Heidi Berger

Ein Tag in der Schleuder - 1400 Umdrehungen

 Wie kann das sein, dass ich hier sitze und völlig erschossen bin? Ich hatte heute frei. FREI! Das muss man sich mal vorstellen. Da liegt so ein schöner Tag vor einem –wie ein Stück Mohnkuchen, oder wie ein weißer Sandstrand, der endlos dem Horizont entgegen fließt……..Und dann am Abend erledigt sein. Fertig wie ein Schnitzel. Das kann man nur verstehen, wenn man noch einmal zum Morgen zurückspult.

Ich habe ja so eine ganz prima Waage. Da kann man einstellen, wie sich die Muskeln so entwickeln. Meine machen das momentan freundlicher Weise ganz gut und damit das so bleibt, habe ich beschlossen, dem ortsansässigen Fitnesstempel einen Besuch abzustatten. Natürlich nicht, um an Geräten langweilige Bewegungen zu machen, wenn da keiner guckt, ja- da schummle ich doch immer! Also lieber zum Hüpfdohlenkurs bei Annette.

Die ist heute nicht da, erfahre ich, aber Alex, die Vertretung ruft schon munter:“ bitte eine Matte cholen!“ aha, eine Russin bestimmt. So wie sie aussieht - sicher Tänzerin. Das lockige schwarze Haar hat sie flott mit einem gigantischen Band hochgebunden, sie trägt obenrum eigentlich so gut wie nichts und unten ein sehr knappes Höschen.Figur zum Neidischwerden. Ohrenbetäubende Musik setzt ein und wir beginnen mit einfachen Schritten.

Nun ist das so, dass ich eigentlich Schwitzen hasse. Gut, das gehört nun mal zum Sport, aber ich hasse es trotzdem. Also mache ich natürlich kleinere Schritte als Alex, die nach kürzester Zeit komplett durchgeschwitzt ist, klar, sie gibt alles. Leider kann sie trotzdem ihre Augen überall haben und so muss ich mir: „bitte mit mehr Spannung und größere Schritte machen!!“ anhören. Sehr peinlich, alle gucken. Nach unendlichen Minuten arbeiten wir auf dem Boden weiter. Für die Bauchmuskeln. „Stellt euch vor, ihr möchtet mit euren gestreckten Beinen eine kostbare Kristallschale gegen die Decke drücken!“ Aha. Wer bitte wäre so gestört, mit seinen FÜßEN eine kostbare Kristallschale….o.k, ist ja nur fürs Mentale, weiß doch jeder, hat alles mit dem Kopf zu tun, damit man die Bauchmuskeln auch so richtig spürt. Klappt. Nach vielen quälenden Übungen ist die Stunde vorbei, man applaudiert komischer Weise am Schluss und schleicht- mit zitternden Beinen, aber sehr stolz auf sich- von dannen. Ich bin froh, dass ich überhaupt noch aufrecht gehen kann, Alex gibt noch zwei Stunden. Ich glaube nicht, dass das normalerweise mit menschlichen Leben vereinbar ist. Wenn man sieht, was sie bei den Dehnungsübungen gemacht hat – da könnte sich jedes Stück Gummi aber noch eine Scheibe abschneiden!

Morgen und auch am Wochenende muss ich arbeiten. Also empfiehlt es sich, gleich noch schnell einkaufen zu gehen. Manchmal stelle ich mir dabei vor, ich bin eine Neandertalerin auf der Jagd. Bewaffnet mit meiner Keule schleiche ich mich durch die Steppe (Lidl) um Beute zu machen. Lautlos pirsche ich mich an mein Opfer heran und – HA ! schlage blitzschnell zu! Schnappe den letzten Radieschenbund einer ganz verdutzten anderen Jägerin vor der Nase weg. Sofort suche ich das Weite, schmeiße hier und da noch was ins Körbchen und schlittere elegant zur Kasse. Welche nehm ich? 1,2, 4? Blitzschnell überlegen, im Geiste den Warenkorb der anderen durchscannen und dann natürlich an die Kasse einschwenken, wo es garantiert am längsten dauert, kennt man ja.

Nach einem kleinen Snack zu Hause mache ich mich gleich wieder auf den Weg: zum Friseur.
Man kann in zwei verschiedenen Zustandsformen zum Friseur kommen. Entweder total aufgelöst, weil man sich einfach nicht mehr sehen kann, oder so wie bei mir gerade, och, sieht nicht mal so schlecht aus, ein wenig die Spitzen schneiden und die Haare sitzen wieder 1a.
Dieser Friseur bringt das Kunststück fertig, dass ich mich die ganze Zeit über in seinen Händen so fühle, als seien meine Haare und ich das Wichtigste auf der ganzen Welt. Darauf stehen die Frauen, Leute!

Selbiger Friseur entwickelte allerdings bei diesem Besuch ein gewisses Eigenleben, ja man kann sagen, er wollte sich wohl selbst verwirklichen. Nicht, dass ich dafür kein Verständnis hätte, ich will mich bei meiner Arbeit ja auch selbst verwirklichen – nur, muss das denn auf MEINEM Kopf sein? Ich sage nur soviel: ich musste 2mal hingucken um zu wissen, dass ich es war. Welch merkwürdiges Gefühl, wenn man so mit einem quasi anderen Kopf durch die Gegend läuft!

