Matthias Arndt

Destination Anywhere







Destination Anywhere


(c) 1998/2005 by Matthias
Arndt


Vorwort
Ein Roadmovie – als ich
damals die erste Szene aufschrieb war klar, es würde ein
Roadmovie werden. Die Urfassung schrieb ich 1998 unter einem anderen
Titel. Diese Fassung ist sehr erweitert, historisch korrigiert und im
Feeling echter, ausdrucksstärker und noch emotioneller als das
Original.
Unsere Story spielt im
Mittleren Westen und beginnt auf einem Highway in Iowa, im Sommer
1958.
Ähnlichkeiten mit
toten oder lebenden Personen sind rein zufällig und nicht
beabsichtigt. Einige Personen, die in dieser Geschichte auftreten,
sind echt und haben wirklich existiert, bzw. sind zum Zeitpunkt
dieser Niederschrift noch am Leben. Ich möchte niemanden zu nahe
treten. Aber der Kontext und die Intention des Autors machten die
Geschichte dadurch lebendiger und insbesondere echter. Geschilderte
Szenen sind der Phantasie entstanden, Träume sind Schäume,
so heißt es.

Was ist das Ziel, die
Intention, das zentrale Motiv? Die Epoche, die Musik, Emotionen, eine
Beziehung oder alles auf einmal? Lies selbst und schaffe Dein eigenes
Bild.


(1)


Die Sonne stand dicht
über dem Horizont, gleißend und glutrot streckte sie in
einem letzten Aufbäumen ihre Fühler von sich, bevor der
Vorhang der Nacht fallen würde. Ein warmer Wind wehte über
die Felder von Iowa. Hochsommer! Ein Highway lief quer durch die
Landschaft, eine doppelte Betonschlange mit Ziel im Nirgendwo. Felder
und Farmen links und rechts, wenig Büsche, keine Bäume. Ein
Greyhound, womöglich von Des Moines kommend, ein einzelner
Truck, der große Rohre geladen hatte. In der Gegenrichtung, gen
Westen, ein einsamer Wagen den Abend durcheilend. Ein metallicblauer,
offener Pontiac Baujahr 1955 mit einem liebreizenden Pärchen
darin. Das Kennzeichen aus Indiana. Aus dem Radio erklang TCRS, der
lokale Radiosender. Irgendeine Schnulze von Pat Boone lief. Er fuhr
den Wagen, sie, seine Freundin, saß neben ihm und war am
Einnicken. Bei der Musik kein Wunder. Er mochte um die 18 Jahre alt
sein, genauer war das nicht zu sagen, jedenfalls nicht ohne seine
Papiere gesehen zu haben oder ein Gespräch geführt zu
haben. Er trug ein Jeanshemd mit Metallknöpfen, ein rotes
Halstuch und Jeans. Er hatte kurzgeschorene
Haare, eine Andeutung von Wirbeln und Unstetigkeit im Anblick, aber
weder wild, noch rebellisch. Ein leichter Bartflaum
zeigte sich bei näherer Betrachtung am Kinn. Sie war das süßeste
Mädchen, daß der Westen je gesehen hatte. Schulterlange,
leicht lockige blonde Haare, hellblaue Augen, eine Andeutung von
Sommersprossen auf der kleinen rundlichen Nase, ein liebes Lächeln,
auch im Halbschlaf, schmale Hüften, wahnsinnig scharfe Schenkel
und auch ihre restlichen Attribute waren nicht zu verachten. Das
Mädchen mochte 17 Jahre alt sein, keineswegs älter. Was
mochte die beiden in diesen Wagen gebracht haben? Was hielt sie
beieinander und wohin sollte die Fahrt führen?


Nehmen wir an, unser
junger Freund würde seine Papiere hervorkramen. Das würde
sich ungefähr so lesen: „Richard Dorkins junior, geboren am 2.
Februar 1940 in New Haven, Indiana. Mutter Janine, Vater Richard“
Ein Militärausweis, relativ neu und
eingeschweißt, würde auffallen, unseren jungen Freund als
Mitglied der neunten Infanteriedivision,
stationiert in Fort Wayne, ausweisen. Das würde auch die
Militärtasche im Kofferraum erklären.
Seine Freundin nicht viel besser. Nur ein Führerschein würde
sie ausweisen, als „Rebecca Foster, geboren am 17. Mai 1941 in Fort
Wayne.“, der Führer schein keine 4 Monate alt, wenn man das
Ausstellungsdatum beachtete. Der ungewöhnliche große
Rucksack unserer jungen Dame würde ein weiteres Detail in
unserem Bild liefern.


Die Sonne war inzwischen
hinter den Horizont gesunken, nahezu unmerklich aber stetig und
beständig. Für die beiden wurde es Zeit, sich eine Bleibe,
ein Motel oder etwas ähnliches zu suchen. Im Radio erklang
gerade „Heartbreak Hotel“ von Elvis, schon über zwei Jahre
alt, aber immer noch durchaus beliebt. Richie, so wollen wir unseren
jungen Freund von nun an nennen, mochte zwar eher die flotten Stücke
von Little Richard, zum Beispiel „Tutti Frutti“, auch „Good
Golly Miss Molly“ war gut, aber Elvis war auch brauchbar, sofern
der nicht auf dem Schnulztrip war.
Ein Straßenschild.
„Welcome to Monroe, Tacoba County, Iowa“ stand auf dem Schild.
Typische Touristenwerbung mit wehenden Maisdolden und lächelnden
Hausfrauen. Diese Sorte Kleinstadt hätte man genauso im Umkreis
von 300 Meilen finden können.


Die Kleinstadt begann.
Ein Wasserturm, eine Zuckerfabrik, ein Bahnhof. Er stieß seine
Freundin an. Sie wachte auf, und lächelte. Er küsste
sie zärtlich, obwohl der Wagen mit voller Fahrt durch die Stadt
heizte. „Nun Baby, wird schon duster. Wollen wir uns hier irgendwo
eine Bude suchen?“ Sie gähnte. „Ok, ist wohl besser.“ Da
vorne, da war ein Motel, gleich neben der Gulf Tankstelle. Er fuhr
raus, hielt an und sprang aus dem Wagen. Blaues Neonlichte
beleuchtete den Parkplatz „Vacancy“.


„Becky, ich komm gleich
wieder.“ Er ging zum Büro rüber, eher entschlossen im
Schritt. Es gab ja wenig Alternativen zu dieser Uhrzeit. Im Wagen
schlafen? Nur im äußersten Notfall, wenn überhaupt!
Zum Glück brannte dort im Büro noch Licht. Ein heiße
Rothaarige mit einer dreieckigen spitzen Brille saß hinter dem
Tresen. Sie musterte den jungen Mann mit einem fast spöttischen
Gesichtsausdruck. „Guten Abend, haben sie noch ein Zimmer frei?“
Die Dame hinter dem Tresen lies eine Kaugummiblase
platzen. „Sicher, aber nur für eine Nacht, Junge.“
„Wieviel?“ „8 Dollar die Nacht.“ „Ok, ich brauch aber ein
Doppelzimmer.“ Sie grinste verständnisvoll. „Präser
gibts vorne an der Straßenecke im Automaten.“ Er grinste.
Daran hatte er bisher noch nicht zu denken gewagt. „Tragen Sie
bitte hier Ihren Namen und den Ihrer Zimmergenossin ein.“ Sie
zeigte mit dem silbernen Kugelschreiber auf eine Zeile im großen
Registrierungsbuch. Leserlich trug er ein:
Rebecca & Matthew Foster. Eigentlich war das gelogen. Sie waren
nicht verheiratet. Auch hieß er ja nicht Matthew Foster,
sondern Richard Dorkins, genannt Dorkins junior. Er war flüchtig,
vor dem Militär. Allerdings, Rebecca stimmte. Seine Süße
hieß tatsächlich Rebecca. Da hätte er niemals etwas
anderes sagen wollen. Becky war zu hübsch und viel zu nett, als
das man ihr einen falschen Namen hätte unterjubeln wollen. Auch
hatte sie ja nichts falsches getan. Je nach Standpunkt jedenfalls.
„Zimmer 40 ist es.“ Die Dame mit dem Kaugummi gab ihm den
Schlüssel. „Zahlen müssen sie erst morgen früh. Wir
vermieten nur für eine Nacht. Um 10 müssen sie raus.“
„Danke!“ Er verließ das Büro mit schwingendem
Schritt. Das hatte ja wunderbar geklappt!


„Hi Babe, Nr. 40 ist
unser Zimmer.“ „Dann laß es uns suchen. Ich bin ziemlich
müde.“ Tolle Aussichten, waren sein Gedanke, den behielt er
aber lieber für sich. „Ok, für dich, Baby, tue ich
alles." „Wirklich alles“ wäre er bereit hinzuzufügen
gewesen, aber eine letzte Ungewissheit hielt ihn davon ab. Oder war
es der Stolz oder, Gott bewahre, Zweifel?
Sie nahmen ihr weniges
Gepäck und suchten das Zimmer. Die Zimmer befanden sich in einem
länglichen Gebäude mit einer Veranda nach vorne. Die Hand
auf Beckys sanft mit dem Schritt schwingender Hüfte und beide
fühlten sich wohl. Anders konnte man das wohlige und zufriedene
Lächeln auf ihren beiden Gesichtern schwerlich deuten. „Hier
ist Nr. 40.“ Er schloß die Tür auf. Becky strahlte. Ein
weites Zimmer. Ein Doppelbett, ein Tisch, zwei Stühle, ein
großer Schrank. Ein Radio, eine kleine Anrichte. Eine Tür
führte ins Bad. „Genial, oder?“ „Sicher, Daddy-O.“ Sie
gähnte. „Komm, laß uns pennen.“ Schnell hatten sie
sich ausgezogen und sprangen ins Bett. Das erste Mal, das sie beide
in einem Bett schliefen. Er sah ihre Rückfront. Doch jetzt war
auch er zu müde, um sie zu verführen. „Third base“ wäre
etwas viel. Außer etwas Fummeln war noch nichts gelaufen. Aber
das hatte auch Zeit bis zu einem anderen Mal. Gähnend drehte er
sich um und schlief ebenfalls ein. Der Tag war ja lang gewesen.

(2)


Er wachte auf. Ein Blick
nach draußen zeigte ihm, daß es schon hell wurde. Er
drehte sich um. Becky schlief noch. Von hinten sah sie ziemlich süß
aus. Wie hatte sich Benny noch ausgedrückt? „Irgendwann
solltest auch Du mit Bumsen anfangen.“ Gegrinst hatte der dabei,
die Aussage wohl eher wohlwollend und freundschaftlich gemeint. Das
war keine 2 Wochen her. Sobald er an die Army zurückdachte,
lief Richie ein Frösteln den Rücken herunter. Nein, er
hatte eine Entscheidung getroffen und jetzt hielt er sich daran. Die
Brücke hinter ihm würde noch früh genug verbrennen.


Er stand auf und
verschwand im Bad. Erst mal waschen, frisch
machen, dann würde er weiter sehen. Als er gerade die
Dusche verließ, da hörte er, wie Becky im Nebenraum das
Radio anschaltete. Dann war sie wohl mittlerweile wach. Eine nasale
Stimme: „Hier ist wieder TCRS, mit heißestem Rock'n'Roll am
Morgen. Jerry Lee Lewis spielt 'Whole Lotta Shakin' Goin' On'.“ Ein
heißer Tune ertönte. Bemerkenswert, seit der „Child
Bride“-Affäre spielte eigentlich kein Diskjockey mehr Jerry
Lee Lewis. Er zog sich schnellstens an und öffnete dann die Tür.
Becky saß auf der Bettkante und bürstete ihre Haare. Er
lächelte sie an. Dann nahm er sich zusammen und sprang auf sie
drauf. Sie kicherte. „He, laß das. Du bringst
... „ Schmatz. Lange hatte er sie nicht so geküßt. Sie
wurde rot und zog ihn dann näher zu sich heran. „Wo wollen wir
frühstücken?“ Die Frage ging an Becky. „Im nächsten
Diner, so wie immer. Zum Glück hat jeder noch so kleine Ort
einen brauchbaren Diner. Oder wolltest .. Du mich ... in ... ein
besseres Lokal ausführen?“ „Leider nein, wir müssen
bald weiter. Ich vermute, daß sie uns schneller schnappen
werden, wenn wir den Staat nicht so schnell wie möglich
verlassen.“ „Ist doch egal, die Army kriegt Dich auch in Alaska
oder auf Hawaii. Wo willst Du denn eigentlich hin? Ich meine, ich
komme mit, keine Frage, aber Du brauchst doch.... ein Ziel, Richie.“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht nach Texas. Dann können
wir ... nach ... Mexico rüber. Das wär doch gut, oder? In
Mexico, da können wir dann untertauchen und abwarten.“ „Ich
weiß nicht, ich möchte gerne in den Staaten bleiben.“
„Na gut, wir können ja erstmal nach Missouri fahren, nach
Kansas City wollte ich schon immer mal.“ „Ok, ich such nachher
den Atlas raus.“


Sie packten schnell ihre
Sachen zusammen. Dann ging er ins Büro, um zu zahlen. Das ging
zum Glück recht schnell. Er rechnete damit, daß sie bis
Des Moines schon auf Straßenkontrollen
durch die Army treffen würden. Nur nichts überstürzen.
Jetzt einen Diner suchen. So wie sie glücklich und mit der Welt
im Reinen Arm in Arm aus dem Motel liefen, hätte man für
nichts in der Welt etwas ungewöhnliches vermutet. Ein
glückliches Pärchen, vielleicht in den Flitterwochen oder
unterwegs, um Verwandte zu besuchen.
„Mama Minnie Belle's
Diner“ Das Neonlicht flackerte in einem unbeständigen
Rhythmus, vermutlich waren Kabel durchgebrannt und es gab ab und an
einen Kurzschluss. Becky nickte, der Laden schien genehm. Eine helle
Glocke läutete, als sie den Diner
betraten. Ein einzelner Trucker saß am Tresen, in einer Zeitung
lesend. Das lokale Käseblatt, datiert auf den 21. Juli 1958,
den gestrigen Montag. Minnie Belle hatte viele Locken, ihr Gesicht
verströmte ein warmes, mütterliches
Lächeln. „Guten Morgen, Misses.“ Einladend zeigte Richie zu
Becky auf die Hocker am Tresen. „Was darfs denn sein, junger Mann?“
Richie blickte Becky fragend an. Dann bestellte er Kaffee, Donuts,
Toast und Rühreier mit Speck. Letztere waren eine ungesunde
Angewohnheit, die er noch von seiner Mutter hatte. „Junge, du musst
ordentlich frühstücken.“ Den Spruch hatte er noch im Ohr
und würde ihn wohl auch so schnell nicht vergessen. Ein Nicken,
dann verschwand die Kellnerin in der Küche. Der Kaffee war heiß
und gut. Becky zuckte zusammen als sie den ersten Schluck probierte.
Ein Lächeln. „Richie, jetzt bin ich geflasht. Das macht wach!“
Ihr warmes Lachen war so wundervoll. Wenn Becky glücklich ist,
dann war er das auch! Richie blickte auf, Minnie Belle war zurück,
stellte die Donuts und den Toast auf den Tresen. „Die Eier dauern
einen Moment.“ Mit Appetit mampften beide ihr Frühstück,
der Tag mochte noch einiges bringen. Die Eier! In sekundenschnelle
verputzt, ein Anfall von Heißhunger. „Wo solls denn
hingehen?“ Minnie Belle hatte den Wagen mit auswärtigem
Kennzeichen vor der Tür stehen sehen. Richie und Becky sahen
sich an. „Nach Des Moines, unseren Onkel besuchen.“ Unwillkürlich
drückte er Beckys Hand. Jetzt keinen Fehler begehen! „Ach, sie
sind Geschwister? Sieht man gar nicht.“
Ein maliziöses Lächeln. Roch die Lady Lunte? Richie blickte
Becky an, eine Kopfbewegung zur Tür andeutend. Weg hier! Becky
kapierte: „Ja, Misses. Das ist mein Bruder Richie. Und jetzt müssen
wir weiter.“ Sie erhob sich, Richie tat es ihr nach und zahlte.
„Noch einen schönen Tag, Misses.“ Ohne Hast wandten sie sich
zur Tür. Die ging auf, Polizei! Zumindest der County Deputy, auf
dem Weg zu seinem Frühstück. Richie blickte nur auf die
Tür, den Seitenblick versuchte er zu ignorieren. „Guten
Morgen, Minnie Belle. Schöner Tag,was? Mach mal 'nen Kaffee
fertig. Na Hank, wie laufen die Geschäfte?“ Der Deputy
ignorierte sie. Sehr gut. Richie atmete auf. Mit einem Klingeln fiel
die Tür hinter ihnen zu. Becky zog die Stirn kraus:
„Ist doch halb so wild, Richie.“ Richie schwieg. Was sollte er
jetzt sagen? Den Motor angelassen und wieder die Straße unter
die Räder genommen. Bloß weg!


Etwa 10 Minuten später,
sie standen in der Schlange vor der letzten größeren
Ampelkreuzung im Ort. Richie fiel plötzlich ein Polizeiwagen
auf. Der Wagen stand etwas unauffällig
auf dem Parkplatz. Aber vielleicht war das nur Tarnung. „Du Baby,
die Bullen sind da. Ich hoffe, sie sehen uns nicht.“ Leichte
Zweifel waren in seiner Stimme zu hören. Er gab Vollgas und
raste auf den Highway, Richtung Des Moines. Leider war ihr Wagen
durch die hohe Geschwindigkeit aufgefallen. Keine Minute später
klemmten ihnen 3 oder 4 Polizeiwagen auf den Fersen und das bei über
85 Meilen. Die Autojagd ging vorerst gut.
Der Highway war schnurgerade und der Wagen drehte sehr gut. Sie
stellte das Radio an. „Nun für unsere treuen Fans. Jeder macht
mal Fehler und Musiker sind da wohl keine Ausnahme. Echte Liebe kann
zeitlos und grenzenlos sein. Daher jetzt noch eine Scheibe von Jerry
Lee Lewis. Das Stück hält euch in Schwung, die
Billboardcharts sind nicht alles.“ 'High School Confidential'
dröhnte aus dem Radio. Mit heißem Sound ging es weiter den
Highway lang.


Die Bullen waren
höchstens 1 Meile hinter ihnen. Das lief nicht gut. Am
Straßenrand stand ein Schild : Straßenbaustelle
in 3 Meilen. Er hoffte auf eine Abzweigung, eine Straßenbiege,
wo er ungesehen von der Straße konnte. Tatsächlich, die
Straße machte einen Knick und verschwand hinter einem kleinen
Hügel. Er riß das Steuer herum und fuhr den Wagen in den
Seitenweg. Er fuhr weiter ins Gebüsch und hielt erstmal an.
Keuchend lehnte er sich zurück. „Hoffentlich sind sie
geradeaus weitergefahren.“ Becky nickte nur. „Richie... was...“
Sie blickte beinahe schockiert. „Geht schon in Ordnung Baby, ich
... schaue kurz, ob ... die Bullen auch wirklich weitergefahren
sind.“ Jetzt lächelte sie. „Richie, ich warte auf Dich.“
„Klar, Baby, ich bin gleich wieder hier.“ Er schlich die Büsche
lang, nach vorne zur Straße. Von den Bullen keine Spur. Die
waren wohl weitergefahren. Er seufzte erleichtert und ging dann zum
Wagen zurück. Richie blätterte in seinem Straßenatlas.
„Die Bullen werden längst am Highway Straßensperren
haben. Wir fahren am besten quer durch die Pampa und umgehen Des
Moines.“ „Aber wir fahren nach Kansas City, oder?“ „Klar,
Baby, für Dich, tu ich doch eigentlich alles.“ Sie kicherte.
„Los gehts, worauf warten wir noch?“ Sie grinste wieder, dann
lachte sie kurz auf. Er schüttelte den Kopf. Und auf gings.
Manchmal sagte auch die Andeutung schon mehr aus, als eine explizite
Aufforderung.


(3)


Einige Stunden später.
Davenport, da ging es über den Fluß. Richie konnte es kaum
erwarten. Der Mississippi bildete eine Art
physische Grenze zu seinem Vater. Er spürte es. Endlich kam die
Mississippibrücke in Sicht. „Welcome
to Missouri“. Ein großes Schild. „So, aus Iowa sind wir
erstmal raus. Aber jetzt müssen wir sobald wie möglich eine
Tankstelle suchen.“ „Das ist eine gute Idee, ich könnte
einen Kaffee vertragen.“ Sie lehnte sich zurück, schloß
die Augen und lächelte. Ein amüsiertes Grinsen zog sich
über Richies Gesicht. Sie näherten sich einem kleinen
Städtchen. Masonville, Missouri. Ein großes Plakat hing an
einer Scheune am Ortseingang. „The Greatest Live Show on Earth –
Summer of 1958 Rock'n'Roll Midwest Tour. Buddy Holly, Eddie Cochran,
Jackie Wilson, Sonny Burgess and others - LIVE !!!! Mittwoch 23.
Juli, Kansas City, Town Hall.“ Sie lächelte ihn an. „Wollen
wir auf das Konzert gehen?“ „Ich weiß nicht. Ich bin
ziemlich pleite. Ich muß früher oder später an mein
Sparbuch. Und dann weiß mein Dad, wo
ich war. Und der hetzt mir garantiert die Bullen und die MP auf den
Hals. Du weißt, er wollte unbedingt, daß ich zur Army
gehe. Tut mir leid Baby. Aber wir können ja irgendwo auf eine
Party gehen.“ War sie jetzt enttäuscht? Nein, verständnisvoll,
Becky war definitiv das Gegenteil zu den kleinen blonden Dummchen,
die nur am Kichern waren und die Welt nicht verstanden. Blond war sie
zwar, aber das musste ja kein Makel sein. Manchmal schien sie ihm um
viele Jahre älter, als es ihr Äußeres vermuten lassen
würde.


