst davor, eine solche Situation völliger Blindheit könnte einmal Wirklichkeit werden.
Sogar als ich längst wieder zuhause war, beschäftigte mich dieser Gedanke noch sehr lange. Völlig blind zu sein, stellte ich mir viel, viel schlimmer vor, als z.B. auf Krücken laufen zu müssen oder gar beide Beine zu verlieren.
Ich habe nie wieder so ein Experiment unternommen.
 
In späteren Jahren, als Jugendlicher, wurde ich oft gehänselt, weil man mir einfach nicht glauben wollte, daß ich auf zwei Kilometer Entfernung noch die Hühner im Gehege meines Onkels zählen und dabei sogar noch erkennen konnte, ob diese braun oder weiß waren.
Auch ob das Auto meines besten Freundes Boris vor seiner Garage stand, konnte ich immer gut erkennen. Ohne Fernglas, wohlgemerkt!
Dieser Freund wohnte ca. fünf Kilometer von mir entfernt und ohne seine starke Brille war er - wegen einer starken Hornhautverkrümmung - fast blind. Deshalb konnte und wollte er solche „Märchen" nie glauben und fühlte sich oft von mir „verschaukelt."
In einem Anflug von schwarzem Humor hatte er mir deshalb den - ironisch gemeinten - Spitznamen „Adlerauge" verpaßt.
Um mich dafür zu „rächen", hatte ich ihn - wegen seiner starken Brille - „Vierauge" genannt.
Solche kleinen Boshaftigkeiten änderten jedoch nichts an unserer Freundschaft.
Mein Freund „Vierauge" kam später bei einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall ums Leben, seine Kurzsichtigkeit war ihm zum Verhängnis geworden. Er war sofort tot.
Auch meine Freundin, die ebenfalls Brillenträgerin war, wollte mir solche Sachen nie glauben.
Dafür aber war ihr Gehör überaus gut ausgeprägt. Gerade die feinen, leisen oder hohen Töne, die ich nie wahrgenommen hatte, hörte sie sehr gut.
Vielleicht aber waren wir gerade deswegen ein so gutes „Gespann?" Von boshaften Zungen wurde oft behauptet: „Der Eine sieht und der Andere hört."
Welch eine bodenlose Gemeinheit!
 
Die Jahre vergingen und mittlerweile ging ich schon auf die Fünfzig zu. Viele meiner Freunde oder ehemaligen Schulkameraden trugen bereits seit mehreren Jahren eine Brille.
Auch ich merkte langsam eine leichte Veränderung und beim Lesen der Morgenzeitung wurden die Arme immer länger und länger.
Anfangs konnte ich diese Entwicklung noch gekonnt überspielen. Bis meine Freundin eines Tages mit einem kleinen Schmunzeln ganz vorsichtig meinte, daß es vielleicht doch langsam an der Zeit wäre, mir wenigstens eine leichte Lesebrille zuzulegen.
Welch eine Beleidigung!
Ich war entrüstet: Eine Sehprothese? Ich? IIICH?? UNDENKBAR!!!
Mit derselben Begründung hätte sie von mir verlangen können, ich solle mir einen elektrischen Rollstuhl kaufen.
Ganz kurz und spontan gingen mir deshalb ernsthafte Trennungsgedanken durch den Kopf, die ich jedoch sofort wieder verwarf. Schließlich war sie doch sonst eine ganz liebe Maus.
Ganz sicher hatte sie es nicht so gemeint.

Oder etwa doch?
 
Also habe ich mir - nach langem hin und her - eine Lesebrille zugelegt. Natürlich nicht vom Optiker, sondern aus einem Baumarkt. Zu einem Augenarzt wollte ich deswegen nicht gehen, ich bin doch nicht krank!
Ich hatte auch nie vor, diese dumme Prothese in der Öffentlichkeit zu tragen, sondern sie in meine Jackentasche zu stecken, um sie - falls nötig - in unbeobachteten Augenblicken heimlich benutzen zu können. Mit Eitelkeit hat das natürlich überhaupt nix zu tun, aber ein bißchen Stolz hat man ja schließlich doch noch.
Aber, - welche Sehstärke würde ich denn überhaupt benötigen?
Heimlich hatte ich schon einmal die Brille meiner Freundin ausprobiert, aber damit konnte ich leider überhaupt nichts erkennen, sie war viel zu stark für mich.

