Anton Distler

wundert es?

Wundert es?

 

 

 

„Wundert es, kein Gehör zu finden, wenn das Rauschen das Sprechen paralysiert? Wundert es, keinem Gefühl zu eignen, wenn das Denken das Wissen proklamiert? Wundert es überhaupt, wenn die Unmittelbarkeit nicht zu haben ist?“

 

 

 

Es begann der Einsame zu denken. Der Einsame stob, einem blinden Windeshauch gleich, die Gedanken auseinander wie scheue Tauben. Wo gab es noch scheu Tauben? Der Schnee verhinderte ihre Sichtung. Dahinter kamen die Schattierungen, grau, nebelweiss, Grauschleier, pechschwarz, die Raben sassen lange schon auf den Äckern, kalt war es geworden, Schnee lag auch in der Luft. Die Gedanken stoben auseinander, nur tat dies der Einsame nicht, nicht der Blinde. Vielmehr war es ein Gehirn, einem Windhauch gleich, das glaubte zu denken. Der Einsame dachte nun wirklich und musste feststellen, dass Denken gedankenlos vollzogen wurde. Die Gedanken stoben, die Krähen setzten an zum Flug – das Feld blüht auf, der Schnee lag in der Luft, die Grenzen wichen dem Raum, der Schein erhellt plötzlich unsere Gesichter – nicht nur am Sonntag.

 

 

 

Erhellten Gemüts ziehen wir von dannen. Wollen das Wahre, das Schöne und das Gute. Erleben. Leben in Zwietracht ob der unvermeidlichen Zensur im Gedächtnis, dass das Hohelied ohne Leid nicht zu haben sein solle. Im Wald, so sprach es sich rum, im Wald leben die Geister derer, die wir zu lieben nicht wagten, aus Angst. Die Angst generiert den Hass auf das nicht zu Vereinbarende im Andern. Tradition wird zu Farce, wenn der Andere nicht auf eine andere Art überliefert werden kann als durch die Benennung einer unendlichen grossen Nummer. Der Einsame zieht sich zurück ins Gemüt. Im Wald ist es schön furchtbar. Tobel, Trichter, Treblinka. Im Gemüt, das Deutschtum, das romantische Ansinnen, das Leben sei bedeutend. So lange fragen wir schon ohne zu besinnen. Quietismus? So traurig. Schwarz. Wald. Lager. Stätten des gesichtslosen Gemordetwerdens. Schwarzwald, Lagerstätten, Schwarzwaldlagerstätten; der Zug fuhr an.

 

 

 

Den Rücken zur Kugel gewendet, verliert der Blick die Bindung an das Objekt. Den Finger am Drücker, gekniffenes Auge zielt über Kimme und Korn, ob mit oder ohne Zorn, ein letztes Pressen der Lippen, luftgepresstes Abdomen, Schuss. Der Einsame wiederholt am Morgen das Spiel des Abends. Ohne Angst weiss er, dass alles möglich wird, wenn der Mensch nur will. Es geht. Einer, zwei, drei Tote, wir zählen nicht wirklich. Das Wahre, das Schöne, das Gute hat ihren Ursprung im Fluchtpunkt des Menschen. Im flieht die Möglichkeit, das eine ohne das andere zu haben. Einer muss dran glauben. So denkt der Einsame nun wirklich.

 

 

 

Im Wald, es war dem Einsamen, als hörte er nur sich noch am leben, schwanden die Flecken am Himmel zu einem blauen Loch. Still war es. Der lang erhoffte Nutzen nicht. Es hat sich gelohnt. Der Wald war sauberer geblieben. Schwarz, grau, tannengrün, durchdunkelt von wabernden Sensitivitäten. Ehre gebührt dem Wald, der der ruhigen Menschenhand gehorcht. Sein Tagwerk war es stets, das uns den Rückzug ermöglichte. Wir kehren heim. Wie kehren wir heim, wenn der Wald die Deckung nimmt? Blau konnte das am Himmel nicht immer gewesen sein. Lichter wurde der Wald, der Einsame durchquerte ein Stück grasbewachsener Erde über eine letzte Erhebung hinweg, - Kommando still gestanden. Ein Hügel. Das war das tiefe Loch, das ehemals ausgehoben wurde von Leuten, die man im Wald schon bald nicht mehr zu unterscheiden wusste von dürrem Gestrüpp. Fein war das Gras damals, weich, grünend seit einigen Wochen schon. Vom Donner nur wurde ihnen gekündet ein umwälzendes Erheben der Gewalt gegen des Waldes Inventar. Trichter hier und da waren Vorbild für die Arbeiter, die sich selbst die nächsten waren und darin so einsam wie Todgeweihte nur sein können. Verflucht war das laute Getöse und Gewirr, verflucht der Zerfall von Struktur, die der Sehnsucht nicht mehr dienen konnte. Jedes momentdauernde Überleben war ein abgeschattetes Zuviel an grösser werdendem Leid. Das Leid hatte seinen Namen bekommen: Das einsame, mal sonnenbeschienene, mal abgedunkelte Sterben. Die Schuld zu leben war an den Mann gebracht worden, abgeklärt und abgetreten durch Ahnen- und sanguinem Waldbodenkult. Der Wald verlor kein Wort darüber, Schuld war ihm einerlei, doch die vermeintliche Lichtung war nun auch dem Einsamen abhanden gekommen. So einfach war das Leben, befehlen und gehorchen das Prinzip, abgewandelt vom Prinzip des Teilens und Herrschens der Antike und übrigen Moderne; die Grenzen waren durchsichtig, treffen konnte es jeden. Wer spielt mir das Lied vom Tod? Die Erlösung lag im Leid, eine saubere Welt für alle Reinen dieser Welt, ausmerzen was auszumerzen sich erbot in ergebener Weise, Hoffnung auf Aufklärung noch verschwendend, wo lange, lange die Züge schon dem entfernt weilenden, entropischen Ziel gehorchten.

 

 

 

Der Einsame wandte sie sich zum Gehen als ihm schreckliches widerfuhr. Der Vollstrecker missdeutete die Bewegung als eine zur Flucht. Dabei war der Einsame nur einem Tagtraum verfallen, einem Zustand desolaten Hoffens, einfach hingehen zu können wohin es ihn beliebte. „Ich bin frei, was mache ich hier, wem gehorche ich noch, wenn nicht mir. Wen wundert es, dass es der unfreiwillig Toten so viele zu verscharren gibt, wen man sich nicht in Bewegung setzte?“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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