Eine kleine Tankstelle.
Richie fuhr automatisch heraus, weit würden sie sonst nicht mehr
kommen. Der Tank war staubtrocken. Geputztes und aufgeräumtes
Gelände, die Zapfsäulen blinkend, die Werkstatt in Schuss,
der Laden, eher ein Drugstore, einladend und mit Neonreklame. Der
Tankwart war schwarz, aber das hätte ihn nie gestört.
„Volltanken.“ Der Tankwart nickte und begann. Mit einem
ratternden Geräusch sprang die Benzinpumpe an. „Baby, wollen
wir ... einen Kaffee trinken?“ „Gerne, Richie.“ Sie gingen in
den Drugstore hinein. Doch eher eine Bar, mit Verkauf von allem
möglichen Kram. Sie ging zur Musikbox und nahm einen kurzen
Blick, was für Titel vorhanden waren. Ihre Augen begannen zu
leuchten. „Unser Lied, Richie.“ „Shake, Rattle & Roll“.
Aber es war nicht die Version von Bill Haley, die sie kannten. Big
Joe Turner spielte das Original. Richie grinste sich eins. Niemand,
den er kannte, spielte die schwarzen Originale, alle nur die Cover.
Sie tranken ihren Kaffee und lauschten der Musik. Dann ging die Tür
auf. Ein Pärchen kam herein. Sie hatte Zöpfe, ziemlich
neckisch, er eine Tolle, eine Lederjacke mit kleinen Nieten und
Nietenjeans. „Mist Baby, es tut mir so leid, aber solange die Karre
kaputt ist, können wir morgen nur schwer nach Kansas City.“ So
unterhielten sich die beiden. Leidensgenossen? Richie schaute Becky
an, dann tippte er dem anderen auf die Schulter. „Hey, ihr wollt
nach Kansas City?" „Ja.“ Der Typ mit der Tolle drehte sich
um und schien interessiert. „Wir könnten euch mitnehmen.“
Der Gedanke noch mehr Gesellschaft zu haben, schien Richie plötzlich
interessant. „Mann, das wär geil. Wollt ihr auch auf das
Konzert?“ „Wir würden gerne, aber ... wir ... können es
uns leider nicht leisten.“ Richie war das eindeutig peinlich.
„Schade.“ „Du Frank.“ Die andere mit den Zöpfen mischte
sich ein. „Wir können sie ja heute abend auf die Party
mitnehmen, zu Marcy. Sie sagte, wir sollten ein paar Freunde
mitbringen.“ „Ja. Also, hättet ihr Lust?“ „Was meinst
Du, Becky. Sollen wir?“ Becky war sofort Feuer und Flamme. „Gerne.“
„Wir treffen uns heut Abend um sieben vor
dem Supermarkt. Bis denne.“ Die beiden verließen den
Drugstore. „Baby, das wird stark. Wir können zwar nicht aufs
Konzert, aber dafür auf 'ne Party.“ Er zahlte und sie
verließen den Raum. „Hey, das macht
3 Dollar und 23 Cents.“ Er bezahlte auch den Tankwart. Der nickte
freundlich.


Den Motor angelassen und
los. Weit kamen sie nicht, ein roter Pickuptruck,
dem der linke Kotflügel fehlte und auch ansonsten vor Dellen nur
so klapperte, hielt an und blockierte Richie die Ausfahrt auf den
Highway. Ein Karottenkopf lugte aus dem
rechten Seitenfenster. Auf der Pritsche hinten saßen noch zwei
andere. Jugendliche, nicht gerade die hellsten Köpfe, wie sich
zeigen sollte. „Hey, Niggerfreund. Keiner tankt hier beim alten
Joe. Keiner, der normal denkt.“ Ein dreckiges Lachen. „Also, du
kleiner Scheißer, du fährst jetzt schön zurück,
gibst ihm seinen verrotzten Sprit wieder
und fährst zu meinem Alten, dem die Texaco
dahinten gehört. Da bekommst Du richtigen Sprit.“ Richie
blickte Becky an. Was wollten diese Typen? „Ich hol mir den Sprit
da, wo ichs für richtig halte.“ Langsam dämmerte Richie,
worauf er sich eingelassen hatte. Dies war die Tankstelle für
die Schwarzen, jedenfalls in der abstrusen und rassistischen Welt
dieser unterbelichteten Bauernjungs. Womöglich dachten deren
Väter ähnlich, aber Richie konnte sich damit nicht
identifizieren. Nein, keineswegs.
Ein Polizeiwagen kam
entgegen, hielt an. Der Sheriff selbst, wer hätte das gedacht?
„Hey, Ben, suchst Du mal wieder Ärger? Laß die Fremden
zufrieden, die haben Dir nichts getan.“ „Aber Sheriff...“
„Keine Widerworte, mein Freundchen. Ihr fahrt jetzt gemütlich
weiter, spielt Football oder sonstwas, aber ihr laßt die Leute
in Ruhe.“ Die Worte scharf, natürliche Autorität
versprühend. Richie musste grinsen, konnte es sich nicht
verkneifen. Hasserfüllt geiferte der Karottenkopf nochmals los:
„Wir sehen uns noch, Nigger.“ Zu seinem Fahrer gerichtet: „Los,
Sharky, wir hauen ab.“ Mit quietschenden Reifen fuhr der Pickup
davon. Auflachen, fast fröhlich, Richie grinste. Was sollte das
denn? Der Sheriff...das konnte gefährlich werden. Aber der
nickte nur. „Junge, keine Sorge, Ben und seine Bande sind bekannt
für Ärger. Haltet euch von denen fern und ihr habt keine
Sorgen. Einen schönen Tag noch.“ Und fuhr los, in die
Gegenrichtung, wohl die Highways im County kontrollieren. „Los,
Baby, irgendwie müssen wir noch ein paar Stunden totschlagen.“
Und ab in die Stadt!

(4)


Es war kurz vor sieben,
in Masonville. Vor dem einzigen Supermarkt, überall war noch
Betrieb. Die Sonne stand schon knapp über dem Horizont. Kurz
darauf sahen sie Frank und Tracy, die beiden neuen Freunde. „Also,
auf gehts.“ Ein paar Mal um die Ecke, dann standen sie vor einem
einfachen Haus. Vor der Garage stand ein neuer Dodge. Das Haus war
sauber weiß gestrichen. Frank klingelte. Die Tür ging auf.
Das musste die Gastgeberin Marcy sein. Kurze braune Locken, mit einem
Haarreif nach hinten gehalten, eine
Stupsnase, Grübchen am Kinn und Sommersprossen. 15 Jahre,
vielleicht 16, jedenfalls eindeutig noch ein Mädchen von der
Highschool. „Hi, Frank, Tracy kommt rein. Ah, ihr habt Freunde
dabei. Kommt rein.“ Ein Blick auf Becky und ihre Jeans und Marcy
war Feuer und Flamme. „Wow, das sind ja kolossal heiße
Dungarees. Meine Mom würde mich ja
umbringen, wenn ich sowas anziehen würde.“ Raatsch, raatsch.
Diese Marcy schien eine Schwatztante zu sein. Vielleicht auch nur
einsam und deswegen so mitteilungsbedürftig.
Aber das tat jetzt nichts zur Sache. Die Party hatte noch nicht ganz
angefangen. Jedenfalls waren noch nicht viele da. Ein paar andere
saßen schon rum, standen, knutschten und unterhielten sich.
Frank und Tracy schienen bekannt zu sein. Hallo hier und Bussi da.
Becky und Richie waren mehr oder weniger allein, die anderen Pärchen
kannten sich anscheinend alle. Aber sie hatten sich, da war das egal.
Alleine diese Feststellung ließ Richie vor Freude aufschaudern.
Wie konnte nur eine einzige Frau wie Becky Anlaß dazugeben? Die
Wege der Welt waren und blieben ihm unverständlich.


„Ich hol uns erstmal
was zu trinken, bin gleich wieder da, Baby.“ Richie spähte
nach der Bar und machte sich ans Werk. Für einen Moment
liebäugelte er mit den Alkoholika im Barschrank, entschied sich
aber dagegen. Ehrlichkeit währt am längsten, er hatte
keinen Grund, Becky abzufüllen. Jedenfalls sagte ihm genau das
seine innere Stimme. Also ganz harmlos 2 Flaschen Cola aus dem Kasten
gezogen und wieder aufgeschaut. Marcy und Becky unterhielten sich.
Becky war schon eine Liebe, sie kümmerte sich gerne um andere,
insbesondere, wenn jemand Hilfe und Rat brauchte, oder einfach nur
reden wollte. Haargummis, Kleider,
blahblah. Richie verdrehte die Augen, das musste nicht sein. „Becky,
hier bitte!“ Die Flasche war eiskalt und Wasserperlen liefen am
Rand herunter. Becky lächelte. „Danke, Richie, du bist ein
Schatz!“ Nur für einen Moment lauschte er noch. Nein, Geduld
und Verständnis war eine Sache, aber das musste nicht sein.
„Baby, ich schau mal rum, bin gleich wieder da.“ Und weg war er.
Marcy schaute ihm hinterher, dann wandte sie sich wieder Becky zu.
„Erzähl mal, wo hast Du denn den aufgegabelt?
Scheint ja ein ganz Lieber zu sein.“ „Ja zu mir ist er lieb. Aber
er kann auch anders, er hat manchmal so Züge an sich, da frage
ich mich immer, ob das mein Richie ist. Er ist
irgendwie...einzigartig.“ „Was besonderes, ja?“ „Ja, Richie
ist etwas besonderes. Wenn er mich anlächelt, dann schmelze ich
wie Butter in der Sonne dahin. Ich kann ihm nichts abschlagen und
doch ist er niemals fordernd. Ich meine, er ist der Einzige, bei dem
ich keine Angst habe, daß er mich direkt im Kino auf dem
Rücksitz vernascht. Er nicht, nein.“ Marcy bekam große
Augen. „Warum das? Ich meine, willst Du nicht oder...?“ „Doch
schon, aber nicht von irgendeinem dahergelaufenem Typen, der sich für
unwiderstehlich hält. Und Richie ist ja genau anders, wie ein
Teddybär, den man mit unter die Bettdecke nimmt. Wo Richie ist,
da werde ich auch sein.“ „Die große Liebe?“ „Vielleicht
... ich weiß das selber nicht mal zu sagen. Wenn ich Pech habe,
dann stürzt er mich noch mit seinem anderen Ich ins Unglück.“
Nach einem kurzen Nachdenken fügte sie hinzu: „Richie kann
manchmal ganz schön impulsiv und emotionell sein. Er tut immer
ruhig, gefasst und strotzt vor Kontrolle über die Situation,
aber ganz innen drin, da ist er anders. Das
ist einfach so, ich mag ihn trotzdem. Das macht ihn mir
menschlicher.“ „Wie hast Du ihn kennengelernt?“ Tracy trat
hinzu, nachdem sie offensichtlich schon etwas zugehört hatte.
Becky wandte den Kopf. „Auf einer Tanzveranstaltung. Ich stand
alleine rum, meine Freundinnen waren alle am tanzen, aber ich hatte
keinen Tanzpartner. Und dann kamen die Soldaten rein, ich meine, man
sah sofort, daß das keine normalen Jungs von der Highschool
waren. Richie war unter ihnen, dann hats irgendwie gefunkt. Ich
meine, er kam zu mir rüber und wir haben uns ein wenig
unterhalten. Über dies und das, über seine Eltern, seine
Pläne und seine Hoffnungen. Dann über mich, ich meine er
wollte alles wissen, noch nie hat sich ein Junge so für mich
interessiert. Alles, einfach alles. Und je länger wir sprachen,
desto mehr spürte ich, wir passen zusammen. Dann hat er einfach
gefragt, ob ich mit ihm tanzen würde. Warum nicht, und dann wars
irgendwie passiert. Ich war hin und weg!“ Becky lächelte
verträumt. Tracy nickte. „Und dann? Ich meine, jetzt seid ihr
hier und das ist nicht Indiana.“ Ein wissendes Grinsen, oder war
das einfach nur Neugier? „Frag Richie, ich meine, er fragte mich
etwas später, etwa: „Baby, magst Du mit mir kommen?“ Da habe
ich nicht gezögert, Kram gepackt und weg waren wir.“ Marcy
staunte mit großen Kulleraugen. „Du bist .. durchgebrannt?“
„Wenn Du das so nennen möchtest. Ich will mit Richie zusammen
sein und wenn er geht, dann gehe ich mit.“ „Ja aber, was ist mit
Deinen Eltern, Deinen Freunden?“ „Ich habe Richie, da ....“
Nachdenklich fand Becky keine Worte mehr, aber sie setzte hinzu:
„Manchmal will man einfach die Welt sehen, aus dem Gefängnis
des Alltagstrotts ausbrechen. Vielleicht wollte ich einfach nur weg,
weg von daheim, mein eigenes Leben leben.“ Tracy, ohne mit der
Wimper zu zucken: „Dann hat Dich Richie also nicht verführt?“
„Auf gewisse Weise schon. Du steigst nicht zu irgendeinem fremden
Jungen ins Auto, wenn Du dich nicht von ihm angezogen und verstanden
fühlst.“ Tracy und Marcy schauten sich an. Becky schwieg, im
Moment hatte sie nichts hinzuzufügen.


„Da bin ich wieder.“
Richie platzte mitten in die feminine Denkerrunde
hinein, dachte sich nichts dabei. Gemustert wurde er, von Marcy und
Tracy. Worüber mochten die bloß gequatscht
haben? Er schlang den Arm um Becky. Er küsste sie liebevoll.
Becky lächelte darauf zufrieden und vertrauensvoll. „Marcy,
wie wärs mal mit Musik? Ich möchte tanzen.“ Auffordernd
reichte er Becky die Hand. Die nickte begeistert. Marcy stellte den
Plattenspieler an, langsam würde die Party damit auch in Schwung
kommen. Buddy Holly spielte „Peggy Sue“, und das auf voller
Lautstärke. Wenige Sekunden später hatten sich alle
aufgerafft und dann ging das Tanzen los. Eine hübsche Party,
gute Bowle, heiße Tussis, so würde sich Benny jetzt
äußern. Benny war ein Frauenheld, wie er im Buch steht.
Richie nicht ganz, aber dafür sollte seine Beziehung auch
halten, das hoffte er ja auch.
„Hey, bist du nicht
Mason Junior, der Footballspieler auf Rex
High?“ „Nein, ich bin nicht Mason, ich bin Richard, Richard
Dorkins. Meine Freunde nennen mich Richie.“ „Hey, ein Little
Richard, Leute, schaut doch her, ein weiterer Little Richard.“ Der
Typ klatschte sich auf die Schenkel, nahm einen großen Schluck
aus der Flasche. Dabei lachte er. Ein fetter Junge, die Jeans
platzten schon fast. Der schien ziemlich dicht zu sein. Die Party
lief doch erst eine Stunde und dann schon besoffen, bis unters Dach?
Naja, war auch egal. Er konzentrierte sich wieder auf Becky. Mit
Becky zu tanzen, das war das Beste, was es gab. Niemand sonst hatte
diesen wiegenden Schritt, keine sonst bewegte ihre Hüften so
gezielt und doch unschuldig, keine konnte so anmutig über die
Fläche wirbeln. Marcy legte eine ihrer neuen Platten auf, Conway
Twitty spielte 'It's Only Make Believe'. Ein eher schmalziger Song
zum Kuscheln. Richie zog Becky fest an sich.
Auch die anderen Pärchen tanzten engumschlungen.
An der lauten Musik und
dem allgemeinen Krach, der mit der Party herging, störte sich
anscheinend keiner, auf der Party überhaupt nicht und die
Nachbarn, naja, die ließen sich jedenfalls nichts anmerken.


„Du, Richie, ich habe
keine Lust mehr, zum Tanzen meine ich.“ Eine kurze Pause war
eingelegt, als Marcy die Platte wechselte. Richie grinste. „Sicher
Baby, was wollen wir denn machen?“ Sie interpretierte dies sofort,
wie er sich die Sache dachte. „Nee, Richie, doch nicht hier!“ Ein
leichter Vorwurf war in ihrer Stimme, aber keinesfalls unfreundlich,
eher schüchtern. Sie lächelte, fing an zu kichern. „Komm,
laß uns ein ruhiges Plätzchen suchen.“ Sie durchsuchten
das Haus danach. Endlich eine Tür, die zu einem Schlafzimmer
führte. Er stieß die Tür auf und wollte Becky gerade
mitziehen, als er die Action sah, die auf dem Doppelbett von Marcys
Eltern ablief. Frank war mit einer anderen zu Gange.
Unmißverständlich war das zu sehen. Leise schloß er
die Tür und sprach zu Becky: „Das gibt Ärger, das spür
ich jetzt schon.“ Sie sagte nichts. Gedankenverloren gingen sie
zurück ins Wohnzimmer. Der Musikstil
war leicht gewechselt worden. Johnny Cash spielte jetzt die „The
Ballad of a Teenage Queen“. Richie konnte sich ein Grinsen nicht
verkneifen. Mit diesem süßen Titel hatte er Becky
überzeugt. Ihm wurde warm ums Herz. Da fiel ihm ein, das er
vorhin im Flur eine Gitarre gesehen hatte. Er holte sie und bat Marcy
die Musik abzustellen. „Nun, ich spiel euch mal was vor.“ Er nahm
die Gitarre und nickte Becky zu. Sie setzte sich ans Klavier. Alle
grinsten, waren aber ruhig und warteten ab, was nun kam.


„Hallo, also ... wir
können .. ein bißchen spielen.“ „Was?“ Das war so
ziemlich die dümmste Frage, die es gab. Der Besoffene von
vorhin, kein Wunder. „Na, heißen Rock'n'Roll. Wir wär es
mit Chuck Berry?“ „Sicher. Welchen Titel könnt ihr denn?“
„Johnny B. Goode!“ Sie begann mit dem heißen Rhythmus.
Er stieg mit seiner Gitarre ein und stimmte den Titel an. Das ganze
war fast besser, als die Dosenmusik von der
Platte. Voller Applaus schlug ihnen entgegen. „Wow, wollt ihr nicht
eine Aufnahme machen lassen?" Richie grinste in die Runde.
„Nein, wir spielen mehr for fun. Ich habe keine Lust ins Geschäft
einzusteigen. Das überlassen wir den Profis.“ Marcy rief, „Ich
glaube, ich habe 'Johnny B. Goode' irgendwo von Chuck Berry auf
Platte.“ Sie wechselte die Platte. Gleich darauf ertönte das
Original von Chuck Berry. Natürlich etwas gehaltvoller als ihre
eigene Interpretation. Das allgemeine Tanzen ging weiter. Er hängte
die Gitarre wieder an ihren alten Platz im Flur. Er grinste Becky an.
„Ich denke, das war gut. Die waren regelrecht aus dem Häuschen.“
„Ja, das ist war. Aber ich denke, du weißt schon was, geht
noch besser.“ Becky lächelte mit einem Augenzwinkern.
„Sicher, die Ballad spiele ich ohne Problem. Die habe ich ja auch
extra für Dich einstudiert. Ich brauchte ja was, womit ich Dich
... na, Du weißt schon .. überzeugen konnte.“ Sie
lächelte. Als ob diese Überzeugung gar
nicht mal nötig gewesen wäre. „Vielleicht ist ja
jetzt das Schlafzimmer frei.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Auf
gehts.“ Irgendwas sagte ihm, daß es jetzt dazukommen würde.
Und wenn nicht, naja, das war auch nicht so schlimm. Becky war
schließlich auch sehr hübsch anzusehen.


(5)


Tatsächlich, jetzt
war das Schlafzimmer leer. Er schloß die Tür zu. Becky
setzte sich auf das Bett, aber blickte ihn an. „Ich hoffe, daß
.. keiner .. Du weißt schon.“ Nicht verstört, aber
offensichtlich nicht scharf darauf, beobachtet zu werde. Diese lieben
treuen und so vertrauensvollen Augen! Er lächelte Becky zu. „Ich
paß schon auf. Keiner wird uns überraschen. Nur wir zwei!“
Richie drehte das Radio an, das auf dem Nachttisch stand. Auf dem
Sender, den er gerade erwischt hatte, spielten die Platter gerade
'The Great Pretender'. Dieser Song war gut. Kuschelfest und zum
Träumen. Er sprang zu Becky ins Bett. Sie lächelte, als er
sich an sie kuschelte. „Du, Richie, ich will Dich ja nicht
enttäuschen, aber .. aufs Ganze gehen will ich noch nicht.
Verstehst Du mich?" Er hielt inne. Eine leichte Enttäuschung
kam in ihm hoch. Er versuchte, sie zu unterdrücken. „Ok, für
Dich halte ich mich doch zurück.“ Becky lächelte warm.
„Komm her, Daddy-O!“ Er küsste sie
lange und intensiv. Währenddessen knöpfte sie ihm das Hemd
auf. Das ging alles irgendwie automatisch und von allein. Schon oft
erprobt und erfolgreich. Wenn er sich es so überlegte, dann war
das Beste, was ihm bisher passiert war. Eine Party, geile Musik,
Becky scharf auf ihn. Was konnte es denn schon besseres geben, als
das hier? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Becky
herausfand, was ihn am meisten anmachte. Oh, war das gut. Er vergaß
vor Genuß ihre Zärtlichkeiten zu erwidern. Er ließ
komplett von ihr ab, während ihre zärtlichen Hände
über seinen Körper strichen. Es war, als würde sie auf
ihm Klavier spielen. Mit soviel Gefühl hatte sie ihn noch nie
bearbeitet. Nur, der Sound aus ihrem Klavier war laut, impulsiv und
flott. Sein 'Sound' war nicht sehr laut. Aber ihr Blick sagte ihm,
daß sie verstand, das es ihm gefiel. Für einen Moment
verlor er sich in seine Gedanken. Doch die Realität holte ihn
schneller wieder ein, als man vermuten mochte. Er lächelte sie
an, dann tauschten sie. Jetzt war sie es, die verwöhnt wurde. Er
liebte es, über ihren Körper zu streichen. So weich, so ...
unbeschreiblich schön. Er begann sie zärtlich zu lecken,
vom Hals her langsam abwärts. Das hatte er noch nie probiert.
Aber anscheinend gefiel es ihr sehr gut. Sie seufzte und blickte an
die Decke, während er zärtlich zu ihr war. Es war ziemlich
warm im Raum. Aber bei der leichten Bekleidung, die sie an hatten
(wenn man Unterwäsche leichte Bekleidung nennen kann), störte
das nicht. Mit zärtlichen Griffen löste er die Träger
ihres BHs. Sie hatte so wunderschöne Brüste, daß er
jedesmal von deren wunderschönen Form fasziniert war. Und wieder
begann er sie zu küssen.


Plötzlich klopfte
jemand an die geschlossene Tür. „Beeilt euch da drinnen, Ihr
seid nicht die einzigen...“ War das nicht die Stimme von dem einem
Typen von vorhin, der Betrunkene? Oder war es einer seiner Freunde?
Ein hämisches Lachen ertönte. Dann entfernten sich die
Jungs wieder. Becky blickte leicht verstört auf. „Richie,
ich...“ „Ach, lass sie doch. Wir lassen uns durch nichts stören.“
Worauf er seinen Worten Taten folgen ließ. Im Radio spielte
gerade Elvis 'Love Me Tender'. Ein ziemlich schmalziges Stück,
aber im Moment störte ihn das nicht. Also vertiefte er sich
wieder in ihr Liebesspiel. Das war ja so schön, so ...
unbeschreiblich schön.