Vor dem großen Wühltisch des Baumarktes probierte ich deshalb einige, verschiedene Brillen durch und kam zu der Überzeugung, daß eine Sehstärke von 0,5 Dioptrien für meinen Bedarf genau passen würde. Mehr als 1,0 wäre zuviel gewesen, weniger als 0,5 zuwenig.
Dazu hatte ich mir extra einen Mittwochvormittag ausgesucht, an dem hier nicht viel los war. Verunsichert sah ich mich um, ob diese Anprobeaktion irgend jemand bemerkt hatte.
Offensichtlich nicht?
Aber das hübsche Fräulein an der Kasse? Würde sie mich mit einem hämischen Grinsen mustern, wenn ich - neben den anderen Artikeln wie Kleister, Gips und Malerspachtel - auch eine Brille auf das Fließband lege?
Sollte ich einen Ladendiebstahl begehen und die Brille einfach klammheimlich einstecken?
Den läppischen Warenwert von 2,50 Euro könnte der Baumarkt sicher verschmerzen?
Andererseits - ich habe noch nie etwas geklaut, bin also kein Profi in solchen Dingen.
Und sicher würde ich mich ziemlich ungeschickt dabei anstelle.
Wenn mich nun jemand dabei beobachtet? Ein Kaufhausdetektiv vielleicht? Im Fernsehen habe ich des öfteren schon gesehen, daß sich diese Spürhunde als völlig unauffällige Käufer tarnen und dann - im entscheidenden Augenblick, an der Kasse - vor allen Leuten zuschlagen.
Was wäre die Konsequenz? Polizei, Verhaftung, öffentliches Aufsehen? Womöglich sogar Gefängnis? Und dies alles wegen einer Brille für zwo Euro fuffzich? Nee!
Trotzdem, es war ein Dilemma. Eine große Schachtel Kondome zu kaufen, hätte mir gewiß wesentlich weniger Probleme bereitet, als so eine verdammte Brille.
Da hatte ich die perfekte Idee: Ich kaufte einfach noch einige Schleifscheiben für die Flex, obwohl ich diese überhaupt nicht benötigte. So konnte ich die Brille notfalls als Schutzbrille für Schleifarbeiten deklarieren.

Hehehe! Was bin ich nur für ein findiger Kopf!

Als ich aber zur Kasse kam, hatte sich diese „Vorsichtsmaßnahme" bereits erübrigt.
Eine andere, etwas ältere Kollegin hatte inzwischen die Kasse übernommen.
Diese Kollegin trug eine Brille mit dicken Gläsern, die mich etwas an die Glasbausteine im hintersten Regal der Baustoffabteilung erinnerten und sie nahm keinerlei Notiz von der Art meines Einkaufes.
Puuuh! Das war also noch mal gutgegangen!