Ich war dann am Abend verabredet. Trifft sich eigentlich gut, wenn man direkt vom Friseur kommt, nicht wahr?

Da man dort, wo Paul wohnt, ganz schlecht parken kann, will ich mit der Straßenbahn fahren. Das geht ganz leicht, man muss nur vorher ein Hochschulstudium absolvieren, um sich einen Fahrschein aus dem Automaten zu ziehen. Also gar kein Problem. Kaum fährt die Bahn los, stürzt sich eine Frau auf uns Fahrgäste, um uns nachdrücklich auf ihre finanzielle Not aufmerksam zu machen. Kann man da nein sagen? Nach 20 Minuten aussteigen, um umzusteigen. Auf der etwa 100 Meter langen Strecke werde ich dann noch mal etwa 3 Euro los, ist doch logisch, dass ich die Obdachlosenzeitung unterstütze, der Frau Geld für die Ernährung ihres Hundes und dem Jugendlichen einen Zuschuss für sein Koks gebe! Ich bin doch kein Unmensch.

Die Haltestelle, wo ich aussteigen soll, weiß ich, aber war das jetzt in Fahrtrichtung und dann rechts oder entgegen der Fahrtrichtung und dann rechts? Das macht einen gewissen Unterschied, nicht wahr? Schnell ein paar Passanten nach der Straße gefragt, aber da kennt sich natürlich keiner aus. Und ich laufe bei meiner fiffty-fiffty Chance glatt eine Weile in die falsche Richtung.

 War auch nicht so geschickt von mir, Schuhe mit hohen Absätzen anzuziehen. Und wenn ich ehrlich bin, war es noch ungeschickter, mir so ein leichtes Fähnchen anzuziehen, bei den Temperaturen. Schon kitzelt die Nase, das gibt bestimmt einen hübschen Schnupfen. Oh nein- ich habe kein Mitleid verdient, wer einen auf „heut bin ich aber mal echt sexy“ machen will - tja, der muss auch einstecken können!

Doch, letztendlich habe ich es zu Paul geschafft, der eine ganz entzückende Altbauwohnung bewohnt und mir bei Musik, die genau nach meinem Geschmack ist, ein Bier serviert. Wir haben gegen später beschlossen, noch eine kleine Bar zu besuchen. Spannend, so bei Nacht in der großen Stadt, wo ich doch vom Land komme. Die Bar ist so, wie ich Bars aus dem Kinofilm kenne: schummrig, verraucht, überall verstreut sitzen Leute, die melancholisch in das Glas vor ihnen starren. Eine sehr mütterlich wirkende Dame steht hinterm Tresen, sie hat sicher schon viele Geschichten gehört und liest wohl von den Lippen ab, was wir gern zu trinken hätten, denn verstehen kann sie es bei der lauten Musik unmöglich. Man isst in der Stadt zu seinem Bier eine Frikadelle. Das wusste ich auch bisher nicht, ist aber ein schöner Brauch, vor allem, wenn die Frikadelle auch gut schmeckt

Ein wirklich schöner Abend, wir hatten viel zu Lachen, was ich sehr gern habe. Nun, irgendwann musste ich auch wieder den Heimweg antreten, also gemütlich zur nächsten Haltestelle geschlendert, dabei noch eine private Stadtführung genossen, wieder ein Ticket gezogen, beim 2.Mal weiß man, wie es geht, verabschiedet und in die Bahn gehüpft. So spät sind noch dermaßen viele Leute unterwegs, unglaublich! Nach 2 oder 3 Haltestellen kommt plötzlich eine Durchsage des Fahrers. Wir müssen alle an der nächsten Haltestelle aussteigen, weil er nämlich jetzt wo anders hinfährt. Und nicht dahin, wo wir dachten, dass er hinfährt. Nicht dorthin, wo diese Linie IMMER hinfährt. Wo ich hin will. Hilfe! Da steh ich also mitten in der Stadt, verloren, keiner kümmert sich um mich! Zum Glück ist da dieses Mädchen, die mir wohl meine Unschlüssigkeit ansieht. Ich müsse nur immer der Straße lang gehen, da käme ich zu meiner Straßenbahn. Und wie weit ist das? Ach, nur eine viertel Stunde. Super! Da stöckle ich also mitten in der Nacht eine lange Straße hinunter. Erstaunlich ist, dass einem da viele feine Flüche einfallen, von denen man vorher nicht wusste, dass sie irgendwo im Kopf leben. Wenn man schon dabei ist auf alles zu schimpfen, denkt man auch an alle Menschen, denen man ohnehin schon mal die Meinung sagen wollte. Was soll ich sagen, es war eine Art Katharsis, ja, ich würde fast meinen, man sollte es Leuten empfehlen, die nicht so richtig aus sich raus gehen können. Einfach unbequeme Schuhe anziehen und durch die Nacht zur Straßenbahn laufen, die man natürlich verpassen muss und dann eine halbe Stunde unter grölenden, dem Alkohol gut zugesprochenen Menschen, auf die nächste warten. Ja, das macht innerlich wirklich frei! Lockert. Spart den Psychologen.

Bin gut angekommen daheim – und fühle mich jetzt wie geschleudert. Komisch.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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