„Du, Richie, die
anderen müssen uns ja schon für .... naja, du weißt
schon halten .. ich denke, wir sollten aufhören.“ „Ok, Baby,
wenn du willst, tu ich fast alles.“ Nach einer ganz kurzen, fast
unmerklichen Pause fügte er hinzu: „Es war mal wieder sehr
schön. Ich liebe Dich so sehr, ich will Dich niemals verlieren.
Und das meine ich genau so und nicht anders. Wenn die Sonne vom
Himmel fällt und die Hölle kommt, nur Du und nur Du bist
für mich da!“ Er küsste sie ein
weiteres Mal. Dann zogen sie sich wieder an. Becky schwieg, aber ihre
Augen strahlten wie die aufgehende Sonne an einem Sommermorgen. Mit
einem Klicken sperrte Richie die Türe wieder auf. Vor der Tür
stand schon ein anderes Pärchen, die anscheinend auf das
Liebesnest warteten. Während das Pärchen im Raum
verschwand, bemerkten beide, daß die Party etwas ruhiger
geworden war. Richie nahm Becky am Arm. Marcy wechselte gerade
wieder die Platte. Dem Cover nach war es eine Platte von Pat Boone.
Nun ja, Pat Boone war nicht schlecht, aber für Richies Geschmack
zu wenig rock. Etwas schmalzig, seine härteren Titel, Kopien von
Little Richard und Fats Domino, waren zu soft, zu entschärft.
Wie als hätte jemand die Originale in Weichspüler
eingeweicht und sie dann auf den Plattenteller gelegt. Einige
tanzten, aber weder Becky noch Richie verspürten in diesem
Moment Bewegungsdrang. „Baby, komm, laß uns was essen. Ich
habe Hunger wie ein Wolf.“ Bislang hatten sie nur Bowle getrunken.
Auf einem langen Tisch hatte Marcy ein Büffet aufgebaut.
Eigentlich gab es alles, was man auf einer Party erwartete. Jede
Menge Flaschen mit alkoholischen Getränke, ein großer Korb
mit Brötchen, ein großes Blech mit Pizza, ein riesiger
Topf mit Pudding, eine große Kiste mit Keksen aller Art,
Donuts, Kuchen und diverse Salate. Im Moment war niemand am Büffet.
Also bedienten sie sich ordentlich. Auch Becky schien Hunger zu
haben. Das hastige Frühstück war ja etwas länger her.
Dann setzten sie sich in die Ecke und aßen. Die anderen tanzten
derweil weiter, oder soffen Bowle und andere alkoholisch Drinks. Den
anzüglichen Blicken und dem frivolen Grinsen einer Motorradgang
konnten sie sich nicht wirklich entziehen. Hatten die Typen an der
Tür geklopft? Neid, purer Neid! Anders konnte es nicht sein,
anders war das nicht zu erklären.



Marcy machte immer noch
den DJ. Sie wechselte erneut die Platte. Bill Haley spielte 'Shake,
Rattle & Roll'. Der Tanz ging weiter. Sie stellten die Teller
weg, gesellten sich dazu und legten zu ihrem Lied einen heißen
Tanz hin. Wie war das noch gleich gewesen, auf einer anderen Party,
irgendwo in Indiana. Becky war allein gewesen, Richie hatte sie zum
Tanzen zu eben diesem Song aufgefordert. Sie hatten getanzt. Dabei
hatte er sich so in sie verschossen, daß er die folgende Abende
in der Kaserne davon träumte, die Army sein zu lassen und mit
Becky durchzubrennen. Er hatte sich seine Gitarre genommen, war
nachts vom Gelände geflohen und hatte Becky sein Ständchen
gebracht, die 'Ballad of a Teenage Queen'. Er hatte sie gleich
überzeugt. Am nächsten Tag waren sie los. Er hatte einen
Gebrauchtwagen gekauft, Becky geholt und dann waren sie losgefahren,
bis nach Iowa, gestern Abend.


Der Song war gerade zu
ende. Es folgte 'Whole Lotta Shakin' Goin' on', diesmal von
Bill Haley. Diese Version war nicht ganz so gut, wie die von Jerry
Lee Lewis, aber gut tanzbar. „Bah – hat den Song nicht der
Kinderschänder gespielt?“ Eine bebrillte Karikatur von Buddy
Holly in einem Ivy League Anzug machte sich offensichtlich lustig.
„Ich glaube, dann bist Du hier etwas falsch.“ Richie staunte
Bauklötze. Seit wann wurde Becky so direkt und offen? Die
Brillenschlange, so nannte Richie den Typen in Gedanken, schaute
etwas perplex. „Ich weiß ja nicht, auf welchem Mond Du
wohnst, aber geh mal im Flur rumhorchen. Ich glaube nicht, daß
hier nur unschuldige Dummchen rumlaufen.“ Das saß, der Typ
zuckte zusammen. Becky grinste. Dann setzte sie noch einen drauf:
„Lieber einen gutaussehenden Cousin, als ein Muttersöhnchen
ohne Rückgrat.“ Besiegt zog die Brillenschlange den Kopf ein
und ging aus dem Kreis von Beckys spitzer Zunge. Befriedigt grinste
sie Richie an. „Ist doch wahr, Daddy-O!“ Richie konnte nicht
antworten. Manchmal sind es völlig unerwartete Ereignisse, die
zeigen, warum man sich versteht. Oder auch nicht? Muß Verhalten
jenseits der Norm verteidigt werden? Aber ein pauschaler Angriff kann
auch nicht das wirklich Wahre sein. Normen und Werte wandeln sich,
und manchmal werfen scheinbar schockierende Ereignisse Licht auf
Dinge, die früher oder später als vertretbar gelten.


Sie wandten sich nach
dieser Episode wieder ihrem Essen zu. Die Pizza war sehr gut,
jedenfalls sagte Becky das. Sie musste es ja wissen, hatte sie doch
mal bei „Luigi's Pizza Parlor“ gearbeitet. Richie wollte keine
Pizza essen, er
bevorzugte Salat mit
Fleisch in irgendeiner Form. Aber Fleisch hatte es nur in Form von
großen Hamburgern gegeben. Die waren schon alle aufgegessen
gewesen, also aß er Salat mit Brötchen. Es schmeckte sehr
gut. Er rülpste zufrieden hinter vorgehaltener Hand. Becky
blickte ihn strafend an, worauf er mit einem verschämten Grinsen
reagierte. Dann küsste er sie
zärtlich. Inzwischen war es schon nachts gegen 2. Aber die Party
lief noch. Zwar ohne Essen, aber es wurden getanzt, geknutscht und
einfach geredet. Es waren nur noch 10 Mann, bzw. 4 oder 5 Pärchen
anwesend. Wahrscheinlich befand sich noch ein oder zwei Pärchen
irgendwo im Haus in einem der Schlafzimmer. Wenn man sich
überlegt,was in diesem und anderen Zimmern an diesem Abend
gelaufen war, dann gewann der Begriff Bordell gleich ein neues
Gesicht. Ob Marcys Eltern das wohl gutgeheißen hätten, man
weiß es nicht mit Sicherheit.

Dann schellte die Türklingel. Marcy stand auf. Wer mochte da
noch so spät zur Party kommen wollen? Vor Schreck verschluckte
Richie sich an seiner Cola. Das waren die unterbelichteten Typen von
der Tankstelle. Ben, der Anführer, grölte
los, scheinbar schon angetrunken: „Na Puppe, was sagst Du nun?“
Marcy antwortete nicht, erfreut schien auch sie nicht.
Nichteingeladene Gäste und dazu noch welche, auf die sie
wirklich gerne verzichtet hätte. „Ben, hau ab.“ „Hey,
Kleine, so schnell wirst Du mich nicht los. Komm her.“ Er grabschte
nach Marcy und versuchte sie zu küssen. Angewidert fuhr sie
zurück. „Ben, du Widerling. Verschwinde, oder...“ Oder was?
Du holst den Sheriff? Genau! Was für ein Brüller! Nachts um
2 zu einer Party, wo fast alle anwesenden Kinder längst im Bett
sein müssten.“ Ein dummes Lachen folgte. Marcy versuchte die
Tür zu schließen, aber Ben schob den Fuß mit seinem
Motorradstiefel dazwischen. „Na komm, sei
kein Frosch, wir wollen uns nur amüsieren.“ Und damit drängte
die Bande ins Haus. „Wen haben wir denn da? Ist das nicht der
Niggerfreund?“ Richie zog Becky hinter sich her, bloß weg.
„Hey, Nigger, laß deine Süße hier. Die will ich
noch vernaschen.“ In der Küche trafen sie auf Frank und Tracy.
„Wir holen euch morgen ab, aber jetzt ... gehen wir lieber. Das
wird ungemütlich und ich möchte nicht Anlaß sein, daß
Tracy noch mehr Ärger als nötig bekommt.“ „Geht klar,
wir werden mit Ben schon fertig.“ Franks Augen funkelten wild und
entschlossen. „Mit den Dorson Brüdern vom Football-Team wird
selbst Ben mit seiner Bande kuschen. Die brechen Knochen, wenns sein
muß.“ Becky öffnete die Hintertür. „Na komm,
Richie, ich habe Angst.“ „Schon klar, Frank dann bis morgen!“
Und raus. Rasch durch den Garten und nach vorne raus. Da stand der
lädierte Pickup. Zum Glück hatte
Richie seinen Wagen nicht direkt vor dem
Haus geparkt. Womöglich hätte Ben oder einer seiner
unterbelichteten Freunde noch etwas unschönes
damit angestellt. Jedenfalls schätzte Richie ihn so ein, und das
war mit Sicherheit keine falsche Vorsicht.

(6)


Da so spät in der
Nacht kein Motel mehr offen hatte, beschlossen sie im Auto zu
Übernachten. Richie fuhr den Wagen in eine ruhige Seitenstraße.
Hier war die Chance von der Polizei wegen Landstreicherei
aufgegriffen zu werden eher gering. Hoffentlich würde auch Ben
nicht auf die Suche gehen, den 'Nigger' aufspüren und womöglich
Becky etwas antun. Richie schloß die Augen und schluckte. Bloß
nicht soweit denken! Er schob das Verdeck über den Wagen. Die
Halterung schnappte zu. Jetzt durfte sogar Regen kommen. Das würde
nichts ausmachen. Becky kletterte in den Wagen und drehte die
Sitzlehnen zurück, so daß sie mehr oder weniger bequem
schlafen konnten. „Na komm schon Daddy-O, ich bin müde.“ Er
folgte und wenig später schliefen sie ein. Becky jedenfalls,
Richie blieb noch in seine Gedanken versunken. Was für eine
Party! Schade, daß Benny nicht dabeigewesen war. Der hätte
vermutlich die verpasste Schlägerei sehen wollen und kräftig
mitgemischt. Benny konnte ganz arg austeilen, wenn er wollte. Und
natürlich hätte er alle anwesenden Mädchen
angebaggert, eine gefunden und die Nacht durchgebumst. Nee, mit Becky
ging das einfach nicht. Zum einen wollte sie offensichtlich noch
nicht zur „Third Base“ voranschreiten, zum anderen war er nicht
der Aufreißertyp. Er war recht froh,
eine scheinbar feste Beziehung gefunden zu haben. Naja, die lief erst
4 oder 5 Tage. Aber dafür mußte sie auch halten,
vielleicht auch als Ersatz. Manchmal hatte er das Gefühl,
zentrale Person in einem niemals auf ein Ende zugehenden Traum zu
sein.


Ein Knirschen von
Stiefeln im Kies ließ Richie aus dem Schlaf auffahren. Wie
lange hatte er geschlafen? Keine 3 Stunden! Da draußen war
eindeutig jemand. Polizei? Becky schlief
selig, er sah das verträumte Lächeln in ihren Augen.
Plötzlich wurde es hell. Eine Taschenlampe leuchtete in den
Wagen. Die Lichtreflexion an dem Typen kam
eindeutig von einem Revolver. Jetzt sah er auch den silbernen Stern
an der Brust. „Hallo Junge, ganz schön spät, was?“ Der
Deputy grinste. Sein Blick ging um den Wagen, die Taschenlampe
verharrte auf dem Nummernschild. Dann leuchtete er Richie wieder ins
Gesicht. „Indiana? Ganz schön weit weg von zuhause! Zeig mal
Deine Papiere.“ Richie fingerte nach seiner Brieftasche, nur keine
Hektik sagte er zu sich selbst. So ein Bulle vom Land hatte in der
Regel einen lockeren Zeigefinger, wenn es um Tatverdächtige
ging. Becky schlief seelenruhig weiter, als der Deputy die Papiere
aufblätterte. „Richard Dorkins, das sind Sie?“ „Ja, Sir!“
Der Deputy grinste. „Und was ist mit der jungen Dame?“ „Das ist
... meine Schwester Charlene. Wir wollen unseren Onkel besuchen. Der
hat eine Farm in Pike County.“ „Das sind doch keine 15 Meilen von
hier. Was soll das hier? In unserer Stadt sehen wir ungern Fremde,
die im Wagen herumlungern.“ Richie schwitzte Blut und Wasser, denn
er bemerkte gerade, daß sein Militärausweis im Stapel war.
Hätte er das verfluchte Papier bloß verbrannt! Wenn der
Bulle den fand, dann war er geliefert. „Pass mal auf, Sonny. Der
Wagen macht mir nen arg verdächtigen Eindruck. Du steigst jetzt
mal schön aus und dann werden wir unseren Plausch im Büro
des Sheriffs fortsetzen.“ Der Griff nach dem Papieren und der Tritt
aufs Gaspedal waren eins. Becky schrak auf. „Richie! Was zum...?“
Das Knallen des Revolvers führte sie endgültig in die
Realität. „Halt Dich fest, Baby! Wir haben ein großes
Problem!“ Verbissen fuhr er einen Haken, zum Glück war die
Straße gerade und um diese Zeit am frühesten Morgen
niemand unterwegs. Das Heulen der Sirene kam näher. Zum Henker
mit dem Scheissbullen! Hatte er überreagiert? Über die
Kuppe hinweg, war sein Gedanke. Der Highway machte einen scharfen
Abfall dahinter und ohne lange zu fackeln, beförderte er den
Wagen hinter die alte Scheune. Becky bekam große Augen, die
Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Still, Baby!“ Das
Sirenengeräusch schwoll ab. Der Bulle
war vorbeigerauscht. „Und das war der
zweite Streich!“ Der Entschluss, weiter zu schlafen war übermächtig
und bald schlummerten beide wieder ein. Ob er die Bullen ein drittes
Mal an der Nase herumführen können würde? Hoffentlich
kam der nicht zurück!


Als Richie wach wurde,
schien die Sonne schon sehr stark. Es war mittags, kurz nach 11.
Becky war nicht da. Sie hatte einen Zettel dagelassen: "Guten
Morgen, ich hole kurz Frühstück. Wir sollten uns mit dem
Wagen lieber nicht in der Stadt sehen lassen. Bis gleich, Deine
Becky.“ Er gähnte laut und vernehmlich. Dann drehte er die
Sitze zurück. Kurz darauf kam auch Becky zurück. „Augen
auf, Daddy-O! Guten Morgen, mein Süßer!“ Sie hatte eine
große Tüte unter dem Arm. Sie hatte Donuts, Brötchen
und eine Flasche Milch dabei. Sie frühstückten gemütlich,
das Radio plärrte und keiner würde bei dieser Idylle einen
fahnenflüchtigen Soldaten mit seinem Mädchen vermutet
haben, eher ein verliebtes Pärchen aus der Highschool.



Plötzlich kam ihm
eine Idee. Ja, das war die Idee. Er blickte Becky an. Er lächelte.
„Hey Baby, was hältst Du davon, wenn
wir von Kansas City nach Memphis weiterfahren?“ „Ja, aber .. was
willst Du in Memphis?“ „Memphis ist die Stadt der Musik.
Vielleicht können wir dort irgendwo eine Aufnahme machen.“ „Du
willst Deine Begabung zu Geld machen?“ „Nein, unsere Begabung.
Aber nur zum Spaß. Es muß ja kein Geld bringen, aber es
wär doch gut eine Aufnahme zu haben.“ „Ok, ich bin dabei.
Aber irgendwann wird auch für Dich Geld wichtig werden. Wie soll
das weitergehen?“ Hörte er da leichte Resignation? „Wird
schon werden, Baby.“ Jetzt nur Optimismus und Entschlossenheit
verbreiten. Womöglich würde Sie sonst noch zurück
wollen. Der Punkt ohne Wiederkehr war längst überschritten.
Seine Brücken waren verbrannt. Vorwärts, westwärts,
das musste sein Motto sein. „Was ist mit Frank und Tracy? Holen wir
sie ab?“ Die Sachlichkeit in Beckys Stimme lies die Zweifel
schwinden. „Klar, Baby.“ Sollten die Bullen doch kommen. Nichts
würde Richard Dorkins aufhalten, nichts!
Dann holten sie Frank und
Tracy ab. Was mochte Frank zu erzählen haben? „Los Frank,
spann uns nicht auf die Folter. Was war gestern abend noch?“ „Oh,
heilige Scheiße. Das war überhaupt nicht feierlich. Ich
hab also die Dorson Brüder geholt. Aber Ben war nicht
aufzufinden. Das gleiche für Marcy. Dann sahen wir die Gang, die
standen alle im Flur vor dem Schlafzimmer. Die Tür war zu, aber
der Lärm war nicht gut. Es hörte sich verdammt nach Marcy
an und sie schrie, er solle sie in Ruhe lassen. Die Tür war zu,
da gerieten wir in Panik. Sharky, Bens Kumpel, sagte nur „Ben
amüsiert sich heute abend mal königlich.“ Die Tür
war zu, und die standen davor, als ob ... als ob das ein Jahrmarkt
wär. Buck Dorson hat dann ausgeholt. Sharky ging zu Boden, die
beiden anderen sind davongerannt, als ob sie genau wüssten, daß
die Kacke mehr als am dampfen war. Jetzt musste wir die Tür
aufkriegen. Wären die Footballjungs nicht so tough, wir hätten
die Tür nicht aufgekriegt. Also alle 3 dagegen gerannt,
splittern und knacksen, dann war die Tür auf. Ben war da, über
Marcy, er hat ihr die Klamotten fast komplett runtergefetzt. Der
wollte sie wirklich da einfach so vergewaltigen, auf dem Bett ihrer
Eltern, das war nicht mehr feierlich. Also haben wir drei uns auf ihn
gestürzt. Wir haben etwas gebraucht, der hat sich gewehrt wie
ein Mastbulle, aber Slick hat ihn endlich
KO gesetzt.“ Entsetzen stand in Beckys Augen. „Was für ein
Schwein!“ Richie lief ein übel kalter Schauer den Rücken
herunter. Das hätte Becky sein können! Aber selbst so war
das nicht besser. „Was habt ihr dann getan?“ „Den Sheriff
geholt, was sonst.“ „Hmmm....“ „Was hätten wir tun
sollen? So landet er im Knast und das diesmal ohne Bewährung
oder Kaution.“ „Und ihr.. ich meine müsst ihr nicht
dableiben?“ „Nein, wir haben ja schon ausgesagt und bis zur
Verhandlung sind wir wieder hier.“ „Na dann mal los. Mir wirds
hier....“ Richie stockte. „... langsam etwas ungemütlich.“
Die Begegnung mit dem Hilfssheriff in der vergangenen Nacht wollte er
nicht erzählen, sofern das nicht wirklich nötig wurde.


Also los. Dieser Frank
war schon sonderbar. Organisierte spontan einen Aufstand gegen einen
zukurzgekommenen Trampel, der ein Schulmädchen gewaltsam
vernaschen wollte, aber auf der anderen Seite hatte er ein
Techtelmechtel mit einer Anderen. Tracy ahnte anscheinend noch nichts
davon, daß Frank sie betrog. Aber nun ja, das konnte ihm auch
egal sein. Eine Drugstorebekanntschaft. Wenn man sich die letzte
Nacht als Maßstab nahm, dann hatte Richie selbst soviele
Probleme am Hals, daß eine Beziehungskrise
von entfernten Bekannten nicht so wirklich wichtig sein konnte. Sie
brachten die beiden ja nur nach Kansas City ins Konzert. Er wußte
noch garnicht, wohin es danach gehen sollte. Ok, nach Memphis, aber
wie. Um nicht aufzufallen, fuhr er nur so schnell, wie erlaubt war.
Nur nicht schon wieder die Bullen auf dem Hals haben! Zweimal war
genug.


(7)


Der Highway war gut
ausgebaut, die Landschaft leicht hügelig, der Straßenrand
bewachsen. Maisfelder links und rechts,
Farmland, Viehställe und alle 20 Meilen ein verschlafenes Nest
im Nirgendwo. Sie fuhren der Sonne entgegen. Sie würden wohl
abends gegen 8 in Kansas City sein, zu spät für das
Konzert. Daher tippte ihm Frank auf halber Strecke auf die Schulter.
„Hey, Richie, drück ein bißchen auf die Tube, damit wir
pünktlich sind.“ „Ok, Mann, aber wenn die Bullen uns
kriegen, bist Du schuld. Klar?“ „Okay. Musst ja nicht gleich
aggressiv werden.“ Frank grinste harmlos. Was ahnte der tumbe
Tor denn schon? Tracy und Becky unterhielten sich die ganze Zeit über
Jungs, über Musik, über Kleider und Frisuren. Gerade
ratschten sie über „American Bandstand“ und wie süß
Dick Clark doch war. Ein Kopfschütteln konnte die einzige
Reaktion sein. Dick Clark war genauso das Establishment wie sein
Vater es war, Profit und schmieriges Grinsen im TV. Das jugendliche
Outfit kaschierte das nicht. Richie biß die Zähne
zusammen, leicht war das Leben nicht, aber leicht hatte es einen. Er
versuchte nur auf die Straße und den Verkehr zu achten. Bloß
nicht von dem Geschnatter von jungen Mädchen ablenken lassen. Er
gab etwas mehr Gas, damit die Fahrt schneller ging. Zum Glück
waren nicht ganz so viele Trucks auf der Straße. Es war nur
eine weniger wichtige Route. Man kam sehr gut voran, die Straße
war ja gut ausgebaut. Die Landschaft änderte sich kaum. Wie in
Iowa nur Farmland, Mais, Weizen. Oh, welche Abwechslung! Ein Feld mit
Kürbissen, soweit wie das Auge sehen konnte. Kilometerweit nur
Kürbisse. Eine Werbetafel „Kauft
Grandma Haneys beste Kürbisse – originaler Missouri-Kürbis!“
Eine alte Dame in einem Overall hielt einen großen dicken
Kürbis hoch, rund wie ein dicker
Hintern. Manchmal war es geradezu rührend, was es auf dem weiten
Land so alles gab. Ein Wagen kam ihnen entgegen, ein roter Pickup.
Beladen mit Gerätschaften. Ein Farmer fuhr wohl aufs Feld. Bei
dem roten Pickup musste Richie spontan an Ben denken. Nein, lieber
nicht. Auf so eine Type verschwendete man keinen einzigen Gedanken.
So ging es stundenlang, viel Landschaft, aber wenig Abwechslung.