Bereits zwei Jahre später bemerkte ich erneut, daß beim Lesen eines Buches oder der Morgenzeitung meine Arme schon wieder etwas länger wurden. Und dies trotz Brille.
Dieses verdammte Ding hatte ich bisher ohnehin nur in meiner Wohnung benutzt und es nie im Büro oder gar in der Öffentlichkeit getragen.
Sollte etwa gar...? Ich wagte gar nicht, daran zu denken.
Wieder war es meine Freundin, die mich schließlich dazu überreden konnte, endlich mal einen Augenarzt aufzusuchen.
Dort mußte ich zuerst aus einem beleuchteten Kasten verschiedene Zahlen vorlesen und dann aus einem Heftchen mit verschiedenfarbigen Punktmustern Zahlen oder Buchstaben erkennen.
Was für ein Unsinn, ich bin doch kein Analphabet!
Diese Zahlen wurden jedoch immer kleiner und immer kleiner und die letzten konnte ich deshalb eher erraten als ganz klar erkennen.
Was war das denn? Früher hätte ich ihm diesen Unsinn bis zur letzen Zahl vorgelesen und jetzt? Ach was, sicher hatte ich nicht gerade meinen besten Tag.
Trotzdem ergab diese Untersuchung beim Augenarzt  noch eine Sehkraft von etwas über 100%.
Wie bitte???
100% sind 100%, mehr gibt es nicht. So hatte ich es einmal im Matheunterricht gelernt.
Ich weiß nicht, wie das gehen soll, mehr als hundert Prozent von was zu haben. Ich meine, wenn ich alle hundert Äpfel von hundert Äpfeln habe, kann ich doch nicht hundertzehn haben.
Das geht schon, hat der Augenarzt gesagt, bei der Sehkraft da geht das, denn die Skala der Sehkraft ist nach oben hin offen und die hundert Prozent seien sozusagen ein Durchschnittswert.
Er erklärte mir das so: Die Sehkraft des Menschen läßt im Laufe der Jahre etwas nach und 100% Sehkraft ist der Durchschnitt, was ein Mensch sieht.
Wenn man aber vorher 130% oder mehr gesehen hat, dann sind 100% natürlich eine gefühlte Verschlechterung, obwohl es immer noch mehr als ausreichend ist.
Es gibt vereinzelt sogar Menschen, die - in jungen Jahren - sogar eine Sehkraft bis zu 150% und mehr erreichen können.
Ich sehe aber für mein Alter noch recht gut, lediglich zum Lesen sollte ich eine Lesebrille mit 1,5 Dioptrien benutzen.
Welch ein Trost! Ich sollte also diese verdammte Sehprothese mein ganzes, restliches Leben tragen? Flüchtig dachte ich bereits daran, mich zuhause sofort zu erschießen.

Obwohl, - ich sehe doch immerhin noch ca. 100% und brauche somit keine Sehbrille.
Vielleicht sollte ich mir diese fixe Idee doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen, denn wer weiß, ob ich mit meiner Fehlsichtigkeit überhaupt noch treffen würde.
Außerdem werden die trauernden Hinterbliebenen dann nicht mit einer weiteren Sauerei von mir konfrontiert, der bisherige Schmerz ist eh schon groß genug.

Inzwischen liebe ich meine Lesebrille. Sie hat einen feinen Goldrand und verleiht mir einen ungemein klugen und intellektuellen Touch. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, dabei eine kleine Halbdrehung nach links mache, bin ich begeistert. Wo waren bisher nur meine Augen?
Viele, berühmte Köpfe der Weltpolitik und der Literatur waren Brillenträger. Na und? Hat das ihre Popularität vielleicht in irgendeiner Weise beeinträchtigt?

Heute weiß ich auch, was es - aus psychologischer Sicht - mit gutem Sehvermögen oder gutem Gehör auf sich hat. Der Volksmund hat dafür sehr treffende Ausdrücke geprägt.
Das Sehvermögen hat etwas mit Einsicht, Durchblick, Weitsichtigkeit, aber auch mit Kurzsichtigkeit zu tun, wogegen ein gut ausgeprägtes Gehör für Hellhörigkeit, aber auch für Gehorsam steht. Ich habe deshalb beschlossen, mich lieber nicht von meiner Freundin zu trennen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Reinhard Schanzer).
Der Beitrag wurde von Reinhard Schanzer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Reinhard Schanzer

  Reinhard Schanzer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Hundsgemein!: Merkwürdige Hundegeschichten von Walter Raasch



Genau als ich aus der Tür trat, fuhr in gemütlichem Tempo mein Mercedes an mir vorbei. Mit meinem Hund auf dem Fahrersitz. Er sah wirklich lässig und souverän aus, fast wartete ich darauf, dass er grüßend die Pfote hob. Ich denke, ich habe in meinem ganzen Leben niemals verwirrter und dämlicher aus der Wäsche geguckt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Reinhard Schanzer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Entstehung des Jodlers von Reinhard Schanzer (Humor)
Eine Überraschung von Marija Geißler (Wie das Leben so spielt)
Das Schaf (Karlis Aufsatz aus meinem ersten Buch von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen