Julia Bergius

Das Märchen vom Drachen Kunibert

Der Drache hieß Kunibert und war schon recht alt. Er sah auch kaum mehr etwas. Entgegen der Gewohnheit aller Drachen hatte er seinen Hort nicht in einer finsteren Höhle errichtet, von welcher ein Labyrinth abzweigte und durch den ganzen Berg führte, bis zu dem geheimen Einschlupf, den Abenteurer und Drachentöter immer benutzten. Statt dessen wohnte er auf einem Berggipfel unter freiem Himmel. Sein Schatz lag in einer großen Mulde, die er gegraben hatte, als er noch jünger und kräftiger war.

Heutzutage vermehrte sich der Schatz nur noch langsam. Edelsteine fand Kunibert kaum; nur wenn sie von Menschen geschliffen waren und in der Sonne funkelten, konnte er sie entdecken. Die meiste Zeit musste er sich aber auf seinen "sechsten Sinn" verlassen, mit dem er Metalle wahrnahm. Leider unterschied dieser Sinn nicht zwischen Gold und Blei. So sammelte der Drache also fleißig Eisenerz, Blei und andere wertlose Metalle, statt schimmerndem Gold und Silber.
Natürlich wusste Kunibert um seine schlechten Augen. Er machte sich auch kaum Illusionen über den vermutlichen Wert seiner Beutestücke. Nur heimlich hoffte er, hier und da zufällig einen interessanten oder wertvollen Fund gemacht zu haben.

Die Menschen im Dorf störten ihn kaum; und sie hatten sich ihrerseits mit ihm arrangiert. Sie hängten ihren Jungfrauen (und natürlich auch allen anderen) keinen glitzerigen Schmuck mehr um, sondern begnügten sich mit bunt gefärbten Tonperlen an Lederbändchen. Das war ein geringer Preis für ein ungestörtes Leben unter einem Drachenhort.
Manche Dorfbewohner waren sogar keck genug, den Drachen in seinem Nest zu besuchen und ihm Fragen zu stellen oder Rätsel aufzugeben. Obwohl der Drache jedes Mal ehrfurchtgebietend fauchte und manchmal sogar eine kleine Flamme produzierte, wussten die Menschen, dass er längst zu schwerfällig und alt war, um eine wirkliche Gefahr zu bedeuten. Insgeheim genoss Kunibert diese Besuche sogar, denn sie waren die einzige Abwechslung in seinem Leben.

Eines Tages kam ein junges Mädchen namens Mara den Hügel hinaufgesprungen, um den Drachen zu besuchen. Sie hatte sich mit ihm angefreundet, weil es in dem Dorf niemanden gab, der mehr Rätsel wußte als er.
"Hallo Kunibert", sagte sie, "was macht der Flügelspitzenreumatismus?" Kunibert jammerte Mitleid heischend und schob unauffällig seine neueste Errungenschaft hinter einen Stapel Juwelen.
"Was versteckst du denn da?", fragte Mara, die ebenso aufmerksam wie aufgeweckt war.
"Ach das", murmelte Kunibert, "nichts Wichtiges..."
Das erregte natürlich erst recht Maras Neugier, denn für einen Drachen gibt es nichts Wichtigeres als seinen Schatz. Kunibert war da keine Ausnahme.

Seine Neuerwerbung war eine abenteuerliche Konstruktion aus mehreren dünnen Eisenstäben und obgleich es nicht besonders schwer war - für einen Drachen - hatte es doch recht sperrige Ausmaße.
Der größte Teil des Dings ragte hinter dem Juwelenstapel hervor. Mara ging näher. Irgendwo hatte sie ein solches Gerät schon einmal gesehen. Ach ja! Der Pfarrer hatte es kürzlich auf dem Dach der Kirche anbringen lassen - um Gottes Energien zu bündeln, wie er behauptete. Ein langer, dicker Draht führte von dem Ding bis zum Boden und niemand durfte ihn berühren. Der Pfarrer liebte es, immer neue, immer seltsamere Erfindungen zu machen und probierte sie natürlich alle aus. Ein Wunder, dass er so lange überlebt hatte. "Gottes schützende Hand ruht auf mir.", verkündete er stets, wenn ihn jemand warnte.

"Der Pfarrer wird böse sein", sagte Mara.
Kunibert schaute betreten drein. Er wollte den Pfarrer nicht gegen sich aufbringen, sonst käme er noch und probierte seine Erfindungen an ihm aus, oder versuchte ihn gar zu bekehren! Mara stemmte die Hände in die Seiten und sagte streng: "Du hast einen so großen Schatz gehortet. Warum musst du immer noch mehr stehlen; noch dazu solches wertloses Zeug? Warum läßt du dem Pfarrer nicht seinen Spaß?"
Kunibert schielte verzweifelt auf seine Pfoten hinunter und sagte: "Ich bin ein Drache", als ob das alles erklärte. Nun, eigentlich gab es tatsächlich nicht mehr dazu zu sagen: Drachen horteten nun mal Schätze, es lag in ihrer Natur.