„Richie, ich habe
Hunger!“ Mit dem Appetit würde sich Becky jedenfalls nicht zu
Tode hungern. Tracy kicherte, der letzte Gedanke war wohl nicht nur
gedacht worden. Becky sagte nichts, aber die leichte Kopfnuss sprach
eine deutliche Sprache. Frank grinste breit, sagte aber nichts. „Ist
ja gut, im nächsten Ort machen wir ne Pause.“ Richies Blick
wanderte auf die Benzinuhr. „Der Sprit geht eh zur Neige.“ Kurz
darauf legten sie einen kurzen Zwischenstop
ein, um Sandwiches zu kaufen. Während Becky im Drugstore
verschwand, betrachtete Richie die Benzinpumpe mit Sorge. Über 4
Dollar für den Sprit, da würden sie bald pleite sein.
Gleich hinter der Tankstelle began der Ort. Irgendwo in Missouri,
vielleicht 90 Meilen vor Kansas City. Wieder eine öde
Kleinstadt, mit Bahnhof, Drugstore, Wasserturm und staubigen Straßen.
Wie immer waren nur wenige Leute auf der Straße. Ein einsamer
Polizeiwagen kam ihnen entgegen. Hoffentlich hatte der ihre Nummer
nicht. Dann waren sie geliefert, denn jetzt stand der einsame Pontiac
mit Verdeck aus Indiana garantiert auf allen Fahndungslisten.
„Widerstand gegen die Staatsgewalt“ - dafür gabs Knast. Das
war hier in Missouri nicht anders als daheim in Indiana.
Kaum lag die Stadtgrenze
hinter ihnen, wo die Straße wieder asphaltiert war und
insbesondere wieder breiter wurde, trat er das Gaspedal voll durch,
nur um viel Straße zwischen sich und den Polizeiwagen zu
bringen. Frank sah ihn fragend an, aber er sagte keinen Ton. Das war
auch besser so. Richie starrte auf die Straße und fuhr wie der
Teufel. Sie würden gerade noch pünktlich kommen.


Plötzlich ein
Vordermann, ein ziemlich neuer Cadillac CoupeDeVille mit auffällig
großen Heckflossen. Was für ein Schlachtschiff! Richie
setzte zum Überholen an. Auf gleicher Höhe mit dem anderen
Wagen wanderte sein Blick hinüber. Eine Blondine mit Dauerwellen
und Kaugummi im Mund saß hinter dem Steuer. Sie grinste rüber.
Richie gab mehr Gas, denn die Straße führte einen Hügel
hinauf. Ziemliche Steigung, doch er kam nicht vorwärts. Die Lady
drückte an und er konnte den Cadillac nicht einholen. Wie zum
Hohn hupte die Blondine noch, dann fuhr sie ihnen davon.
„Scheisskarre!“ Richie kochte vor Wut.
„Richie, der Motor...“ Frank stupste ihn an. „Mach langsamer,
sonst fliegt uns der Kühler noch um die Ohren.“ Was für
eine Pleite!
Knapp zwei Stunden
später, es war vielleicht gegen 7 Uhr, erreichten sie den
Stadtrand von Kansas City. Es ging leicht einen Hügel runter,
ins Tal des Missouri. Man konnte den Fluß schon sehen. Ein
majestätisches glitzerndes Band. Die Abendsonne spiegelte sich
im Fluß und in den Fenstern der Wolkenkratzer der Stadt. Es war
die erste Skyline dieser Art, die Richie zu Gesicht bekam. Es war
überwältigend. Auch Becky schien den Anblick zu genießen.
Sie fuhren gerade über die große Brücke über den
Missouri. Was für ein Fluß! Aber am meisten staunten sie
über die Wolkenkratzer. Dann bog er in die Innenstadt ab. Nun
mußte er nur noch die Town Hall finden. Dort würden sie
Frank und Tracy absetzen, dann wollten sie sich ein Motel suchen.
Oh, was für ein
Glück. Da war die Town Hall. Er ließ Frank und Tracy raus.
„Hier treffen wir uns wieder, wenn das Konzert zu Ende ist. Viel
Spaß!“ Ein Bedauern in der Stimme war nicht zu unterdrücken.
Irgendwo war es schon traurig, daß er mit Becky das Konzert
nicht besuchen konnte. Aber das konnte er sich nun wirklich nicht
leisten. Becky war sowieso so gut wie pleite. Also mußte das
reichen, was er noch vom letzten Sold übrig hatte, also rund 50
Dollar.


Während sie an einer
Ampel standen, wandte er sich Becky zu: „So Baby, jetzt müssen
wir nur noch ein Motel finden.“ „Die Motels sind eher außerhalb.
Laß uns lieber ein normales Hotel suchen, ich bin müde.“
„Ok, Baby.“ In einer Nebenstraße fanden sie schließlich
ein billiges Hotel. Es hatte allerdings nur Doppelbettzimmer.
Er bestellte zwei davon. Die Rezeptionistin
schaute ihn erstaunt an, den ihr entging nicht, daß die zwei
zusammengehörten. „Das macht 8 Dollar die Nacht. Bad ist auf
der Etage. Präser im Automaten dadrüben. Frühstück
gibts bei uns nicht.“ Er trug sich in das
Buch ein, zahlte und dann gingen sie hoch, um sich einzurichten. Der
musternde Blick der Dame war genau im Rücken zu spüren.
Aber das war ja schon fast normal.
Die Zimmer lagen
nebeneinander, das Bad direkt neben der Treppe. Mal wieder ein
normales Hotelzimmer. Ein Doppelbett, ein Schrank, ein Tisch mit zwei
Stühlen, ein kleines Waschbecken. Das Fenster ging zum
Hinterhof. Sie machten sich kurz frisch. Dann gingen sie in die Bar
auf der anderen Straßenseite. Sie tranken etwas, setzten sich
und unterhielten sich. Ganz so dringend war Beckys Schlafbedürfniss
dann doch nicht. Er schaltete die Musikbox ein. Bei Musik ging die
Unterhaltung besser. Doch dann beschloßen sie, zur Town Hall zu
fahren und Tracy und Frank abzuholen. Selbst draußen auf der
Straße hörte man das heiße Konzert innen. Zumindest
war es das reinste Gekreische, was da nach außen
drang. Man konnte einigen älteren Passanten die Abscheu
regelrecht ansehen. Richie seufzte tief, wirklich schade, daß
sie nicht in dieses Konzert gehen konnten. Doch schließlich war
auch dieses Konzert beendet. Man hörte den rauschenden Applaus
und den Beifall, der folgte. Das nahm kein Ende, aber dann kamen nach
und nach alle Zuhörer aus dem Gebäude heraus. Auch Tracy
und Frank. Sie trugen beide Platten unter dem Arm. Anscheinend hatte
es noch einen Verkauf gegeben. Beide waren aufgekratzt. Beide
sprudelten nur so von Erlebnissen und Energie. Richie hörte
wenig zu, als sie zum Hotel fuhren. Seine Gedanken waren auf andere
Dinge gerichtet. Fahnenflüchtig, Widerstand gegen die
Staatsgewalt, und dann die Sache mit Becky. Wie er ihren Vater
einschätzte, so würde das verdammt ins Auge gehen. Aber
Liebe macht blind!



Richie parkte den Wagen
vor dem Hotel, doch als sie alle ausstiegen, kamen ein paar finstere
Typen auf sie zu. Lederjacken mit Nieten, Jeans, die Haare nach
hinten gekämmt, Narben auf den Gesichtern, die Augenhöhlen
dunkel. Schnell waren sie eingekreist. Einer der Typen zog ein langes
Stahlmesser. Es sah keineswegs harmlos aus. Aus den Augenwinkeln
bemerkte Richie auch noch zu allem Unglück, daß einer der
Typen einen Revolver hatte. Frank zuckte leicht, Panik im Gesicht.
„Na Kleiner, so spät noch unterwegs?“ Der Atem des Typs
stank furchtbar nach Bier. „Wie wärs, wenn Du mich mal über
Deine Kleine rüberlassen würdest?“ Die anderen lachten
hämisch, der Typ mit dem Revolver spannte den Hahn. Mit einer
hohen Fistelstimme rief er: „Kleiner, her mit Deiner Kohle. Wenn Du
genug hast, lassen wir die Schnecke vielleicht in Ruhe.“
„Vielleicht auch nicht!“ Das war ein Dritter, Richie konnte ihm
kein Gesicht zuordnen, aber im Moment war das zweitrangig. Jetzt
spürte er den Revolver an seiner Schläfe, das Messer an der
Kehle. 2 andere Kerle hielten Frank. Die Mädchen, oh verdammt!
Bremsen quietschten und Richie konnte später nicht mehr genau
sagen, was passiert war. Ein Wagen wendete und aus dem Fenster
lehnten 2 Typen. „Vince Maniano – stirb, Du elender Scheisser.“
Darauf setzt aus den beiden Wagenfenstern ein wildes Geschieße
ein, eine Pumpgun knallte. Sofort
zerstreute sich die Gang, der Typ mit der Knarre war tot, ein Wunder,
daß er nicht abgedrückt hatte. Richie stürzte mit ihm
zu Boden, auch die anderen sah er noch. Unverletzt, alle? Ja, alle.
Die finstere Gang hatte sich zerstreut, die hatten wohl nicht mit
einem Überfall gerechnet. Einen sahen sie noch um die Ecke
wanken, vermutlich mit einer Ladung Schrot im Arm. Der Rest lief
davon. „Schwein gehabt, was?“ Das war Frank. „Laß mal
lieber den Hintereingang benutzen, ich habe keine Lust auf die
Bullen.“



(8)


Richie wachte auf.
Draußen auf der Straße war nur wenig Lärm. Es war
noch sehr früh am Morgen. Becky schlief noch. Sie sah so süß
aus, wenn sie schlief. Er stand auf, um erstmal zu duschen. Er gähnte
laut, während er das Zimmer verließ. „Richie.“ Becky
wachte auf. Sie hatte die Tür gehört. Sie gähnte
ebenfalls. Sie freute sich ein wenig auf den Tag. Jetzt hatte sie
Hunger, sowohl magenmäßig, als
auch auf Richie. Sie streckte sich, dann stieg sie aus dem Bett. Die
Bettdecke rutschte runter und legte ihren Körper frei. Sie
schlief immer in Unterwäsche. Das war ihr bequemer als die wenig
kleidsamen Nachthemden, die ihre Mutter mit soviel Hingabe nähte.
Sie streckte sich nochmal. Dann stellte sie das Radio an und begann
damit, ihre Haare zu bürsten. Hoffentlich beeilte sich Richie
mit Duschen. Plötzlich kam ihr ein Einfall. Sie grinste über
beide Backen, nahm ihr Zeug in die Hand, sperrte den Raum ab und ging
zum Bad. Sie hoffte, daß Richie noch unter der Dusche war. Dem
war so. Schnell zog sie sich aus und schlüpfte zu ihm in die
Dusche. Er stieß einen erstaunten Ruf aus, doch dann war er
froh. Er grinste, während er den Duschvorhang wieder vor zog.
Das war noch nicht dagewesen. Ein Genuß ohne Frage, das wurde
ausgenutzt. Normalerweise war er immer
schnell mit Duschen, aber in diesem Fall wäre er schön dumm
gewesen.



Kichernd strebten sie
wieder zurück zu ihrem Zimmer. Während sie ihre Sachen
packten, blickte Becky aus dem Zimmerfenster.
Sie stieß einen überraschten Schrei aus. Ein Polizist
trieb sich dort herum. Anscheinend waren sie aufgestöbert
worden, oder noch schlimmer, verpfiffen worden. Oder war das wegen
der Schießerei vom Abend? Sie griffen
ihre Taschen und kletterten das Treppenhaus hoch, zum Dach. Unten
hörten sie schon einen Polizisten mit der Rezeptionistin
sprechen. Richie trat die Tür zum Dach auf. „Jetzt nichts wie
weg hier!“ Zu ihrem Wagen konnten sie nicht, ein kurzer Blick
zeigte, daß es dort nur so von Polizisten wimmelte. Er schickte
Becky vor und verrammelte die Tür mit einem Balken, der hier
lag. Hoffentlich hielt das, ansonsten würden die Bullen sie
vermutlich schnappen. Diesen Gedanken versuchte er aber möglichst
aus seinem Gehirn zu verdrängen. Er griff nach der letzten
Tasche und hastete Becky hinterher. Der Abgrund zum Nachbarhaus war
nicht sehr tief, vielleicht 4 Meter. Er nickte ihr zu, als sie sich
herunterließ, den großen Tramperrucksack
auf dem Rücken. Während sie sich vorsichtig herunterließ,
konnte er einen Blick in ihre Bluse werfen. Ein Blick, der ihm immer
wieder gefiel. Doch jetzt war der falsche Moment, um an Sex zu
denken. Mit einem Plumpsen fiel Becky herunter. Sie torkelte ein
wenig, dann stand sie auf. "Ok, Richie, wirf mir die Tasche
runter." Er warf die Tasche runter. Doch dann schreckte er auf.
Was für ein Lärm! Anscheinend versuchten die Bullen die Tür
aufzumachen. Er beeilte sich damit, sich herunterzulassen. Er ließ
los. Einen Moment lang dachte er schon die Schritte der nahenden
Polizisten zu hören. Mit einem Knall kam er auf dem Boden auf.
Au, das tat weh. Aber Dank harter Grundausbildung bei der Army war es
doch nicht so schlimm, wie es sich anfühlte. Er griff die
Tasche. Dann hasteten sie beide weiter. Mit einem harten Tritt
öffnete er die Dachtür dieses
Hauses. Rumpelnd brach sie aus den Angeln. Ein Niedergang, nicht
beleuchtet und die Stufen ausgetreten. Egal, dann ging es die Treppe
herunter und zum rückwärtigen Ausgang raus. Auf diesem
Hinterhof stand ein grüner Pickup. Er gehörte anscheinend
einem Klempner, der gerade dort im Haus verschwand. Jetzt nicht lange
gefackelt, er kletterte ins Fahrerhaus und zog Becky nach. Der Mann
hatte den Zündschlüssel steckengelassen. Wie unvorsichtig!
Aber jetzt war es ihre Rettung. Der Motor sprang mit einem lauten
Knattern an. Mit Vollgas verließen sie den Hof und rasten dann
die Straße runter. Südwärts, das war ihre Richtung.
Er achtete nur darauf, weit weg zu kommen, weg von Kansas City, weg
von den Bullen.


Sie quälten sich
durch mehrere Viertel hindurch, dann kamen sie auf eine große
Ausfallstraße. Ein großes grünes Schild zeigte an:
„Missouri Turn Pike, St. Louis 240 Meilen über Jefferson City“
Er zahlte 20 Cent für die erste Etappe. Dieser Highway war
gebührenpflichtig, aber dafür eine schnelle
Straßenverbindung das Missourital
herunter zum Mississippi. Es war schon Mittag, sie würden wohl
abends gegen 6 in St. Louis sein. Diese Karre hatte nicht mal ein
Radio. Das war schlecht. Er beschloß demnächst den Wagen
zu wechseln. Becky starrte ihn die ganze Zeit verdattert an.
Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, daß er auch
Diebstahl begehen würde, nur um der Polizei zu entkommen. Sie
sagte nichts, nein, keinen einzigen Ton, während er verbissen
den Highway lang fuhr. Beide hatten Hunger, aber keiner sagte es
laut. Becky wollte ihn nicht verstimmen und er wollte nicht anhalten.
Doch schließlich siegte der Hunger. Er fuhr bei einer
Raststätte mit Motel raus. Sie stellten den Wagen in einem
Seitenweg ab, lieber etwas abseits, denn mit Pech würde jemand
danach suchen. Dann gingen sie ins Restaurant hinein. Es war eher ein
überdimensionierter Imbiß. Es gab Burger, Fritten,
Sandwiches in verschiedener Form. Die Kundschaft bestand
hauptsächlich aus Truckern. „Becky, setz dich dadrüben
schon mal an den Tisch. Ich hole derweil etwas zu essen.“ „Ok,
bis gleich, Richie.“ Da war wieder dieses Vertrauen, ein Gefühl,
welches man gegen nichts und nirgendwo eintauschen konnte.

Er stellte sich an, die
Schlange war zwar nicht lange, aber es dauerte trotzdem. Dabei dachte
er über das nächste Transportmittel nach. Am besten wär
es ja, wenn sie sich trennen würden. Zum einen wurde nach einem
Pärchen gesucht, zum anderen war sie so sicherer. Er würde
verhaftet werden, sie einfach zu ihren Eltern zurück gebracht
werden. „Zwei Sandwiches mit Schweinefleisch und eine Kanne mit
Kaffee“ Genervt, trotz der wenigen
Kundschaft, bediente ihn eine fette, alte Kuh mit einem stierenden
Blick. Er zahlte und wandte sich wieder Becky zu. Schweigend aßen
sie ihre Sandwiches und tranken den Kaffee. Doch dann, sie waren
gerade mit dem Essen fertig, sah er, daß ein Truck voll mit MP
auf den Platz fuhr. Nicht nur die State Trooper, sondern auch das
noch, das Militär. Klasse, Richie! „Becky, ich denke wir
trennen uns hier.“ „Richie, ich ... und wie?“ „Paß auf,
wir treffen uns in Memphis. Irgendwann, in ein paar Tagen, bei Sun
Records. Ich weiß nicht wann, aber auf jeden Fall, wir sehen
uns dort.“ „Wie? Richie, wie soll ich von hier weg?“ „Fahr
irgendwo mit. Ich steig in den nächsten Truck, den ich finde,
der nach St. Louis geht.“ Er blickte sie noch einmal an, küsste
sie leidenschaftlich und nahm dann seine Tasche. Er lächelte
noch einmal, „Becky, wir sehen uns in Memphis. Ich liebe Dich,
Baby!“ Er nickte ihr zu und drückte ihr noch rasch 20 Dollar
in die Hand. Dann verließ er das Lokal. Die MP war noch mit
sich selbst beschäftigt, so daß er keine Probleme hatte,
zu einem Truck zu laufen, der in der Nähe der Abfahrt auf den
Highway stand. Er klopfte an die Tür, ein Trucker mit
Schnauzbart, Lederhut und Sonnenbrille
öffnete ihm. „Hey, Sunnyboy, wo
solls denn hingehen?“


(9)


Eine gute Stunde später,
Richie hatte in seiner Panik das Zeitgefühl verloren. Irgendwo
auf dem Highway nach St. Louis. Seine Gedanken wanderten immer zu
Becky zurück. Ging es ihr gut? Hatte sie der MP entkommen können
und hatte sie eine Mitfahrgelegenheit gefunden? Irgendwie kam er sich
schäbig vor, Becky einfach alleine zurückzulassen, aber wie
hätten die Alternativen ausgesehen?

George, der Trucker,
sagte keinen Ton zu ihm, er fuhr einfach weiter. Er stellte keine
Fragen, lauschte einfach der Countrymusik
im Radio und schaute auf die Straße. „Hey, Richie!“ George
begann plötzlich gesprächig zu werden. „Du willst also
nach Memphis. Was willst du denn da?“ „Ich will Musik machen. Ich
kann Gitarre spielen.“ George grinste. „Ok, Boy. Du gehörst
wohl zu dieser Rock'n'Roll-Generation?“ „Ja, das heißt,
wenn man das so nennen will. Wir suchen uns aus, was uns gefällt
und da wird von jedem etwas genommen. Solange der Beat stimmt, ist
alle Musik irgendwo richtig. Rock'n'Roll ohne Country
geht eigentlich nicht.“ „Na, vielleicht geht dann ein neuer Stern
am Musikhimmel auf?“ „Vielleicht!“
„Na dann laß mal hören.“ George drehte das Radio ab.
Erwartungsvoll grinste er Richie an. „Na los, laß hören.
Ich beiß schon nicht“ „Ich habe keine Gitarre da.“ George
winkte ab, „Richie, greif mal hinter Dich. Meine alte Gitarre liegt
da irgendwo.“ Richie nahm die Gitarre, schwer zu finden war sie
nicht. Georges Koje war nicht gerade geräumig und voller Kram.
Er zupfte ein paar Akkorde, klang brauchbar. „Hank Williams?“
„Ja, Hank ist immer ok, laß hören, Richie.“ Und so
spielte Richie eine emotionale Variante von 'Hey Good Looking'. Der
Gedanke an Becky machte das sehr viel leichter. George staunte, „Du
bist gut, Junge. Solltest zu nem Talentwettbewerb gehen.“


Die nächsten Minuten
waren wieder mit Schweigen gefüllt. „Wo kommst Du eigentlich
her? Bei der Army weggelaufen, wie?“ Richies Armytasche war einfach
nicht zu übersehen, man konnte fast sagen auffällig. „Ja!“
Jetzt war er gefangen! „Ehh, brauchst keine Angst zu haben. Ich bin
selber getürmt, habs nicht mehr ausgehalten.“ „Warst du in
Korea?“ „Auch, aber auch auf Okinawa,
und das hat mir gereicht.“ „Mein Dad war im Krieg bei den
Marines. Er war dabei, als Guadalcanal
zurückerobert wurde.“ Richie sinnierte
kurz, dann führte er fort. „Er wollte immer, daß ich
ebenfalls ins Marine Corps gehe, aber ich wollte nicht, naja, dann
hat er mich zur normalen Infanterie geschickt.“ Nach einigem Zögern
setzte er hinzu: „Ein Held zu sein, das ist das eine, der öde
Dienst, der ständige Drill und diese verdammten Alarmübungen
sind das andere. Ich hab gerade die Grundausbildung hinter mir. Nicht
wirklich mein Fall, aber da ich noch nicht 21 bin und keiner meinen
Ausweis fälschen wollte, musste ich bleiben. Da bin ich
getürmt.“ George grinste. „Ich war nicht bei der Army, ich
war in der Marineluftwaffe. Bei Okinawa haben mich die Japsen
abgeschossen. Meine Hellcat war einfach
nicht wendig genug, um mit diesem ausgebufften Hund fertig zu werden.
Ich vermute, da hat ein Ass hinter dem Knüppel gesessen. Und
dann in Korea, bin ich bei einem Hubschrauberunglück
abgestürzt und gefangen worden. Die Kommunisten waren fast noch
schlimmer als die Japsen.“ Während dieser Erzählung war
sein Gesicht so haßverzerrt, daß Richie schon dachte,
George würde anfangen, vor Wut um sich zu schlagen, aber dazu
kam es doch nicht. George fuhr fort, bemüht die Fassung zu
behalten. „Dann wurde unser Lager geräumt. Da bin ich getürmt,
aber schon nach kurzer Zeit im Dienst habe ich beschlossen, das
Soldatenleben komplett sein zu lassen. Ich bin dann nach Japan
getürmt und zurück in die Staaten. Dann habe ich mich als
Truckfahrer beworben. Das mache ich nun
schon 5 Jahre. Oder sind es 6? Ich weiß es garnicht. Und seit
letztem Herbst gehört die Kiste mir und ich fahre auf eigene
Rechnung!“ Er fuhr dabei immer weiter, die Augen nicht von der
Straße lassend. Der Highway war ziemlich öde, jedenfalls
sah es für Richie so aus.
Hin und wieder fuhren sie
an Motels, Tankstellen und Imbisstuben vorbei. Weit war es nicht
mehr. Er konnte St. Louis schon fast riechen. Vielleicht waren es
noch 10 Meilen, jedenfalls nicht mehr. Sie hatten gerade den Missouri
überquert. St. Louis lag direkt vor ihnen. Man konnte die
Wolkenkratzer sehen. Irgendwie war es wieder ein überwältigendes
Gefühl, wie schon in Kansas City. Doch dann wurde er aus seinen
Gedanken geholt. „Richie, ich laß dich hier vorne raus, an
der Tankstelle da.“ Er nickte George zu. Er griff seine Tasche. Mit
einem Quietschen und einem Pfeifen hielt der große Truck an.
Richie stieg aus, etwas wacklig in den Beinen nach der langen Fahrt,
und winkte George noch ein Mal zu. Der nickte ihm zu. „Viel Glück,
Richie! Irgendwann will ich von Dir ne Platte im Radio hören!“
Dann hupte er laut und fuhr weiter. Langsam entschwand der Truck in
einer Staubwolke.


