Wolfgang Urach

Schule des Lebens

 
Ich habe mir einen guten französischen Rotwein geschnappt und bin zur Hauseinweihungsfête zu Fuß gelaufen. Besser das als das Auto, meine ich, besonders wenn man an den Rückweg denkt.
Ich kenne Christoph seit meiner Kindheit; jetzt hat er sich in unserem Dorf ein Haus gebaut. Und was für eins. Grosse Glasfassaden, helle Räume, hohe Decken, Holzstruktur. Sehr reizvoller Architekturstil, hier würde ich auch gern einziehen.
Der grau melierte Herr Mitte Vierzig macht mir persönlich die Haustür auf.
„Hallo Christoph!“
Er grinst: „Hallo!“ und nimmt mir den Rotwein ab.
Ich folge dem Zweimetermann in sein neues Eigenheim.
Elke, seine Frau, begrüßt auch ganz herzlich.
Dann sehe ich die Gesichter, die man immer wieder sieht, wenn man nicht mehr im eigenen Dorf, sondern irgendwo 500 km weiter in der Außenwelt wohnt.
Rolf, Markus, Tina – ich unterhalte mich gut.
Zu einem rheinischen Gartenfest gehört gut gekühltes Kölsch vom Fass, Gegrilltes, Buletten und Kartoffelsalat – dieses und noch viel mehr bekommt man hier.
 
Ich suche den Rocker mit den langen Haaren, den Punk-Gitarristen, den herausragenden Torwart des Regionalliga-Vereins, den Schrecken der Dorf-Hauptschule, der das Abi per Abendschule nachmachte … und finde nur einen vergnügten, verbürgerlichten Christoph.
Der Abend verläuft regenfrei (trotz Rheinland), aber sehr Kölsch-beladen. Kurz sehr vorhersehbar. Irgendwann um Mitternacht sitzen wir bei Kerzenlicht am Gartentisch, halbleere Kölsch-Stangen vor uns.
Und irgendwie sind wir dann wieder in Stammtischlaune und erzählen unter dem Sternenhimmel Geschichten, die sonst keinen interessieren oder in das Reich der Märchen verbannt werden.
 
Christoph ist schon tüchtig dabei: „Also Hauptschule, das war ja damals anders als heute, wo die Hauptschule fast ’ne Sonderschule ist. Damals ging die Hälfte des Dorfs in die Hauptschule. Und da ging’s richtig zur Sache. Ich erinnere mich, ich hatte Unterricht beim Rektor selbst. Deutsch. Und der war ein Strenger.
‚Ich habe die Schnauze voll, dass hier keiner Hausaufgaben macht’, war er am Schimpfen, ‚ihr könnte eure Hausaufgaben machen, wie ihr wollt, selbst auf Toilettenpapier, aber ich will hier keinen mehr haben, der ohne antanzt.’
Na klar, da bin ich nach Hause gekommen, direkt aufs Klo, eine Rolle geholt und habe dann meine Deutschhausaufgaben fein säuberlich auf das Klopapier geschrieben.“
Die Tischrunde schmunzelt. Ich zapfe mir noch ein Kölsch. Eine Sternschnuppe fällt vom Himmel.
 
„Ja und dann am nächsten Tag“, fährt unser Geschichtenerzähler fort, „will natürlich der Rektor die Hausaufgaben sehen. Ich hole mein Klopapier heraus: ‚Sie haben doch gesagt, dass wir die Hausaufgaben auf Klopapier schreiben können.’
Ich habe kaum zu Ende gesprochen, da bekomme ich vom Rektor eine gelangt.“
Unsere Tischrunde lacht.
„Aber das Beste kommt noch: Ich gehe also sauer nach Hause und direkt zu meinem Vater: ‚Hör mal, der Rektor hat gesagt, wir können unsere Hausaufgaben schreiben, auf was wir wollen, selbst auf Klopapier, da habe ich sie dann natürlich auf Klopapier geschrieben. Und jetzt langt er mir eine dafür.’ Ich habe kaum ausgesprochen, da hole ich mir noch eine durch meine Vater ab.“
Unsere nostalgische Stammtischrunde wiehert vor Lachen.
 
„Ja“, meint aber jetzt unser lebenserfahrener Gastgeber, „wisst mir, was mir Jürgen kürzlich erzählt hat?“
Schulterzucken in der Kölsch-Runde.
„Er ist doch Gymnasiallehrer, und da gibt es Situationen, wo du nicht mehr weißt, was du davon halten sollst…
Es ist also wieder mal in seiner Mathestunde, dass irgendein Schüler mit seinem Handy spielt. Jürgen verwarnt ihn, der spielt weiter, OK, Jürgen kassiert das Handy ein. Das ist Schulregel, der Lehrer darf das Handy als erzieherische Maßnahme eine Woche lang konfiszieren. Jürgen legt das Telefon auf das Lehrerpult, es klingelt zur Pause. Und mein Freund sieht aus den Augenwinkeln, wie der besagte Schüler am Lehrerpult vorbeigeht und sich wieder sein Handy schnappt. Normal, Jürgen läst das nicht durchgehen: ‚Los gib das Ding zurück; ich habe es konfisziert.’
Der Schüler legt das Handy wieder hin und zieht bedröppelt ab.
Eine weitere Schulstunde vergeht, da wird Jürgen zum Direktor gerufen.
‚Was ist das denn für eine Geschichte?’, will der Direx wissen.
‚Was?’, fragt Jürgen unschuldig zurück.
‚Na diese Sache mit dem Handy!’
So, was nämlich passiert ist, ist Folgendes: Der Schüler ruft zuhause an. Die Eltern, die ihm am Vortag das Handy zum Geburtstag geschenkt haben, rufen sofort beim Direx an, was das wohl für ein ungerechtfertigtes Lehrerverhalten wär. Und der Schulleiter lädt seinen Kollegen vor…“
Ich nicke und kippe mir das letzte Kölsch hinter die Binde.
 
„… Und wenn es das nur wäre. Aber Jürgen kommt nach Hause, und seine Frau ist ganz aufgeregt: ‚Was ist das denn für eine Geschichte?’
‚Wie?’
‚Ja, hier ruft unentwegt die Mutter einer deiner Schüler an und will dich ganz dringend sprechen. Sie hat unsere Telefonnummer im Örtlichen gefunden. Es geht wohl um ein Handy, und sie müsste mit dir ein ernstes Wort sprechen.’“
Christoph ist zu Ende. Unsere Runde ist verstummt, wir wissen nicht, ob wir lachen oder weinen sollen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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