Mara ließ das Thema fallen, und die beiden vergnügten sich noch eine Weile, indem sie einander möglichst ausgefallene Rätsel auf gaben.
"Hm... was ist groß, blau und dreieckig?", nuschelte der Drache. "Ich komme einfach nicht darauf!"
"Na ein großes, blaues Dreieck!" rief Mara und lachte hell auf.
Kunibert versuchte eine Flamme zu produzieren. Aber da traf ihn gerade ein großer Regentropfen mitten auf die Nase.
"Du gehst besser nach Hause", sagte er zu Mara, "es fängt an zu regnen."

Der Himmel war von schweren Turmwolken bedeckt, dicke Regentropfen platschten auf den Drachen und das Mädchen. Kunibert machte der Regen nichts aus. Er hatte dicke Schuppen, das Wasser floß einfach an ihm ab. Die menschliche Haut war dafür aber nicht gemacht und ihre Kleidung saugte das kalte Wasser auf wie ein Schwamm.

Mara winkte einen flüchtigen Abschiedsgruß und rannte mit großen Sprüngen den Hang hinab aufs Dorf zu. Noch bevor sie ihre rettende Heimat erreichte, prasselte der Regen herunter wie aus Kübeln. Im Nu durchnäßte er Mara völlig. Gerade, als sie das Haus betrat, begann es zu blitzen, und gleich darauf rollte der Donner.
Neben der Kirche sprang der Pfarrer herum, seine Soutane hing ihm schon wie ein nasses Handtuch um den Leib. Bestimmt regte er sich über den Dieb auf, der seinen Blitzleiter gestohlen hatte, denn nun konnte er das Feuer Gottes nicht einfangen.
Nachdem Mara sich abgetrocknet und frische Kleider angezogen hatte, setzte sie sich mit einer Schüssel warmer Suppe ans Fenster. Obwohl der Drache stets darauf beharrte, der Regen störe ihn nicht, sorgte sich Mara doch um ihn. Etwa zehn Minuten später erreichte das Gewitter seinen Höhepunkt.

Als Mara gegangen war, grub Kunibert sich tiefer in seine Schätze ein, um bequemer schlafen zu können. Dabei stieß er an das sperrige Ding vom Dach der Kirche. Er schob es ein Stück zur Seite, und dabei richtete es sich auf. Der Drache merkte nicht, dass es nun wie eine Antenne in die Höhe stach, und schlief schließlich ein.
Doch schon kurze Zeit später fuhr ein gewaltiger Blitz vom Himmel. Der Pfarrer behauptete später, er sei das Gericht Gottes gewesen. Ein mächtiger Donner folgte, aber den hörte der Drache schon nicht mehr.

Der Blitz schlug in den Blitzleiter ein, um den sich der Drache geringelt hatte. Die Juwelen schirmten den Boden ab, so daß das elektrische Feuer nicht fortgeleitet wurde, sondern sich in den Eisenstäben sammelte und schließlich in einem gewaltigen Ausbruch auf den alten Drachen übersprang. Er verbrannte in Sekundenschnelle.
Mara sah die Explosion, und wenn ihre Eltern sie nicht zurück gehalten hätten, wäre sie gleich wieder in den Regen hinausgerannt, um nach Kunibert zu schauen. Tränen standen dem Mädchen in den Augen.

Später, nach dem Gewitter, gingen die Dörfler mit Fackeln in den Händen zum Drachenhort hinauf. Obwohl es bereits dunkelte, erlaubten Maras Eltern ihr mitzukommen. Die Mulde auf dem Berggipfel war von Asche überstäubt. Verbogen und verschmort ragten die Überreste des Blitzleiters heraus.
"Kunibert", schluchzte Mara und wühlte in der Asche, als habe sich der Drache nur darunter versteckt, "Kunibert!"
Der Pfarrer sprach ernst einen Segen für den Drachen. Die Dorfbewohner zogen respektvoll ihre Hüte und senkten die Köpfe. Denn im Grunde hatten sie den alten Drachen gern gehabt; er hatte ihnen seit Generationen nichts mehr zu Leide getan. Der Pfarrer aber beharrte darauf, jener Blitz sei Gottes Strafgericht gewesen, für die unersättliche Habgier des Drachen, der selbst vor Seinem Eigentum nicht Halt gemacht hatte.

Viele Jahre später, als Mara längst erwachsen und der Pfarrer schon gestorben waren, nahm ein neuer Drachen den Hort in Beschlag. Er war jung und kräftig und kannte kein Erbarmen. So erzählte Mara ihren Kindern Geschichten von dem freundlichen, alten Kunibert, dem Gott nicht einmal einen wertlosen Blitzableiter gegönnt hatte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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