Lange Zeit blickte Richie
dem Truck hinterher. Manchmal konnte man die interessantesten
Geschichten hören, man musste nur zuhören. Überall auf
der Welt gab es Menschen, die eine Geschichte zu erzählen
hatten. Man mußte nur zuhören. Doch das Faktum seiner
Existenz hier an einer Raststätte vor St. Louis ließ die
Gedanken schnell wechseln. Wie würde es jetzt weitergehen? Er
schluckte, dann verließ er das Gelände. Hinter der
Tankstelle verlief eine normale Straße. Sie führte direkt
in eine normale Wohngegend. Es wurde langsam dunkel. Er hatte Hunger
und war so gut wie total pleite. Er hatte Becky schließlich
noch 20 Dollar in die Hand gedrückt. Viel blieb da nicht mehr
übrig. Er gähnte laut, während er auf die Lichter der
Stadt zu lief. Irgendwo, in einem Vorort
von St. Louis, kletterte er in einen Garten. Hier würde er wohl
oder übel irgendwie übernachten. Er duckte sich hinter
einem Busch, als er ein Auto hörte. Die Bewohner des Hauses
gingen anscheinend aus und fuhren weg. Richie grinste innerlich. Das
war seine Chance unentdeckt zu bleiben. Er holte seine Armeedecke
aus der Tasche und rollte sich hinter dem Gebüsch zum Schlafen
zusammen. Ja, hier würde er die Nacht verbringen.
Doch er träumte die
Nacht schlecht. Seine Gedanken kreisten nur um Becky. War es ihr gut
gegangen? War sie schon nach Memphis unterwegs? War sie umgekehrt,
hatte sie nach ihrem Daddy telefoniert, wie eine reuige Sünderin?
Würde er sie wiederfinden? Mit diesen Gedanken schlief er ein.


(10)


Richie fuhr aus seinem
unruhigen Schlaf auf, als ein Hund laut bellte und ihn beschnüffelte.
Seinem Gefühl nach hatte er noch nicht lange geschlafen,
vielleicht ein oder zwei Stunden. Ein Licht ging an, auf der
Terrasse. Der Hund, ein kleiner Scotchterrier, bellte wie verrückt.
Dann hörte Richie eine bezaubernde Stimme. Ein Mädchen.
„Bully? Bully! Was ist denn? Komm her.“ Doch Bully kam nicht. Er
bellte weiter und biß Richie in die Weichteile. Oh, was für
ein Schmerz. Er brüllte einfach los, ohje, das tat saumäßig
weh. Zwar war es eher ein kurzer und harmloser Biß, aber es tat
dennoch weh. Und zu allem Unglück hatte er sich jetzt auch noch
verraten. Dann sah er sie. Braune Harre, zu einem Pferdeschwanz
gebunden, lang herabhängend, fast bis zu den Kniekehlen
herunter, wunderbare braune Augen, ein kurzer weißer Rock,
passende Bluse, eine nicht zu übersehende Oberweite. Bully ließ
von ihm ab und umsprang seine Herrin mit lautem Gebell. Jetzt erst
sah Richie, daß die Femme fatal ein Gewehr hatte und auf ihn
richtete. Mit einer kalten Stimme fragte sie: „Wer bist Du? Was
machst Du hier in unserem Garten? Ein Penner, wie?“ „Nein, Süße,
ich bin ein kleiner Tramp.“ Er grinste. Was hatte er jetzt schon zu
verlieren? Sie schreckte zurück und lud das Gewehr mit einer
pumpenden Bewegung. Klick-klack, die meinte es ernst! „Zurück,
oder ich schieße!“ „Nicht nötig, Kleine, Dein Hund
...er ... hat mich gebissen.“ Da wurde sie freundlicher. „Du
siehst gut aus, für einen Tramp.“ Sie lächelte anzüglich.
„Du mußt ja nicht draußen übernachten. Nimm dein
Zeug, du darfst bei mir oben schlafen. Ich bin eh allein.“ Richie
lächelte. So ein Angebot ausschlagen? Schön dumm, aber
andererseits eine verrückte Idee! Da war schließlich noch
Becky. Aber für den Moment schaltete sich irgendwie alles
ab, fast konnte man meinen, Richie ließ sich betören.
„Gerne. Und nenne mich Richie.“ „Gerne, ich bin Peggy Sue, wie
im Song von Buddy Holly.“ Er lachte laut. „Das trifft sich gut,
ich werde manchmal Little Richard genannt, nach dem Musiker. Ich bin
zwar nicht klein, aber manchmal habe ich einfach Angst, und da haben
mich die Kumpels Little Richard genannt, den kleinen Richie, den
Angsthasen.“ Er fügte schließlich hinzu wie ein
Geständnis: „Ich bin von der Army getürmt.“ Als würde
das sein wunderliches Verhalten entschuldigen. „Komm mit.“ Bully
wurde ausgesperrt. Er kläffte ein paar mal enttäuscht.
Wahrscheinlich träumte er von einer Belohnung für seine
Heldentat. Auch Hunde wollten ja ab und Anerkennung haben. Peggy Sue
hängte das Gewehr weg. Im Wohnzimmer
war ein Waffenschrank und Richie lief es
kalt den Rücken herunter. Der Hausherr hatte eine beachtliche
Kollektion von Gewehren und Pistolen im Schrank, und alle sahen top
und gebrauchsfertig aus. „Dein Vater mag wohl Waffen?“ „Ja,
mehr als seinen Wagen, und den liebt er abgöttisch!“ Peggy Sue
lachte auf. „Na komm schon!“ und wies einladend zur Treppe. Er
folgte ihr die Treppe hoch. Dabei konnte er ihr unter den Rock
linsen. Ein regelmäßig unanständiger Blick, aber doch
nötig, und insbesondere bei diesem Mädchen nicht zu
verachten. Die prachtvollen Rundungen ihres Hinterns ließ ihn
sogleich an anderewelche denken. Eigentlich wanderten seine Gedanken
sofort wieder zu Becky. Wo war sie jetzt? Verfluchte sie ihn? Untreu
werden? Spontane Ausnutzung einer Gelegenheit? Rasch wischte er den
Gedanken fort, nein, Becky und sonst keine!


Peggy Sue holte eine
Luftmatratze hervor. „Hierauf kannst Du schlafen. Meine Eltern sind
vorhin weggefahren. Später als gedacht, aber immerhin..“ Sie
lächelte. „Hast Du eine Freundin?“, fragte sie, während
sie sich auszog. Huh, die ging aber ran. „Ja, ich war mit ihr
unterwegs.“ „Ah, ich verstehe. Dann habe ich wohl keine Chance.“
Sie grinste mehr einladend, als enttäuscht. Fast als wäre
ihr das gleich. Sie stand nur in ihrer Unterwäsche im Raum. „Na
komm schon, sie ist ja nicht da. Komm, runter mit den Klamotten. Ich
beiße nicht, ich bin clean. Wir sind allein. Deine, wie sie
auch immer heißt, muß es ja nicht erfahren. Komm zu mir
ins Bett, Daddy-O. Ich glaube, du bist gut.“ Puh, die war aber
rattig. Anscheinend war sie süchtig nach Sex. Verrückt,
aber wahrscheinlich wahr. „Bist Du irgendwie durchgeknallt?“
„Nein, ich will nur mit Dir schlafen.“ Ehrlich war sie
wenigstens. „Kein anständiges Mädchen sagt und tut das
vor der Ehe.“ Immer diese Ambivalenz, natürlich nicht, aber wo
er doch selber mit Becky da keine Probleme haben würde. Alles
eine Frage des Standpunkts, Richie fühlte sich wie in einer
Klemme ohne Ausgang. Alles konnte jetzt falsch oder richtig sein. Er
schüttelte den Kopf. „Wofür hältst
Du Dich eigentlich? Ich meine ... ok, du bist ... sehr hübsch
... aber ich meine, ich will Becky nicht betrügen. Außerdem
will ich pennen.“ „Na gut, wie du willst. Aber dann komm nicht
nachher an, daß Du mich doch willst. So ein Angebot mache ich
nur einmal!“ Sie drehte sich um und sprach keinen Ton mehr.
Anscheinend hatte er sie beleidigt. Naja, aber mal ehrlich. Becky und
sonst keine, außerdem wollte er nicht von einer wildfremden
Nymphomanin auf die Matratze gezwungen
werden. Nee, nee Peggy Sue war sehr scharf, aber Becky war es auch.
Er legte sich nieder und schlief ein. „Vergiß Peggy Sue, nur
Becky zählt!“ Seine innere Stimme half ihm beim Einschlafen.


Am nächsten Morgen
wachte er doch recht früh auf. Peggy Sue schlief noch. Er wollte
sie bloß nicht aufwecken. Das wäre fatal, womöglich
würde sie ihn noch festbinden. Leise zog er sich an, ohne Krach
zu machen ging er runter. Er schrieb ihr kurz noch eine kleine
Nachricht. „Liebe Peggy Sue, nimms mir nicht übel. Du bist
sehr attraktiv, aber ich muß weiter. Becky erwartet mich in
Oklahoma City. Vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal, dein Tramp
Richie.“ Oklahoma City war zwar gelogen, aber sie sollte ihm bloß
nicht folgen, oder, Gott bewahre, die Polizei in die richtige
Richtung weisen. Das wäre ziemlich dämlich, zumal, wenn sie
Becky sehen würde. Er wußte nicht, ob Becky eifersüchtig
werden konnte. Aber sehr wahrscheinlich war das schon, hatte sie ihm
da nicht mal eine Geschichte erzählt? Also war er lieber auf der
Hut. Nur kein unnötiges Risiko eingehen, er hatte mehr als genug
Probleme am Hals.
Kurz entschlossen nahm er
ein Brot mit, das konnte ja nicht so schlimm sein. Unterwegs
frühstückte er, in dem er das Brot Stück für
Stück in sich hineinstopfte. Während er aß und die
Straße runter ging, fragte er sich, wie es weitergehen sollte.
Wie sollte er denn von St. Louis nach Memphis kommen? Früher
wäre das kein Problem gewesen, da wäre man als blinder
Passagier auf einem Dampfer nach Süden gefahren. Der
Mississippi! Da lag er nun. Er hatte ihn natürlich schon einmal
gesehen. Sie hatten ihn auf einer großen Brücke bei
Davenport überquert. Das war jetzt schon ein paar Tage her, er
hatte jegliches Zeitgefühl verloren. 2 Tage? 3 Tage? Vielleicht
lag das einfach am ewigen Strom. Er erinnerte sich freudig an die
diversen Bücher von Mark Twain, die er gelesen hatte, als er
noch ein kleiner Junge gewesen war. Aber war das nicht die Idee?
Irgendwo auf einem Frachtkahn anheuern und bis Memphis fahren? Ja,
eigentlich war das die Idee. Er beschloß, sie durchzuführen.
Das war weniger kritisch, als wieder einen Wagen zu klauen. Verdammte
Bullen, hätten die nicht eine Stunde später in Kansas City
auftauchen können? Dann wäre er mit Becky ohne Streß
unterwegs gewesen und alles wäre schon irgendwie gut gegangen.
Peggy Sue hatte er schon
so gut wie vergessen. Jetzt hatte er nur noch Memphis im Kopf. Selbst
die weiterführenden Pläne von davor hatte er vergessen. Nur
noch Memphis, ja, das war sein einziger Gedanke. Memphis, dort
wartete Becky, dort wartete eine Karriere, dort war Musik. Memphis,
Tennessee, wie im Song von Chuck Berry!


Mit diesen Gedanken
suchte er den Hafen und er fand ihn. Nicht sehr groß, etwas
Stückgutverladung. Viele Kähne lagen hier nicht. Ein alter
Raddampfer mit riesigen Schaufelrädern und doppelten
Schornsteinen. Ein echter Mississippidampfer
wie bei Mark Twain war es. Der diente jetzt nur noch als Schauschiff.
Aber Richie suchte ein echtes Schiff, mit dem er bis nach Memphis
fahren konnte. Er überlegte, ob er als blinder Passagier fahren
sollte, oder lieber richtig anheuern sollte und sich als Matrose
verdienen sollte, während der Fahrt. Drüben, auf der
anderen Straßenseite, stand eine Nutte, die beinahe wie Becky
aussah. Aber nur beinahe, andersrum wäre ein allzugroßer
Schock für ihn gewesen. Das brachte seine Gedanken wieder zurück
zu Becky. Ging es ihr gut? Würde sie in Memphis sein, auf ihn
warten?
Doch dann sah er ihn. Ein
Flußdampfer, flach und lang, der mit
Getreide beladen wurde. In einem kurzen Moment, wo der Lademeister
sich umdrehte, schlüpfte Richie an Bord. Ungesehen und unbemerkt
– wenigstens einmal funktionierte etwas so, wie es sollte. Durch
einen Lukendeckel gelang er ins Innere des Flußdampfers. In
einer kleinen Kammer, die wohl als Materialraum
und Abstellkammer diente, machte er sich breit. Hier legte er sich
hin, breitete seine Armeedecke aus und wartete ab. Er verhielt sich
ruhig. Die Fahrt würde wohl 3 oder 4 Tage dauern.


Die Fahrt wurde ihm
langweilig. Immer wieder das Schaukeln auf dem Wasser, das Tuckern
der Dieselmotoren, ab und an lief draußen
auf dem Gang jemand vorbei, aber in die Kammer schaute nie jemand.
Richie hatte seine eigene Welt, wenn da nur die Einsamkeit nicht
wäre. Einsamkeit kann zu Geisteskrankheit und Verwirrung führen,
das hatte Richie keine 4 Monate zuvor in einem Magazin gelesen. Jetzt
spürte er es am eigenen Leib. Keine Musik, keine Becky, niemand,
mit dem er reden konnte. Nur alleine mit seinen Gedanken. Man hatte
es nicht gerade leicht als blinder Passagier. Auch wenn er sich etwas
zu essen organisierte, paßte er auf. Er durfte nicht entdeckt
werden. Schließlich, es waren vielleicht 3 oder 4 Tage
vergangen, kletterte er morgens vorsichtig aus der Luke. Sie lagen
irgendwo in einem Hafen. Er holte schnell sein Zeug. Hoffentlich war
das hier jetzt Memphis. Er kletterte schnell von Bord und suchte das
Weite. Man sollte ihn nicht mit diesem Flußdampfer in
Verbindung bringen. Das Hafengelände war recht groß.
Irgendwo musste es doch rausgehen. Er befand sich auf der Suche nach
dem Ausgang. Doch tatsächlich, es gelang ihm den Hafen zu
verlassen. Glück oder einfach nur Suchen, jedenfalls auf dem Weg
nach sonstwo. Richie quatschte einfach einen Penner an, um zu
erfahren, wo er sich gerade aufhielt. Tatsächlich, Memphis,
Memphis in Tennessee. „Haste nicht ein bißchen Kohle für
mich? Ich hab tierisch Brand.“ Mann, der Typ stank 2 Meilen gegen
den Wind nach billigem Fusel. „Nee tut mir leid, ich hab selber
nix. Sonst würde ich ja nicht mit sonem verrotteten Kahn fahren,
sondern mit dem Bus.“ „Na Sonny, das ist aber nicht gut. Wo
willst Du denn hin?“ „Irgendwo, nirgendwo, erstmal weg von hier.“
Er machte sich auf, bloß weg von dem Penner. Der verfolgte
Richie für ein paar Minuten, kam aber in seinem Zustand nicht
wirklich hinterher und so war Richie ihn schließlich los.


(11)


Nachdem er schon in der
Stadt der Träume aller Rock'n'Roller
war, beschloß er als erstes die Studios von Sun Records
aufzusuchen. 706 Union Avenue, das würde er schon noch finden.
Zwar pleite, aber frohen Mutes war Richie auf jeden Fall. Allzuviel
konnte ja nicht schief gehen, im Zweifelsfall würde er halt
wieder auf die Straße gesetzt. Freundlich fragen kostete nix,
nur etwas Überwindung. Sein knurrender Magen erinnerte ihn an
das fehlende Frühstück. Sein Geld reichte gerade noch für
ein Frühstück in einem Burgerladen
und für die folgende Taxifahrt. Auf dieser Fahrt durchquerte er
nur ein paar Blocks, dann sah er schon das Schild: Union Avenue.
Während der ganzen Taxifahrt fragte er sich, ob Becky schon auf
ihn warten würde? Oder vielleicht kam sie nicht, war geschnappt
worden oder noch schlimmer, hatte ihn abgeschrieben und war zurück
nach Indiana gegangen, zurück ins Nest, zu den Eltern. Dieser
Gedanke ließ es ihm kalt den Rücken runterlaufen. Nein, an
diese Option durfte er nicht mal im Traum
denken. Er schluckte, dann warf er einen Blick aus dem Fenster. Dort
lief gerade ein blondes Mädchen vorbei. Wieder eine, die ihn an
Becky erinnerte, aber Becky trug einen großen Rucksack. Das
hier war irgendein hübsches Schulmädchen in einem kurzen
schwingenden Rock, aber nicht seine Becky. Die Sorge um Becky fraß
ihn fast auf. Jetzt kurz vor dem Ziel, dachte er daran, daß es
unverantwortlich gewesen sein könnte, sich von Becky zu trennen.
Nein, wenn er es sich so recht überlegte, dann war das ein
Schnellschuß gewesen. Geboren in der Verzweifelung, zurück
zur Army, oder noch schlimmer, ins Gefängnis zu müssen. Er
versuchte an etwas anderes zu denken. Wann kam er endlich bei Sun
Records an? Weit konnte es ja nicht sein, das war ja die Union
Avenue. Er hoffte darauf, daß es bald so weit war. Würden
seine Künste reichen um über die Runden zu kommen? Ohje,
wenn nicht, dann saß er ziemlich in der Klemme. Pleite, ohne
Gitarre und nur mit einer Armytasche, da konnte er Penner werden und
betteln gehen. Brr, kein schöner Ausblick, denn selbst die
Gitarre würde er sich irgendwie organisieren müssen. Aber
jetzt galt es optimistisch in die Welt hinaus zu gehen, eine heiße
Aufnahme zu machen und Geld zu machen. Wozu war er schließlich
sonst hier, hier in Memphis, Tennessee. Tja nur Sam Phillips musste
irgendwie überzeugt werden. Der Mann, der Elvis entdeckt hatte,
würde wahrscheinlich täglich auf Elvis Wannabes wie Richie
treffen, es in der Hoffnung auf Ruhm und Erfolg mit einer
Plattenaufnahme versuchend. Quietschend hielt der Wagen an. "So,
706 Union Avenue. Das macht 37 Cent." Beinahe geistesabwesend
bezahlte Richie den Taxifahrer. Jetzt hatte er noch knapp 2 Dollar in
der Tasche.


In der einen Hand die
Armeetasche, die andere in der Hosentasche,
stand er nun davor, vor einem der Gebäude seiner Träume,
vor einem der großen Aufnahmestudios für Schallplatten.
Hier wurde Musikgeschichte verewigt. Naja,
sah ja nicht völlig vertrauenserweckend
aus, ein Eckgebäude, nicht besonders groß, eine
Neonreklame „Memphis Recording Service“ flackerte im Fenster, die
Jalousien geschlossen. Über der Tür im Halbkreis angeordnet
drei gelbe Buchstaben: SUN. Zögernd nahm Richie die Klinke in
die Hand. Die Türe ging auf, offen hatte das Studio also. Er
stand nun in einer Art Empfangszimmer. Eher etwas chaotisch, eine
Sekretärin hämmerte auf ihrer Schreibmaschine. Rothaarig
mit grüner Brille, durchschnittliches Gesicht, nicht besonders
auffällig. Eine Seitentür öffnete sich, ein Mann im
Anzug und Hut kam heraus. Er schien es eilig zu haben, denn er griff
sofort einen Mantel und weg war er. „Guten Morgen, Lady.“ „Junge,
was kann ich für Dich tun?“ „Ich .. also ich ...“ Nur
nicht durchdrehen, Richie. Faß dich. „Ich ... mein Name ist
Richard Dorkins. Ich wollte gerne ein paar Probeaufnahmen machen
lassen. Ist Mr. Phillips da?“ „Soso. Sam ist da, Judd ist gerade
gegangen.“ Die Dame schien sich zu wundern. „Ich werde sehen,
was ich tun kann. Setz dich dort drüben
hin. Ich werde mit Mr. Phillips sprechen. Vielleicht läßt
sich etwas arrangieren.“ Er bedankte sich und setzte sich. Puh, der
erste Schritt war getan. Mal sehen, nur optimistisch sein. Vielleicht
hatte er Glück. Das Warten erschien ihm wie eine Ewigkeit. Aber
Ungeduld war wahrscheinlich genau das Falsche, was er jetzt haben
konnte. Also weiterhin Däumchendrehen. Doch dann schreckte er
auf. Die andere Tür zum Studio öffnete sich, ein
dunkelhaariger junger Mann mit scharfen Gesichtszügen kam
heraus. „Na Kleiner, willste auch groß und berühmt
werden?“ Schweigen. Die Hand ausgestreckt, „Ich bin Billy Lee
Riley.“ Richie staunte, nicht gerade der allerbekannteste Name,
aber durchaus eine Größe. „Dorkins, Richard Dorkins....
Du kannst mich Richie nennen.“ „Vielleicht sehen wir uns ja noch?
Viel Glück bei Sam!“ Und weg war er. Jetzt mußte er
erstmal an seine eigene Karriere denken. Rockabillyhelden
die Hand schütteln war eine Sache, aber selber ein Held werden?
Hoffentlich wurde das bald etwas. Aber Geduld, ja das war dafür
wohl nötig.


„Mr. Dorkins, Mr.
Phillips empfängt sie jetzt.“ Er fuhr hoch, „Danke, Lady.“
Er packte seine Sachen und hastete beinahe einen Tick zu schnell zur
Bürotür. Er rupfte vorsichtig seine Klamotten zurecht, nur
einen guten Eindruck hinterlassen. Jetzt mußte alles klappen.
Das war klar. Jetzt ging es um ihn, seine Zukunft. Becky fiel ihm
plötzlich ein. Hoffentlich trafen sie sich noch. Er wollte schon
anklopfen, aber die Tür öffnete sich von selbst. „Na,
Mister Dorkins, kommen Sie rein.“ Sam Phillips machte einen netten
Eindruck, fast ganz geschäftsmäßig. Richie schluckte,
dann trat er ein. Ein normales Büro. Ein breiter Schreibtisch
mit Lehnstühlen. Ein Sessel in der Ecke, eine weitere Tür,
die wohl ins Studio führte, eine Schreibmaschine, ein Telefon.
An der Wand gerahmte Fotos von Sun Stars, schwarz und weiß
gemischt, daneben eine stilisierte Platte mit dem goldenen Sunlogo
darauf. In der Ecke stand ein Kleiderständer, ein Hut daran.
„Kommen Sie schon näher. Setzen sie sich, Mr. Dorkins.“
Richie gehorchte. „Also ich bin Sam Phillips und ich manage hier
die Künstler. Mein Bruder Judd kümmert sich ums
finanzielle.“ Er reichte Richie die Hand. Richie ergriff die Hand
in die Zukunft und schüttelte sie. „Richard Dorkins ist mein
Name.“ „Nun, Mr. Dorkins. Was kann ich für Sie tun?“ „Nun,
ich wollte einmal ein paar Probeaufnahmen machen. Ich spiele Gitarre
und kann dazu singen.“ „Soso, das können viele. Was spielst
Du denn stilistisch? Country oder mehr Rock'n'Roll?“ Nach einer
unmerklichen Pause fügte er hinzu: „Du bist nicht der einzige,
der es Elvis gleichtun will.“ Sam grinste. Richie war perplex. „Ja,
genau.“ „Nun gut, im Moment suchen wir in der Tat Nachwuchs. Mehr
zur Begleitung, aber wenn Du solo gut genug bist, werden wir sehen,
was sich machen läßt. Mr. Lewis äußerte sich,
daß er einen neuen Bassisten für sein Trio sucht, so um
die Zeit zu überbrücken, bis Brown wieder auf dem Dampfer
ist. J.W. fällt leider für ein paar Wochen aus, gab da
letztens einen Zwischenfall. Vielleicht haben sie Glück."
Zwischenfall? Klang nach Ärger. Ohje, Richie, nur nicht gleich
ganz hoch wollen. „Nun gut, Mr. Dorkins, folgen Sie mir ins Studio.
Ich möchte mal hören, was Sie so zu bieten haben.“ „Ähmm,
was war denn mit Mr. Brown?“ „Jerry Lee und die Jungs hatten nen
schweren Stand beim letzten Gig, da kams zu ner Schlägerei. Das
erzählte mir jedenfalls Judd. Brown haben sie ne Whiskeyflasche
über den Schädel gezogen und Jerry Lee hatte nen Barhocker
im Genick und Russ ein blaues Auge. Jedenfalls meinte Judd, der Ofen
sei aus. Das ist keine schöne Sache. Die Zeit steht auf Sturm.“
Richie konnte sich den Rest ausmalen.



(12)


Er folgte Sam Phillips
durch die Türe ins Studio. Es war schon ein komisches Gefühl
hinter diesem besonderen Mann herzulaufen, aber das war wirklich
nebensächlich. Da war er nun, im legendären Sun Studio. An
der Wand ein Piano, ein Schlagzeug, ein paar Standmikrofone. Hinter
einem Glasfenster jede Menge Mixer und Tonbandgeräte, Kopfhörer,
eine Maschine zum Pressen von Masterplatten. Die Wand war ansonsten
nicht mal allzu sehr gedämmt. Richie
wunderte sich, wie konnte der berühmte Sun Sound in solch einem
eher kleinen und einfachen Studio solch eine Kraft entwickeln?
„Mr. Dorkins, wo ist denn Ihre Gitarre?“ „Tja, ich habe zur
Zeit keine eigene.“ „Na, das haben wir gleich, irgendwo.... Ich
organisiere eine Gitarre für Sie.“ Sam Phillips verließ
das Studio für einen Moment, um dann sofort mit einer
elektrischen Gitarre wiederzukommen. „Die hier ist was besonderes,
stammt von der Ike Turner Band. Der Verstärker war durch nen
Fußtritt beschädigt worden und die Tonabnahme
hatte ne Macke. Wir haben sie im Fundus behalten, funktioniert noch
und für den Moment wirds reichen.“ Sam grinste. Richie war
sprachlos, eine Gitarre mit Geschichte. „Kein Techniker? Ich meine,
für 'ne Aufnahme?“ „Nein, Mr. Dorkins, ich möchte
erstmal nur hören, was Sie mir bieten können. Aufnehmen
geht dann immer noch.“ Richie stöpselte die Gitarre in den
Verstärker, ließ 2 oder 3 Akkorde erklingen und befand die
'besondere' Gitarre für brauchbar. „Worauf warten sie noch?
Nun, Mr. Dorkins, bitte.“


Ein komisches Gefühl
machte sich in ihm breit. Da war er nun. Allein hinter einem
Standmikrofon im Aufnahmeraum eines
legendären Studios. Es war so still. Kaum ein Geräusch
drang von außen in den Raum ein. Es schien, als hätte er
die Isolierung des Studios falsch eingeschätzt. Oder war es nur
die Spannung, die sein Innerstes zum Kochen brachte? Richie rückte
das Mikro zurecht. Dann stimmte er erstmal die Gitarre. Aber das
dauerte garnicht lange. Die Gitarre war schon so gut wie optimal
gestimmt, wenn man das von einem Instrument behaupten wollte, welches
offensichtlich schon einiges mitgemacht hatte. Dann überlegte
er, was er spielen sollte. „Mr. Phillips, was soll ich denn
spielen?“ Jetzt war er ohne Becky, die ihn sonst mit dem Klavier
begleitete. Nun damit mußte er jetzt zurechtkommen. Dann
klirrte plötzlich die Sprechanlage los. Wirklich merkwürdig,
nachdem es praktisch 2 Minuten so gut wie still im Raum gewesen war.
„Ich lasse mich überraschen. Nur zu.“ Der erwartungsvolle
Blick durch das Glasfenster war ein Ansporn. „Keine Ahnung,
vielleicht die 'Ballad of a Teenage Queen' von Johnny Cash.“ „Ok,
wenn Sie dieses Stück können. Um Deine Fähigkeiten zu
hören reichts, aber für eine Aufnahme wäre eigenes
Material gut.“ Richie war etwas unschlüssig, aber die Zweifel
schwanden. „Also dann. 3 .. 2 .. 1 .. los“ Er schluckte noch
einmal. Dann versuchte er seine Umwelt zu vergessen und spielte den
Song. Die Gitarre klang brauchbar, der Sound leicht verzerrt, was dem
Song einen härteren Beat gab. Dabei dachte er nur Becky und
daran, wie er ihr zum ersten Mal dieses Stück vorgespielt hatte.
Becky! Ja, seine Becky, das war das beste, was es gab. Seine Teenage
Queen. Würde sie zu ihm zurückkehren? Wann würde er
sie wiedersehen? Hoffentlich bald. Dann ging der Titel auch schon
seinem Ende zu und der letzte Akkord klang aus. Er hörte nichts,
sah aber, daß Sam Phillips durchaus beeindruckt war. „Mr.
Dorkins, prima, das war richtig gut. Sie haben Talent. Wirklich! Das
läuft ja besser, als ich dachte. Dorkins, ich möchte es
nicht voll versprechen. Mal sehen, was Judd dazu sagt. Aber sieht gut
gut, wir werden Sie wohl unter Vertrag nehmen. Wirklich, Sie sind
spitze. Aber haben Sie vielleicht eigenes Material? Davon würde
ich auch sofort eine Aufnahme machen.“ Schweigen. Richie überlegte,
ja er hatte auch schon mal einen Song selber geschrieben. Zögernd,
stimmte er ein paar Akkorde an. „Tja, ich hab' mal selber was
gedichtet. Ziemlicher Nonsense, ich nenn
das Stück 'The Riddle Raddle Rock'n'Roll'. Aber ich habs noch
nicht wirklich...“ „Lassen Sie hören.“ Richie sah die
Handbewegung, mit der Sam Philipps das Tonbandgerät
einschaltete. Jetzt war er unter Zugzwang. Umso stürmischer
spielte er die Akkorde an und sang „It's the riddle raddle
rock'n'roll...“ Vergessen, was sonst war. Nur spielen, singen, die
Umwelt vergessen. Becky! Spontan wurde sein Rhythmus stürmischer
und die Hand flog über die Saiten. Begleitung wäre gut, da
fehlte ein rollender Bass. Die letzte Strophe ging etwas zu hoch aus
der Gitarre, aber das war ihm egal. Perfektion musste beim ersten
Versuch nicht sein. Der letzte Akkord klang aus.


Ein Knacken kam vom
Tonbandgerät, der Hauptschalter. Sam Phillips sprang begeistert
auf, „Junge, Du hast die Hand eines Schwarzen auf der Bluesgitarre
mit dem Tempo eines Tornados. Deine Emotionen kommen gut durch,
Junge, das ist Rock'n'Roll. Damit kannst Du groß werden! Gleich
nochmal!“

Den ganzen restlichen Tag
machte Richie dann noch Aufnahmen, hauptsächlich von diesem
Stück, aber gegen Schluß landete er doch noch bei 'Johnny
B. Goode' von Chuck Berry. Sam Phillips war nicht völlig
überzeugt, „Cover sind ein zweischneidiges Schwert. Bleib
lieber erstmal bei dem eigenen Stoff.“ Dann warf er die
Mastermaschine an, „Richie, ich spiel den
Riddle Raddle Song auf Platte. Ein Freund von mir ist ein DJ, der
spielt häufig Neuerscheinungen und wenn ich mir anhöre, was
dieses Jahr sonst noch so bringt, dann ist ein klarer Song mit Beat
die Ausnahme. Die Chance, das zu verkaufen wird dann gleich besser.
Die Kids mögen diesen Sound!“ Richie grinste, war er doch ein
gutes Beispiel für die letzte Aussage. „Wenns ankommt, holen
wir die 'Little Green Men' dahinter, dann hast Du ordentliche
Begleitung.“ „Ist das nicht die Band von Billy Lee Riley?“ „Ja,
aber auch die inoffizielle Sun Band.“ Sam strahlte. „Die werden
Deinen Sound unterstützen, glaub mir. Die spielen für jede
Plattenaufnahme, solange ich sie dafür bezahle.“
Schon für die ersten
Aufnahmen erhielt Richie einen Vorschuß von 50 Dollar, „Judd
hätte jetzt was dagegen, aber da Du mittellos bist und ich gut
in die Zukunft sehe, nimm es als Vorschuss auf die Tantiemen.“ Wie
konnte Richie ahnen, daß sich Sam Phillips mit den Platten eine
goldene Nase verdiente, aber selten Anteile auszahlte? Nein, Finanzen
waren nicht sein Ding, aber Richie dachte nur 2 Worte: „Memphis
Tennessee“ Er hatte es geschafft!


(13)


Doch wo blieb Becky? Das
war jetzt die Frage. Würde sie kommen? Hoffentlich, denn wenn
nicht, dann saß er in der Klemme. Er war ja eigentlich mehr
oder weniger für Becky verantwortlich. Er schluckte. Dann
starrte er auf die Gitarre. Sie war gut, aber nicht seine. Jetzt
hatte er Geld in der Tasche. Eine eigene Gitarre musste das
naheliegende Ziel sein, aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? In
Gedanken versunken machte sich Richie auf ins Vergnügungsviertel,
Benny wüsste jetzt wohl 10, ja 20 Dinge, die er tun wollen
würde. Spät am Abend war es ja schon, Hunger hatte er
keinen, aber ein Interesse am Showbusiness, um nicht zu sagen an
einem Auftritt.

Er blieb stehen – am
Straßenrand saß ein schwarzer Mann, nicht mehr der
jüngste, unter dem schwarzen Hut waren graue Haare zu erkennen.
Wache braune Augen musterten Richie. „Na, Kleiner, das ist aber
nicht die richtige Gegend für Dich.“ Richies Augen wanderten.
Ein einfacher Anzug, braunes Jackett, schwarze Cordhose, ein
Gitarrenkoffer aufgeklappt, die Gitarre in
den Händen. Ein paar gezupfte Akkorde, ein Blick unter dem Hut
hervor. Richie durchfuhr ein Schlag, wie als hätte das Schicksal
zugeschlagen und er hätte die Kontrolle darüber verloren.
„Mister, spielen Sie für mich.“ Fast flehend sah er den
Unbekannten an. „Deswegen sitze ich hier.“ und stimmte einen
klagenden Blues an. „Baby, Let Me Call Your Name!“ Die Stimme war
klar, der Griff fest. Musikalisch schien der Unbekannte gut zu sein.
Klagende Verse, von einem schönen jungen Mädchen, einer
unbeantworteten Liebe, einem Rivalen, der sein Glück mit ihr
machte und von der Depression und dem Blues, den das auslöste.
Richie war verzückt, welche Emotionen, welche Ausdruckskraft,
welche Energie. Das war nicht nur ein Song, das war in Noten und Text
gefaßte Emotion. Der Schwarze endete mit einem klagenden „..and
I'll never see her face again.“ Beide schwiegen, Richie wußte
keine Antwort. Aber seine Augen leuchteten wie Feuer. „Ein
wunderbarer Song, so emotionell und .... ehrlich!“ Der Schwarze
lächelte, „Das ist die Geschichte eines alten Freundes von
mir. Es ist lange Jahre her und er hat sich daran kaputt gemacht. Er
starb auf der Straße, in der Hand eine Flasche Whiskey. Er hat
sich zu Tode gesoffen, weil ihn die Selbstvorwürfe und
Depressionen in den Wahnsinn getrieben haben.“ Richie stockte.
„Eine wahre Geschichte?“ „Ja, so wahr wie das Licht am Himmel
und so wahr wie die Auferstehung unseres Herrn!“ „Wundervoll, ich
weiß kaum, was ich sagen soll. Ich spiele selber Gitarre und
singe. Aber bislang habe ich nur selten ein Stück mit einer
solchen Energie und brillianten Ausdruckskraft gehört.“ Nach
einer Pause: „Wie heißt Du eigentlich?“ Der emotionale
Schub des Songs ließ Richie spontan vertraulich werden. „Ich
bin Bill Parker. Auch bekannt als Restless Bill, ich singe für
ein paar Kröten, aber es macht Spaß.“ „Ich bin Richie,
eigentlich Richard Dorkins, aber meine Freunde nennen mich Richie.“
„Alleine unterwegs? Hier und um diese Uhrzeit?“ Zurück zum
Thema, anders konnte man diesen Gesprächsfetzen
nicht deuten. „Auf der Suche...“ Richies Worte erstarben.
Was suchte er eigentlich? Hier? Gegenüber eine trübe
Laterne, aus einem nahen Bordell Lärm, auf der Straße
Abfall. „Du kannst spielen, Junge? Spiel!“ Restless Bill reichte
die Gitarre rüber. „Laß hören Junge und spiele! Laß
es raus, singe über das, was Dich bewegt.“ Und Richie sang,
ein unbekanntes Stück, spontan aus der Situation. Becky, wann
würde er sie wiedersehen? Würde sie da sein? Der letzte Ton
erstarb, Richie schluckte. „Danke Bill,
ich suche .. ich suche eine Gitarre.“ „Das ist doch etwas, das
ist ein Ziel. Aber höre, eine gute Gitarre ist wie eine
begehrenswerte Lady. Du streichst über ihre Saiten, liebst ihre
Stimme und willst sie niemals aus der Hand geben. Hast du einmal eine
gefunden, so mußt Du eine Beziehung aufbauen, sie hegen und
pflegen, dann wird sie dein. Für immer – und sie wird Dich
begleiten, bis in den Tod. Sieh her, dieses Stück habe ich vor
über 50 Jahren für 2 Dollar erstanden. Ich habe lange
gespart, aber mit Musik geht die Arbeit leichter. Damals war ich noch
ein Junge, so wie Du. Begrabe niemals die Hoffnung und denke daran,
die Musik macht es leichter.“ Die Gitarre gab wieder klagende Töne
von sich, Bill war gut, keine Frage und er spielte spontan einen
instrumentellen Blues, klagend und emotionell. Richie war fasziniert.
„Bill, wo kann man hier eine Gitarre bekommen?“ Seine Augen
flackerten vor Ungeduld und Hoffnung. „Hier? Mein Sohn, das ist
schwierig. Aber Du hast Glück. Keine 2 Straßen von hier
hat Buck seinen Laden. Ein Trödelladen und Pfandhaus, aber er
sollte etwas für Dich haben. Er hat immer alten Krempel von
Leuten, die schnell Geld brauchten. So Mancher lässt dann auch
mal sein geliebtes Instrument dran glauben. Vor den elementaren
Bedürfnissen muß halt der Wunsch nach Musik zurückstehen.“
„Bill, ich...“ „Kein Wort, mein Sohn. Sieh her, Dir gefällt
dieser Song, nicht wahr? Du hast Talent, das habe ich eben gesehen.
Du kannst es lernen.“ Und so lernte Richie einen Blues, den er sein
Leben nicht vergessen würde. „Baby, Let Me Call Your Name!“
und er fühlte mit dem unglücklichen Tor, dem der Schnaps
einen Gehirnschlag verpaßt hatte und damit seinem Kummer ein
Ende setzte.


Richie wachte auf. Ein
Hotelzimmer! Dunkel erinnerte er sich, wie er nach der
schicksalhaften Begegnung mit Restless Bill ein Hotel gesucht hatte.
Die Gitarre! Nichts wie los und eine organisiert. Der Weg ins
Rotlichtviertel war nicht weit, da war auch das Pfandhaus. Zögernd
trat er durch die Türe. Schaukästen und Regale, Uhren,
Schmuck, Waffen, ein Radio, ein Plattenspieler und Unmengen anderer
Trödel. Buck, der Inhaber, schaute ihn fragend an. Eine Gitarre?
Ja, natürlich habe er eine Gitarre da. „Aber ohne Verstärker.“
Richie griff die Gitarre, honigfarben mit einem Siegel auf dem
Deckholz und einer hübschen Verzierung. „Ein schönes
Stück.. aber warum Verstärker? Die hier ist doch
akustisch.“ Ein fragender Blick, doch Buck grinste nur. „Schau am
unteren Ende.“ Tatsächlich eine Buchse. „Der Vorbesitzer
wollte wohl auch mal mit Druck spielen, da hat er sich nen
Tonabnehmer dran montiert. Habe halt nur keinen Verstärker.“
Richie spielte eine Handvoll Akkorde. „Sie klingt gut. Wieviel?“
„5 Dollar!“ Richie ahnte nicht, was Buck damit für ein
Geschäft machte, denn die Gitarre war für lächerliche
30 Cent getauscht worden. „Geht in Ordnung!“ Geschäftig
kramte er 5 Dollarnoten aus seinem Fundus. Buck grinste. „War
schön, mit Dir Geschäfte zu machen. Darf es sonst noch
etwas sein? Vielleicht ein Colt? Oder eine Uhr?“ „Nein, danke.
Wirklich, vielen Dank, aber das ist....“ Das Klingeln der Tür
klang weich und entfernt in Richies Ohren. Eine Gitarre, seine
Gitarre!
Plötzlich
quietschende Reifen und ein Rumpeln, als hätte jemand einen Sack
Kartoffeln umgefahren. Richie drehte sich um. Ein Lieferwagen hielt.
Der schweißgebadete Fahrer stolperte aus dem Fahrerhaus, einen
halben Meter vor dem Kühler ein Mann verkrümmt am Boden,
Hut und dunkler Anzug, hölzerne Splitter um sich. Ein kalter
Schauer fuhr Richie den Rücken herunter. Den Mann kannte er
doch, das war doch ... Bill. „Bill!“ Er schrie es vor lauter
Schmerz und Schock über die Straße. Ja, es war Bill.
Restless Bill war tot, beim Überqueren der Straße von
einem Gemüsehändler überfahren. Die Gitarre vom Fall
zerschmettert und ein Ausdruck voller Entsetzen und Schock in den
weit offenen Augen. Fassungslos sank Richie zu Boden. Ihm wurde
schwarz vor Augen.


Kaum aus der Ohnmacht
erwacht, machte er sich auf den Weg ins Hotel. Betäubt lies er
die vergangene Szene Revue passieren. Der Tod eines Menschen konnte
einem spontan soviel bedeuten. Alleine die Tatsache der kaum
vergangenen Begegnung ließ solche Gefühle aufwallen. Die
Verbindung von Emotionen aus dem Song und der plötzliche Tod war
zuviel. „Singe über das, was Dich bewegt!“ Fast wie ein
Flüstern klang die Erinnerung in seinen Ohren. Seine Gitarre!
Würde diese irgendwann mal mit Becky am Klavier gleichzeitig
erklingen? Ja, hoffentlich. Er starrte an die Decke des Motelzimmers.
Er konnte nicht einschlafen. Nein, nicht nachdenken, singen! Und er
stimmte ein Stück an, aber in Gedanken konnte er sich nicht auf
eine Melodie konzentrieren. Spontan und ohne Nachdenken ließ er
die Noten erklingen und seine traurigen Akkorde füllten den
Raum. Und die Musik machte es leichter, „Streichle die Gitarre wie
Du eine Frau streicheln würdest. Behandele sie wie die Madonna
und sie wird Dir ewig danken.“ Als würde der Geist von
Restless Bill anwesend sein, fast, als würde er sich
manifestieren und Richie weitere Ratschläge geben, als wäre
er immer noch da.
Langsam aber sicher kam
er auf andere Gedanken. Der Vortag war sehr erfolgreich gewesen.
Schließlich hatte ihn Sam Phillips talentiert genannt und ihm
sogar einen Vertrag versprochen. Er war noch nicht müde, aber
praktisch hatte er den halben Tag nur Gitarre gespielt und gesungen.
Das war zuviel, um verarbeitet zu werden, wenn man es mit dem
plötzlichen Tod von Bill verband. Er würde den Song
bringen, das war er Bill schuldig. Ein Anfang, denn irgendwann würde
er auch mal eine eigene Komposition spielen müssen. Der Riddle
Raddle Song war nichts besonderes. Ansonsten würde er nur im
Schatten der großen Stars bleiben, jedenfalls solange er keine
eigenen Hits produzierte. Morgen würde er wahrscheinlich einen
Plattenvertrag oder etwas ähnliches
abschließen. Fest hoffte er darauf, denn lange würde der
Vorschuss von Sam nicht langen. Ein Plattenvertrag! Mit dem Mann, der
schon Elvis, Carl Perkins, den 'Killer' Jerry Lee Lewis und Johnny
Cash entdeckt hatte. Sun Records, das war die Firma hier in Memphis.
Memphis, die Stadt der Musik.


Doch irgendwann schlief
Richie ein. Der Wecker würde gegen 8 Uhr klingeln, um ihn zu
wecken. Um 9 hatte er die nächste Aufnahmesession
vereinbart. Und Schlaf war das, wonach Richies Körper lechzte.
Mit einem lauten Weckerklingeln wachte er auf. Brr, er hatte schlecht
geschlafen, die Sache mit Bill ging ihm deutlich sehr nahe, trotz
einer beginnenden Karriere. Naja, ob es eine Karriere würde, das
würde sich noch zeigen. Aber der Ansatz, der Grundstein war
gelegt. Und einen Lehrer, denn nichts anderes war Bill für ihn
gewesen, in der kurzen Zeitspanne, die er ihn gekannt hatte, hatte er
auch gehabt. Er hatte noch Zeit, also stimmte er kurz seine Gitarre.
Obwohl sie gebraucht war, war sie gut erhalten. Gleich nach dem
Stimmen spielte er schon mal auf Vorrat, auch ohne Aufnahme. Es war
eine gute Übung. Doch dann packte er alles zusammen. Er wollte
noch kurz etwas essen gehen. Irgendwo würde es wohl auf dem
kurzen Weg zum Studio einen Burgerladen oder ein ähnliches Lokal
geben. Sein Magen meldete sich. Ja, erst etwas essen. Es war viertel
vor neun. Viel Zeit blieb nicht. Das Lokal war eine kleine Bar. Es
gab allerdings auch Sandwiches, Kaffee und Donuts. Also eigentlich
alles, was das Herz, bzw. der Magen begehrt, am Morgen jedenfalls. Er
bestellte sich ein kurzes Frühstück. Da es einige Minuten
dauerte, der Kaffee wurde frisch gebrüht, stellte er die
Musikbox an. Und nur weil er schon seit dem Aufstehen an Becky
dachte, wählte er 'Shake, Rattle & Roll' von Bill Haley. Er
seufzte, dann aß er seine Sandwiches. Sogar der Kaffee war gut,
selten in einem Lokal, wie diesem. Hinter dem Tresen hing ein
Familienfoto des Besitzers. Er hatte wohl eine Tochter wie Becky.
Ähnlich hübsch war sie jedenfalls. Er prostete dem
unbekannten Mädchen auf dem Bild zu. Tja, wann seh ich dich wohl
wieder? Oh, Becky, ich vermisse Dich.


Kurz vor neun, Zeit zum
Studio zu gehen. Während er das Lokal verließ, bemerkte
er, daß es zwei Ausgänge hatte. Er verließ es zur
Hauptstraße hin, wo er hineingekommen war. In dem Moment, wo er
das Lokal verließ, trat Becky am anderen Ende hinein. Sie
hatten sich um eine halbe Minute, nicht mal ganz, verpaßt. Tja,
Richie, Pech gehabt.
Im Laufschritt rannte er
zum Studio. Auf die Tür und schon weiter. Aber die nette
Empfangsdame rief etwas. Er hielt an und drehte sich um. „Ja?“
„Mr. Phillips wartet schon im Studio. Sie sind spät dran,
Dorkins.“ „Jawohl.“ Er beeilte sich. Er kannte ja den Weg. Mit
Schwung platzte er in den Raum hinein. „Guten Morgen, entschuldigen
Sie bitte mein spätes Erscheinen, aber ich bin nicht
motorisiert.“ Sam und ein Aufnahmetechniker
warteten schon. Mann, der sah aber sehr ungeduldig aus. Aber zum
Glück sagte Sam nur: „Komm, Dorkins, es geht los.“ Und
wieder in der Aufnahmekabine. Ruhig, wie am Vortag. Er klimperte ein
paar Akkorde, nur um sich zu überzeugen, daß die Gitarre
immer noch gestimmt war. Dann ging das alte Lied los. Er spielte wie
ein Verrückter. Dabei dachte er immer nur an Becky. Er begann
sie mehr als zu vermissen. Aber in diesem Seelenzustand ging zum
Glück das Singen sehr gut. Richie war froh. Sam stellte keine
Forderungen, das Tonbandgerät lief und schnitt mit. Alles, was
er sang. Den Riddle Raddle Song, die Ballad und auch den neuen Blues.
„Der ist neu.“ Fast 2 Stunden nach Sitzungsbeginn
sagte Sam endlich etwas. „Ein wunderbares Stück mit einer
schwarzen Seele. Haben Sie das geschrieben?“ „Nein, ein Freund
von mir hat mir diesen Song vor 2 Tagen gezeigt. Er ist ...“
Richies Stimme erstarb. Doch mit einem gezögerten „...
verstorben.“ beendete er den Satz. Sam Phillips zog die Augenbrauen
hoch. „Mir ist das Stück unbekannt. Hat das schon jemand...“
„Nein, Bill spielte nicht, um Aufnahmen zu machen.“ „Dann haben
wir ne B-Seite für den Riddle Raddle Song. Es ist schön,
wenn die Energie des Rock'n'Roll mit Emotionen verbunden werden
können. Spielen Sies nochmal.“ Und Richie spielte, je öfter
er den Song spielte, desto mehr gefiel er ihm. Er beobachtete, wie
Judd Philipps das Studio betrat, und sich kurz mit Sam unterhielt.
Sam unterbrach die Sitzung. Judd nickte anerkennend. „Das lässt
sich verkaufen!“ Sam blickte auf. „Kurze Pause, Dorkins.“
Richie hatte nun schon mehr als drei Stunden gespielt. Er war recht
froh darüber. Erstmal die Hände ausruhen. „Dorkins, ich
habe gleich ein Gespräch mit Mr. Lewis. Sie können erstmal
pausieren. Bleiben sie in der Nähe, ich lasse Ihnen Bescheid
sagen, wenn wir weitermachen können." So, jetzt erstmal
längere Pause. Er verließ erstmal den Aufnahmeraum. Etwas
unschlüssig stand er am Technikpult. Nur das schwarze Klavier an
der Wand, das stand dort, als würde es auf seinen Meister
warten, den 'Killer'. Aber der war im Nebenraum mit Sam und Judd. Und
der Ton, welcher durch die Tür drang, war nicht gerade
freundlich. Dicke Luft. Richie beobachtete den Aufnahmetechniker. Der
überprüfte noch einmal das Band mit den letzten Aufnahmen.
Dann hörte er Geräusche, draußen im Vorzimmer. Mit
einem lauten Knacken sprang die Tür auf. Ihm fielen die Augen
aus dem Kopf. Dann sprang er ihr an den Hals und küsste sie
innig. Es war Becky!


(14)


„Becky! Liebste, wie
habe ich Dich vermißt!“ „Richie, was bin ich froh, Dich zu
sehen." Die Wiedersehensfreude war gigantisch.
Keiner von beiden sprach
auch nur irgendeinen Ton. Sie umarmtem sich nur, überglücklich,
sich wieder zu sehen. Und das beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit.
Der Tontechniker stand nur daneben. Er freute sich für beide. Er
kannte zwar ihre Geschichte nicht, aber anscheinend liebten sich die
beiden wie niemand anders. Und wieder küssten
sie sich. Was für ein Glück! Sie hatten sich
wiedergefunden. Im Moment interessierte sich auch keiner für die
Geschichte des anderen. Wichtig war nur die Wiedervereinigung. Die
Trennung war zu einschneidend und vielleicht unnötig gewesen,
aber sie verstärkte umso mehr, was zwischen den beiden war.


„Oh, Becky. Laß
mich für Dich spielen. Wie schon den ganzen Morgen.“ Er schloß
die Tür zum Aufnahmeraum. Dann griff er wieder die Gitarre und
legte erneut los. Wie schon die Stunden vorher, spielte er die
'Ballad of a Teenage Queen'. Die lief ja schon von ganz alleine. Noch
während die letzten Akkorde ausklangen, beschloß er gleich
einen anderen Titel zu spielen. Dann spielte er den neuen Blues. Sein
einziger Gedanke war: „Gott, laß mich niemals in diese
Situation kommen. Der Schmerz wäre zu groß!“ Becky
kannte den Song nicht, aber ihre Augen drückten Anteilnahme,
Erstaunen und Verständnis aus. „Den Song habe ich von einem
guten Freund gelernt – und ich mache ihn zu einem Hit.“ Richie
nutzte praktisch seine ganze Pause dazu, für Becky ein
Privatkonzert zu geben. Er merkte also auch
nicht, daß sich die Tür zu Sams Büro öffnete.
Becky hörte seine Musik durch die Kopfhörer des
Tontechnikers. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung. So sah sie auch
nicht, wer gerade den Raum betrat. Auch Richie sah nicht hin. Er
starrte nur auf Becky. Er konnte nicht den Blick von ihr lassen. Sie
war so ... so perfekt ... so hübsch. Kurz, beide merkten nicht,
daß gerade der Virtuose des Rock'n'Roll Piano, der 'Killer'
Jerry Lee Lewis, den Raum betrat. Die Aussprache mit Sam und Judd war
wohl beendet. Richie beendete gerade den seinen letzten Song für
Becky. Er hatte sich an 'Peggy Sue' versucht. Dabei hatte er einmal
kurz an Peggy Sue in St. Louis gedacht. Aber jetzt war Becky da. Er
löste den Blick von ihr. Jetzt erst merkte er, wer noch im Raum
war. Ihm gefror beinahe das Blut in den Adern. Da stand er, keine 3
Meter von ihm weg, nur eine Armlänge weg von Becky. Blonde
Locken nach hinten gekämmt, ein bemerkenswert charismatischer
Blick im Gesicht. Der 'Killer', Jerry Lee Lewis, er, der größte
Rock'n'Roll-Musiker, der das Klavier so genial bearbeiten konnte und
der erst wenige Monate zuvor schmählich abgesägt worden
war. Sein Gesichtsausdruck zeigte Freude. Becky schien ihn noch nicht
bemerkt zu haben, sie blickte nur ihn, Richie an. Er mußte
einen bescheuerten Anblick bieten. Verdattert, unfähig, sich zu
bewegen, die Gitarre in den Händen. Er spürte, daß er
vor Aufregung schwitzte. Nur keine Eile, dachte er sich, als er die
Gitarre abstellte und dann ohne Hast die Aufnahmekabine
verließ. Da stand er nun, keinen Ton herausbringend. Becky
blickte ihn erstaunt an. Da merkte sie erst, daß er nicht sie
anstarrte. Sie drehte sich um. Bei diesem Anblick wurde sie
ohnmächtig. Richie grinste plötzlich. Er mußte
einfach. Da stand er, seine Liebste ohnmächtig und keinen Meter
dahinter einer der größten Musiker aller Zeiten und er
mußte grinsen. Faß dich, Richie, dachte er. Immer noch
sprach keiner der Anwesenden. Dann reagierte der 'Killer'. Er beugte
sich über Becky. Dann blickte er etwas erstaunt auf. „Hallo,
mein Name ist Jerry Lee Lewis.“ Der Südstaatenakzent
war unüberhörbar. Er grinste wieder. „Freut mich, Mr. „
'Killer' ging durch sein Hirn, aber dann beendete er den Satz. „Mr.
Lewis. Richard Dorkins.“ Sie schüttelten sich herzlich die
Hände, um sich dann um Becky zu kümmern. „Heute werden
die Frauen bei meinem Anblick nicht mehr hysterisch.“ Ein Schatten
in den Augen. Richie konnte nur mutmaßen, was diese Reaktion
bedeutete. Doch da wachte Becky schon aus der Ohnmacht auf. Sie mußte
sich setzen. Das mußte alles erstmal verarbeitet werden.


Etwa 3 Minuten hatten sie
nur so dagesessen, ohne einen weiteren Ton zu sprechen. Doch dann
begann er, der 'Killer': „Du spielst sehr talentiert.“ „Wenn
Sie das sagen, dann ... „ Er beendete den Satz nicht. „Kannst
mich Duzen, nenn mich Jerry. Sun ist wie eine Familie.“ „Aber
gerne, kannst mich Richie nennen.“ „Ich komm gerade von Sam. Ich
suche ja einen begleitenden Gitarristen, mehr Bass um genau zu sein.
Jay hats ja erwischt.“ Kurzes Schweigen. „Sam schlug mir vor,
Dich zu nehmen. Ich wollte Dich erstmal Probe hören, aber schon
5 Minuten haben mich überzeugt. Ein sehr gefühlvoller Song.
Ich liebe diese traurigen Balladen.“ Richie wußte keine
Antwort. Da saß er, es hatte ihm die Sprache regelrecht
verschlagen. Da war er mit dem 'Killer' höchstpersönlich
auf Du und ihm wurde angeboten, mit einem seiner Idole zu spielen
und er, er, Richard Dorkins junior konnte keinen Ton herausbringen.
Jetzt mußte er sich fassen. Er mußte einfach. „Ich
denke, ich ...“" Wieder zögerte er. „Ich ... oh, ich
... bin irgendwie ... durcheinander. Sehr gerne, aber ...“ Er
zögerte nochmals. Das war irgendwie zuviel, so insgesamt
gesehen. Dann wurde die Welt schwarz. Richie wurde ohnmächtig
und kippte um.


(15)


Dann wachte er auf. Er
wußte nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war, aber
vermutlich nicht zu lange. Sam Phillips war inzwischen eingetreten.
„Mr. Dorkins. Darf ich vorstellen, Mr. Jerry Lee Lewis.“ „Danke,
aber wir kennen uns schon." sprang der 'Killer' ein. „So? Und
wie sieht es aus? Spielt Dorkins für Sie?“ „Ich weiß
es noch nicht.“ Dabei grinste er Richie zu. Richie mußte sich
fassen. „Doch, doch, ich spiele für Mr. Lewis.“ Sam nickte.
„Dann ist ja alles geregelt. Machen sie das Weitere unter sich aus.
Dorkins, über Ihr Honorar für die Aufnahmen reden wir
später. Ich habe für morgen eine Session geplant. Roland
Janes und Jimmy van Eaton kommen sicher, Riley wusste noch nicht, ob
er kommt. Ich überwache die ganze Session selber, Jack Clement
ist unterwegs und es bietet sich an, die Sache schnell
abzuschließen.“ Jerry Lee zog die Augenbrauen hoch. „Was
steht an?“ „Unser Richie hier nimmt morgen mit Rileys Band seine
Platte auf.“ Kurzes Schweigen folgte. Dann wandte Sam sich wieder
dem 'Killer' zu. „Für den restlichen Tag haben sie beide freie
Verfügung über das Aufnahmestudio. Jammen
sie etwas, sonst gibts wohlmöglich noch Krach. Machen sie ein
paar Aufnahmen. Nur damit ich hören kann, daß sie auch
beide miteinander spielen können. Judd wird vielleicht später
vorbeischauen.“ „Mr. Phillips, wir werden sehen, was wir tun
können.“ Dieser nickte befriedigt, dann verließ er den
Raum. Becky hatte er garnicht weiter beachtet. Anscheinend hatte er
gemerkt, daß Richie und sie zusammengehörten.


Da war Richie nun. Im
Aufnahmestudio bei Sun Records. Becky stand am Mischpult, einen
Kopfhörer übergestülpt, ein Tontechniker daneben.
Richie stand hier mit seiner Gitarre. Man konnte meinen, leicht
belämmert, nicht ganz bei der Sache.. Neben ihm, vielleicht zwei
Meter stand das große schwarze Klavier. Davor saß der
Meister, der 'Killer' Jerry Lee Lewis. „Richie, was spielen wir? Na
am besten, einfach drauf los.“ „Ich weiß nicht so recht,
ich kann einige bekanntere Titel. Ich kann 'Johnny B. Goode' recht
gut.“ „Später, Richie.“ Und die linke Hand lief los, eine
simple Bassline, immer 4 Takte, klar und hart. „Fühl den
Rhythmus. Hier hör das, wenn Du dem folgen kannst und die
Melodie auf einen Wink übernehmen kannst und zurück gibst,
dann gehts wie von selbst.“ Richie schmunzelte. Jetzt war er der
Sideman, also erstmal den Bass erweitern,
seine Gitarre stimmte ein. Oft hatte er Platten schon direkt
begleitet, aber so live und dazu ein unbekanntes Stück. Richie
schloss die Augen und lies sich voll auf die Musik ein. Noch war das
Tempo normal, aber klar akzentuiert, jetzt setzte die rechte Hand
ein. Schlagartig wurde Richie klar, das Klavier war zwei Instrumente
in einem, die Hände unabhängig. Ein Glissando, „Richie,
lass es rocken!“ Die Linke wieder im Bass, rollend und hart.
Spontan stimmte Richie ein, übernahm die Melodie auf der
Gitarre, ging etwas höher, wieder etwas tiefer. „Piano time –
gib mir Bass, Richie!“ Der Wechsel von Melodie auf Bass fiel Richie
schwer, er verhaspelte sich, das hatte er bislang selten gemacht.
Üben, üben. Er biß die Zähne zusammen. Aber den
Killer störte das nicht, er steigerte sein Tempo für einen
Augenblick und beendete die spontane Nummer mit einem tiefen
Doppelakkord. „Das lief doch gut, du bist nur nervös.“ „Ich
fühl mich etwas fehl am Platz, um ehrlich zu sein.“ „Das
geht schon.“ Sofort füllten wieder Pianotakte das Studio,
nicht schnell, ein gutes Intro. Dann sang der Killer los:


„Well, who's that guy
you been seein' most every dayHe shouldn't be allowed to come and
take my baby away...“


Eine Countryballade
und keine schlechte. Richie war das Stück unbekannt und er
lauschte fasziniert der Vielseitigkeit dieses begnadeten Pianisten.
„Wie heißt das Stück?“ Jerry Lee drehte den Kopf, die
blonden Locken fielen in die Stirn. „Break Up! Charlie Rich hat das
geschrieben. Brandneu und noch nicht draußen.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich werde bald eine
Platte davon machen, Sam meinte, das könnte etwas werden.“
Richie blickte zu Becky hinüber, sie lächelte und schien
fasziniert. „Also Richie, du wolltest Chuck Berry. Den steck ich in
die Tasche, mit links.“ Ohne Arroganz schien wohl kein Musiker
auszukommen. „Ok, Jerry. Ich bin bereit.“ „Drei, zwo, eins und
los.“ Er stutzte einen Moment. Der 'Killer' spielte noch nicht.
Naja, Gitarrenintro, also was solls. Nun
gut. Richie legte los. Kurz darauf begann auch der 'Killer'. Das
klang natürlich ganz anders, als wenn Becky spielte. Aber jetzt
mußte er nur Gitarre spielen, das Singen überließ er
dem 'Killer'. Das war unbestreitbar sein Metier. Bei diesem Song
fiel auf, daß der 'Killer' darauf verzichtete seine röhrende
Stimme zu verwenden. Sie kamen sich regelmäßig ins Gehege,
denn obwohl Richie eindeutig das Intro spielen sollte, spielte der
'Killer' Lead. Genervt drehte er sich um. „Richie, ich brauch
Unterstützung, die Arbeit mache ich.“ Richie riß sich
zusammen, das Geld, welches am Ende stehen sollte, brauchte er
dringend. Mit Hängen und Würgen spielten sie den Song zu
ende. „Gleich nochmal, das funktioniert schon.“ Diesmal
ohne Gitarrenintro, die Adaption auf Klavier klang interessant,
spontan, und echt. Richie legte sich ins Zeug, nachspielen,
begleiten. Ohne Probleme diesmal, er lernte schnell. „Richie, das
lief ja sehr gut.“ „Danke!“ Er zögerte, wollte etwas
hinzufügen. Doch dazu blieb keine Zeit. Jerry Lee lächelte.
"Nochmal? Oder diesmal was anderes?" Richie überlegte
kurz. Was konnte er spielen, was war gut? Er blickte auf. Becky
schien etwas sagen zu wollen. „Oh, Richie, spielt unser Lied. Ich
wollte es schon immer mal von jemand anders hören.“ „Welches
Lied?“ Jerry wollte es wissen. „'Shake, Rattle & Roll' von
Bill Haley. Ich habe aber nicht ... ich meine ... ich kann es nicht
spielen.“ „Das bekommen wir hin. Ich fand das Stück damals
recht interessant, als ich es das erste Mal hörte. Die Gitarre
ist recht einfach. Ich habe es selbst noch nicht probiert, aufs
Klavier zu adaptieren, aber mal schauen." Richie blickte zu
Becky. Der bittenden Blick in ihren wunderschönen Augen war
nicht zu übersehen. Ein Grinsen fuhr über des Killers
Gesicht, die Locken in den Nacken. „Deiner Freundin scheint es zu
gefallen. Komm, irgendwann ist immer das erste Mal.“ „Ok, du bist
der Boß.“ Der grinste. „Nun denn, dann mal los.“ Drei
Akkorde am Klavier, die rollende Linke, die springende Rechte. Richie
konnte kaum folgen. Tanzen, Rhythmus, Beat dachte er noch. Dann
klimperte er los, ließ die Finger über die Gitarre gleiten
und spielte eine monotone, nahezu simpele Begleitmelodie. Lief gut.
Noch nie den Song selber gespielt, daher hatte Richie keine Probleme
in der Begleitung zu bleiben. Ausklingende Akkorde, schon fertig.
Becky klatschte Beifall. Es hatte ihr wahnsinnig gefallen.“ „Nun
mal was anderes, wird Zeit, daß wir was für die Show
machen.“ Jerry zögerte. „Kannst Du mich zu 'Great Balls of
Fire' begleiten?“ „Ich kann ... es mal probieren.“ Zögern,
kurze Verwunderung. „Keine Sorge, Dein Part ist einfach. Das Stück
geht auch mit 2 Mann. Bleib im Takt und in der Begleitung. Achte auf
meine Linke und pass Dich an.“ Ein Schlucken, Richie hatte
eindeutig Angst. Oder Streß? Er wusste es nicht. „Nervös,
Richie? Das legt sich. Ok, 'Great Balls of Fire', Feuer am Himmel und
... in den Eiern.“ Der Killer ließ ein nahezu diabolisches
Lachen folgen, dann spielte die Linke los. Die Wände wackelten
unter der Energie, die der Song entfesselte. Richie konnte nur
staunen, die Gitarre blieb still, während das Klavier unter den
Tasten zu bocken und hüpfen, ja stampfen schien. Doch nach nur
10 Zeilen ein abrupter Stop. „Was ist los, Richie? Spiel, denk an
Deine Kleine, laß Dich auf den Song ein und die Erde wird
erbeben. Gleich nochmal.“ Dann legte er los. Diesmal mit
einer röhrenden Stimme und einem heißen Pianobeat
spielte er, wieder schien das Klavier zu springen. Richie versuchte
sein bestes. Es war doch sehr improvisiert, jedenfalls das, was er
spielte. Aber er folgte dem Rat, ließ sich auf den Song ein,
ließ die Ekstase und Energie in die
Finger gleiten, eine alternative Begleitfigur,
spontan und neu, erdacht ohne Nachdenken, spontane Anpassung.
So ging der Tag zu ende.
Sie spielten wie die Wilden. Alles lief perfekt. Judd Phillips
tauchte später noch auf, beobachtete das ungewöhnliche Duo
und nickte befriedigt. Vielleicht würde der nächste Gig
nicht ganz so desaströs enden? Richie
fiel es sogar leichter nur Gitarre zu spielen, Gesang und Begleitung
zu reduzieren. Es war schon schwerer zu spielen und gleichzeitig zu
singen. Aber schließlich war der 'Killer' ein Naturtalent. Der
konnte beides: Klavier spielen in seinem eigenen, wilden Stil, eine
vielseitige und einzigartige Mischung aus Honky-Tonk, Boogie-Woogie
und Gospel. Und dazu singen konnte er, wie ein Meister, mal sanft und
schmeichelnd, aber dann wild und hart, wie ein Hurrikane, dann wieder
lustig und verspielt, mal vor Schmerz und Trauer klagend, dann wieder
rockend. Ja, Richie hatte es geschafft. Die Spontanität und das
Vergnügen an der Musik hatte zu einer erquicklichen Session
geführt, das würde auf der Bühne auch klappen. Mit
diesem Gedanken schlief Richie ein, neben sich Becky im Bett.


Er wachte auf. Die Sonne
war schon aufgegangen. Im Innenhof des Hotels zwitscherten ein paar
Vögel, von der Straße hörte er ein paar Wagen, wohl
Lieferwagen und die Post. Die ersten warmen Strahlen fielen durch die
Vorhänge. Dabei beleuchteten sie Becky. Sie sah so süß
aus. Ob sie irgendwann doch noch wollte? Zwar war er im Moment
wahrscheinlich sehr ausgebucht, aber für die körperlichen
Freuden der Liebe würde er wohl noch Zeit haben. Er streckte
sich, dann gähnte er laut. Er kratzte sich. Dann streichelte er
Becky zärtlich. Sie schnurrte dabei wie eine Katze. Dann gähnte
sie ebenfalls. Sie schien wach zu sein. Mit einem Lächeln drehte
sie sich um. „Oh, Richie. Ich glaube, ich ...“ Sie verstummte,
dann lächelte sie wieder. Sie küsste ihn zärtlich,
dann zog sie ihm vorsichtig die Unterhose runter. Er grinste und warf
sich auf sie. Mit einem Schnappen öffnete sich ihr BH. Und
wieder ging das alte Spiel los, nur das diesmal das Ende gigantischer
war. Wie ein Tropensturm fuhr er über
Becky hinweg, Anspannung, Erinnerung und Zweifel vergessend. Er
spürte sämtliche Adern und Arterien, als würde ein
eiskalter Schauer mit der Gewalt eines Dammbruchs durch ihn
hindurchfahren. Becky Poren dufteten nach Moschus, ihre Hüften
zuckten vor Energie, die Augen geschlossen, sich treiben lassend. Er
fühlte, wie sie die Welt vergaß. Man konnte dabei die
gesamte Umwelt einfach vergessen, nur Konzentration auf den Partner,
auf Becky und ihre unbeschreibliche Schönheit. Das war das
einzige, was zählte. Nicht einmal der härteste Song kam
Nahe an das heran, alles farblose Gefühlsbeschreibungen,
vielleicht inspiriert, aber niemals getoppt.


(16)


„Hi Jerry, ich bin
wieder hier.“ Richie betrat das Studio mit ungewohntem Elan. Leicht
verspätet, verstrubbelt, eine selige
Becky hinter sich, kein Wunder, wenn man die vergangenen Stunden
bedachte. „Guten Morgen, Richie. Ich warte hier schon seit einer
Stunde auf Dich.“ Der Blick in den Augen war geradeaus und
fordernd. Charisma hatte dieser blonde Klavierspieler, Richie staunte
immer wieder darüber. „Tut mir leid, mir kam ...“ Richie
zögerte wieder. „...etwas dazwischen.“ Er deutete eine
Handbewegung an und wies mit einer Kopfbewegung nach Becky. Der
'Killer' verstand sofort. Er grinste. „Einen Treffer gelandet?“
Richie grinste. „Ja, aber jetzt...“ „Keine Sorge, ich muss nur
gleich los. Mr. Phillips ist im Büro und die Band taucht wohl
bald auf. Ich habe es mir überlegt, Du bist gut genug als Ersatz
für Jay. Bis heute abend dann, wir sehen uns.“ Ein Griff nach
dem Jackett und weg war er. Richie und Becky sahen sich an. Ein
Klopfen an die Bürotür. „Immer rein, Mr. Dorkins.“ Sam
Phillips grinste jovial. „Heute pünktlich, wie? Relativ
jedenfalls, die Band hat sich verspätet.“ Richies Blick fiel
auf einige Tonbandspulen auf dem
Schreibtisch. Sein Blick wurde fragend. „Eins von Deiner ersten
Session vor 2 Tagen, das andere von gestern nachmittag.“ „Aber
das war doch nur...“ „Eine Jamsession,
aber solche Raritäten bewahren wir auf. Ziemlich gut klang das
schon. Alleine bist Du aber besser aufgehoben. Ich habe Pläne
für Dich, mein Sohn.“ Richie hob die Augenbrauen. „Was denn,
Mr. Phillips?“ „Ein Plattenvertrag, erstmal über 6 Monate,
dann sehen wir weiter. Ich muss alles noch fertigmachen, morgen
kannst Du dann unterschreiben.“ Richie strahlte. Das lief ja
prächtig. Jetzt hatte er einen sicheren Vertrag in der Tasche.
Beide blickten auf, die Eingangstür öffnete sich. „Die
Band!“ Sam nickte in Richtung Tür und stand auf. Richie folgte
ihm.


Ein ziemliches
Durcheinander. Becky hatte schon die Jungs begrüßt. „Darf
ich vorstellen, Roland Janes.“ Richie war noch in Gedanken, die
Gesichter verschwammen. „Freut mich, ich bin Richie.“ „James
van Eaton.“ Der andere reichte die Hand. „Ich bin der Drummer,
meine Kumpels nennen mich Jimmy.“ Richie ergriff sie. „Na da
haben wir ja unser Trio!“ Judd Phillips hängte den Hut an den
Ständer. „Mr. Dorkins, dann wollen wir mal.“ Die Tür
zum Studio ging auf. Richie folgte. Weich war ihm in den Knien, etwas
unwirkliches hatte die Szene. Ans Mikro, die Gitarre aufgenommen,
leicht verstört stimmte er sie. Mit einem Klacken stöpselte
Janes seine Gitarre ein, Van Eaton setzte sich ans Schlagzeug. Hinter
der Scheibe stand Sam auf: „Erstmal das Demoband.“ Richies Klänge
erfüllten das Studio. Ja, das war der Riddle Raddle Song.
Roland Janes hob die Augenbrauen. „Der Stil kommt anderthalb Jahre
zu spät. Mit Billy... ach was solls.
Probieren wir es.“ Erstmalig beobachtete Richie, wie über dem
Glasfenster ein Licht aufleuchtete „Recording!“ „Dann mal los,
Mr. Dorkins.“ Judd nickte aufmunternd durchs Fenster. Und Richie
spielte, Becky war nicht im Blickfeld, aber bei dem Song fiel das
nicht ins Gewicht. Sie brauchten mehrere Takes, Richie wechselte den
Beat unmerklich, was zu leichten Abweichungen in der Begleitung
führte. „Der Song ist gut – einfach und gerade
weg.“ Jimmy van Eaton grinste. Richie hob die Augenbrauen.
„Gleich nochmal.“ Diesmal lief die Aufnahme perfekt, jedenfalls
glaubte Richie das. Sam nickte zustimmend, die letzten Akkorde
klangen aus. Doch dann gab es wohl Probleme. Richie wurde ungeduldig.
„Mr. Phillips, was ist los?“ „Die Aufnahme hat nicht
funktioniert. Das Gerät hat ausgesetzt.“ Zum Tontechniker
gewandt. „Los, bringen Sie das in Ordnung.“ Richie seufzte. Für
die Katz, der letzte Take, dabei war gerade der gut gewesen.


Die Reparatur dauerte
wohl länger. Richie scherzte mit seiner Sessionband,
die Zeit musste ja irgendwie verbracht werden. Er spielte schließlich
auch den Blues, „Baby, Let Me Call Your Name“. Wieder diese
Emotion, dieses tiefe Gefühl. Nach der zweiten Strophe setzte
van Eaton ein, nahm den Beat auf und unterstützte mit
wohltemperierten Spiel auf dem Schlagzeug. Kaum war der Song
beendet, öffnete sich die Tür. Billy Lee Riley trat hinzu,
grinste und begrüßte seine Bandkollegen. „Bin doch noch
gekommen, habt ihr noch nen Platz frei?“ Stöpselte seine
Gitarre hinzu. „Warum nicht. Uns fehlt eh noch ein Take.“ Ein
Klopfen an die Scheibe, Richie fuhr herum. „Mr. Dorkins, gleich
nochmal.“ Die Aufforderung war eindeutig. „Na dann los.“ Und
sie spielten, jetzt zu viert, was den Sound etwas vertiefte. Riley
kannte den Song nicht, begnügte sich mit Bass. Losgelöst
von allem, klarer Beat, keine komplizierten Gefühle, nur Tanzen
und Spaß haben, das war das Motto des 'Riddle Raddle
Rock'n'Roll'. Nichts ging schief, ein perfekter Take und endlich im
Kasten. „Mr. Dorkins, wir haben es.“ Ein großer Hallo
setzte ein, dann versammelte sich die Band am Mischpult, um das Band
anzuhören. Dreimal, ja viermal ließ der Techniker das
Band ablaufen, der letzte Take war wirklich der beste, vollste, nicht
die allerschnellste Variante, aber mit einem guten Sound. Sam
zögerte. „Wir verstärken den Hall etwas, nicht viel, dann
gibt das eine A-Seite.“ „Was wird denn die B-Seite?“ Billy Lee
Riley entwickelte Interesse. Richie zögerte. Judd Phillips
schaltete sich ein. „'Baby, Let Me Call Your Name', so ein mehr
gefühlvoller Blues, das gibt einen guten Kontrast.“ Nach
kurzem Zögern: „Das können wir besser verkaufen und macht
die Platte nicht so einseitig.“ Die Band sah sich an, van Eaton
fragte: „Der von vorhin?“ „Ja, der von vorhin.“ Kurze Pause.
„Mr. Phillips, nehmen wir den auch auf?“ „Nein, nein, da nehmen
wir den Einzeltake von gestern vormittag.“
Und sie legten das entsprechende Band ein, ja der Take war gut.
Richie alleine, aber mit vollem Klang und Emotion. Das würde
funktionieren. „Interessanter Stil!“ Der leicht indianische
Einschlag in Rileys Gesicht gab seinem Gesicht ein ungewöhnliches
Profil. „Muß ich mir merken, erinnert mich an meine
Kindheit.“ Richie war hoch erfreut, der Titel von Restless Bill
würde noch zu Ehren kommen. Dann beobachtete er, wie der
Tontechniker mit Sam die Masterplatte
presste. Eine bessere Azetatplatte, normale Single mit 45
Umdrehungen. Wann würde die Platte in die Presse gehen? Judd
Phillips begann zu sinnieren. „Sam, wir
brauchen noch einen Titel, ich meine eine Bezeichnung für die
Scheibe.“ „Richard Dorkins – das reicht vollkommen. Prinzipiell
ist Mr. Dorkins ja Solokünstler, hat
keine eigene Band.“
Richie wusste später
nicht mehr zu sagen, was in den vergangenen Minuten geschehen war,
jedenfalls zeigte Riley auf das dritte Tonband am Pult. „Was ist
das?“ Sam grinste, „Von gestern, Jerry Lee mit Dorkins am jammen.
Jerry Lee hat ihn als Bassist engagiert, bis Jay wieder auf dem
Dampfer ist.“ Anhören, das war der allgemeine Wunsch.
Eingelegt und abgespielt war eins. Aber welche Enttäuschung,
außer einem Rauschen und Knacken mit einem manchmal melodisch
klingenden Hintergrundton war nichts echtes
zu hören. Das Band war kaputt! Richie sah das nicht als Problem,
die Nachwelt hätte anders reagieren können. „Zum Glück
war kein Material für Platten drauf.“ Sam brachte das
Sinnieren zu einem Ende. An dieser Stelle konnte man sich fragen, ob
das den Tatsachen entsprach? Jahre später würden sich
derartige Studiomitschnitte zu den
interessantesten Takes mausern.


Die Session war beendet,
nach 20 Takes der Riddle Raddle Song weggepresst und Richie am Ziel
seiner Träume. „Becky, ohne Dich hätte ich das niemals
geschafft. Du bist meine Inspiration, Du bist meine Bestimmung.“
„Ach, Richie....“ Sie fiel ihm um den Hals, Emotionen loslassend.
„Und jetzt gehen wir shoppen!“ Kaum Geld verdient, schon wollte
sie es ausgeben. Richie war viel zu aufgeheitert, konnte sein Glück
immer noch nicht fassen. Willig folgte er Becky, selbst wenn sie
gefordert hätte: „Richie, spring in den Grand Canyon!“, in
dieser Situation hätte er alles getan und nichts, aber auch
garnichts hätte ihn davon abgehalten.


(17)


Irgendwann kam der Abend
und damit der Auftritt. Noch hatte er keine Ahnung, was kommen
sollte. Da stand er jetzt. Es war kurz vor acht. Irgendwo, in einem
Club in Memphis , Tennessee. Sie befanden sich in einer
improvisierten Umkleidekabine. Das Ambiente war nicht gerade
erstklassig. Becky hatte die Nase gerümpft, als sie sich von
Richie verabschiedete. Kein Wunder, in dieser Umkleide waren
normalerweise die Tänzerinnen und Stripperinnen untergebracht.
Er machte sich fein. Mehr oder weniger jedenfalls. Er hatte
beschlossen, in seinen originalen Klamotten auf die Bühne zu
steigen. Jeanshemd und Jeans. Dazu ein
rotes Halstuch. Der 'Killer' trug eine schwarze Hose mit einer
auffallend runden Gürtelschnalle, dazu ein weißes Hemd mit
dunkelgrünen Längsstreifen. Richie kannte diese Sorte Hemd
oder auch Shirts, viele seiner Freunde trugen ähnliche. Sie
hatten schon gesehen, was sie erwartete. Ein Klavier im
Honkytonkstil, aufrecht stehend, Schlagzeug
leicht lädiert, für Richie ein Verstärker, in den er
seine Gitarre stöpseln würde. Nur der Drummer Russell
Smith fehlte noch. „Russ ist mal wieder spät dran.“ Mehr
eine Feststellung als eine Anklage. Ein zweitklassiger Nachtklub,
kein ausgebuchtes Theater, keine Alan Freed Show, nein, ein lausiger
Nachtklub. Richie konnte sich nur wundern. Dann kam Judd Phillips
herein, er hatte noch mit dem Manager des Klubs gesprochen. „400
Dollar, mehr macht er nicht locker, und das nur, wenn ... der Laden
heil bleibt.“ Jerry Lee schien zu ahnen, worauf Judd hinauswollte.
Er nickte nur, wir versuchen es, das war die Stimmung. Nur noch
wenige Minuten, dann war ihr Auftritt. Richie schloß die Augen.
Im Normalfall wäre er jetzt mit irgendeiner besseren Highschool
Band unterwegs, vielleicht auch mit einer eigenen. Dann hätte er
vermutlich sehr viel Glück haben müssen, um irgendwann eine
Aufnahme zu machen. Nun, er hatte es einfach probiert, den Schritt
gewagt, pleite und nur mit Vertrauen in sich und seine Künste.
Becky würde irgendwo direkt vorne vor der Bühne sein.
Jedenfalls sagte sie das wenige Minuten zu vor. So junge hübsche
Mädchen wie Becky waren definitiv Mangelware in einem derartig
zweitklassigen Etablissement. Richie
schluckte. Wenn das keinen Ärger gab! Doch jetzt versuchte er
sich auf das folgende Konzert zu konzentrieren. Würde es
einschlagen? Würde er Erfolg haben? Nun ja, eigentlich schon,
gut genug waren sie. Aber war dieser Schuppen die Anstrengung wert?
Richie versuchte angestrengt, seine aufgewühlten Gedanken zu
beruhigen. Nur die Ruhe bewahren! Das war jetzt wichtig. Da kam auch
Russ, kein weiterer Ton, in sekundenschnelle fertig und bereit. „Euer
Auftritt!“ Ein Gehilfe des Nachtklubbesitzers lugte in die
Umkleidekabine. Sie blickten sich an. „Los, auf gehts!“ Jerry
nickte zur Tür hin, eine Aufforderung zu gehen. Judd Phillips
rief noch hinterher: „Viel Glück!“ und weg war er. Sie
nahmen den Weg zur Bühne.


Dann traten sie heraus.
Keine kreischende oder stampfende Menge, das Licht eher schummerig,
die Typen an den Tischen eher finster, nur wenig junges Volk
anwesend. Becky war die Ausnahme, Richie konnte sie sehen. Die
Gitarre gestimmt, dann los. Jerry Lee flüsterte noch ein „Heute
lieber emotionell, der zweideutige Stoff könnte hier zu
Problemen führen.“ Keine weitere Verzögerung, die Akkorde
erklangen, Richie erinnerte sich, das war dieser neue Song von
Charlie Rich. Richie verfiel in eine Standardfigur,
der Song war ihm ziemlich unbekannt. Der Applaus war sehr verhalten.
Richie hätte mehr Enthusiasmus erwartet. Nächste Nummer,
'You Win Again' von Hank Williams. Das kannte er, da konnte er seine
Begleitung verbessern. Viel Emotion und Gefühl, der Killer
konnte das.

Immer weiter, die
Reaktionen eher grummelig, spielten sie
Countrymaterial, darunter Stücke,
welche Richie kannte und einige unbekannte. Insgesamt wenig fordernd,
war er doch eher schnelleren Beat gewöhnt. Becky, immer wieder
wanderten seine Blicke zu ihr hinüber. Sie fraß ihn mit
Blicken fast auf. Pure Bewunderung. Das fühlte sich gut an. Der
letzte Song ging zu ende. Plötzlich krachte eine Bierflasche an
die Wand. Ein Besoffener grölte los:
„Mehr Tempo, wir sind hier doch nicht aufm Kaffeekränzchen.“
Ein bescheuertes Lachen folgte. Nein, ein schmutziger und
zweitklassiger Nachtklub, das passte besser. Das Hämmern in die
Tasten wurde stärker, Jerry Lee sprach auf den Wunsch an. 'The
House Of Blue Lights', ein Honkytonktitel,
der in diese Klitsche passte. Richies Begleitfigur wurde simpel, das
Stück lebte vom Klavier. Sein Blick wanderte zu Russ, der drosch
auf seine Trommeln, als wäre der jüngste Tag gekommen. So
musste das sein. „Ehh, ihr Flaschen, lasst diese Niggermusik!“
Ein Typ mit Stetson hob ein Whiskeyglas.
Richie konnte beobachten, wie sich eine Art Schlägerei
entwickelte, noch beschränkt auf ein paar Betrunkene, die sich
kabbelten, ob die Musik nun genehm war oder nicht.



Kurze Pause, Hauptsache
war die Organisation von Getränken. Richie und Russ nahmen jeder
ein großes Bier, Jerry Lee ließ sich eine Whiskeyflasche
geben, welche prompt direkt auf dem Klavier landete. Leicht befremdet
betrachtete Richie dieses Stilleben, das hatte er nicht erwartet.
Gerade wollten Sie wieder spielen, als Becky kurz nach vorne kam.
Richie beugte sich hinunter. „Was ist los, Baby?“ „Ich hab mit
den Kids gesprochen.“ Sie ließ ihren Kopf nach hinten
wandern, wo ein paar Teenager noch am Tisch saßen. Unter
anderen Umstände hätte man sich gefragt, was 15 oder
16jährige in einem Laden wie diesem wollten. „Sie trauen sich
nicht zu fragen..sie wollen, daß Jerry Lee auch etwas für
sie spielt. Zum Tanzen oder so...“ Richie drehte sich um.
Gluckgluck, das Whiskeyglas war schon leer. „Jerry Lee, da hinten
sind ein paar Kids. Die glauben an Dich, und sie wollen den Jerry Lee
Lewis sehen, der noch vor ein paar Monaten Theatersäle gefüllt
hat. Wozu haben wir denn gestern noch gejamt?“ Schweigen, aber dann
ein Kopfnicken. „Geht klar!“ Dann laut: „Den Shakin' Song.“
Schon drosch er in die Tasten, die ersten Takte zu 'Whole Lotta
Shakin' Goin' On' ertönten, Richie spürte erhöhtes
Tempo. Jerry Lee röhrte los, die Locken nach hinten, die Stimme
arrogant und selbstbewußt. Die Whiskeyflasche und das Glas
tanzten im Takt auf dem Klavier. Die Kids im Hintergrund taten das
selbige. Jetzt müsste die Stimmung etwas steigen. Die
Performance war gut, aber die Reaktion eisig. Die Kids liebten es,
keine Frage, aber der Rest... Richie begann um seinen Kopf zu
fürchten, denn jetzt brach die Hölle los. Bier und
Whiskeyflaschen flogen. „Scheissniggerbeat,
spiel was ordentliches oder ich hol meinen Schwager, der hält
garnix von Wichtigtuern, die sich in ihrer eigenen Sippe rumsuhlen.“
Wieder der Typ mit dem Stetson. Das Klavier verstummte. Richie
zuckte zusammen, der Killer donnerte den Klavierhocker
weg. „Ich spiel hier, was ich für richtig halte, Scheisskerl.“
Die Stimme drohend, die Augen Blitze verschleudernd. Die Situation
eskalierte und Richie hatte keine Möglichkeit zu reagieren.
„Verkriech Dich wieder nach Louisiana, Du Hinterweltler.“ Alter,
der Typ war auf Streit aus. An Musik war jetzt nicht mehr zu denken,
der 'Killer' stürzte von der Bühne. In sekundenschnelle war
der Laden am Kochen, die Prügelei war unbeschreiblich. Stühle
knirschten, Blut spritzte, als einem Betrunkenem eine Flasche auf den
Kopf knallte. Was für ein Durcheinander! Plötzlich krachte
ein Colt, dann Chaos am Eingang, Polizei kam und räumte den
Laden auf.



Richie konnte sich später
nicht an die vergangenen 15 Minuten erinnern. Er kam in der
Umkleidekabine wieder zu sich. Becky beugte sich über ihn.
„Richie...“ „Was ist .... los? Ich....“ „Du hast eine Faust
abbekommen. Oh, Richie, Liebster, das ist nichts für uns. Das
ist viel zu.....“ Sie konnte ein Weinen nicht unterdrücken,
warf sich ihm an den Hals. Richie umarmte sie, fest drücken, da
sein. War es seine Schuld gewesen? Warum hatte er überhaupt...ja
wie war er eigentlich in die Schlägerei verwickelt worden? Die
Tür ging auf, Russ kam herein, ein Eisbeutel vor der Stirn.
„Heilige Scheisse!“ stöhnte der nur. „Na Richie, Kumpel,
gehts wieder?“ „Ich weiß...was ist passiert?“ „Schläge,
was sonst. Verdammt üble Typen, man
könnte meinen, die wollten uns lynchen.“ „Was ist mit den
Bullen?“ „Die beruhigen noch die Kerle.“ „Wo ist Jerry Lee?“
„Der versucht, die Kohle zu organisieren. Ich fürchte, das
wird nix.“ Russ blickte unglücklich. „Hätte man mir vor
einem Jahr gesagt, Russ, nächsten Sommer ist die Party vorbei
und du bekommst für jeden Gig Keile anstatt nackte Weiber, dann
hätte ich gesagt, bis hierher und nicht weiter.“ Richie
streichelte Becky über das Haar. Ihr Aufschluchzen kam von
tiefsten Herzen, Angst und Panik verströmte sie, als würde
ihre Haut diese Emotionen als Bewegung vermitteln. Er vermochte kaum
zu reagieren. Ruhig bleiben, Vertrauen, Fassung
und Optimismus ausstrahlen.
„Baby, wird schon. Beruhige Dich. Bitte!“
5 Minuten mochten
vergangen sein. Fast unwirklich mochte diese Szene erscheinen. Becky
hatte sich gefangen, irgendwie jedenfalls. Sie sagte keinen Ton,
hielt Richie nur fest, ganz fest, die Welt würde untergehen,
aber sie würde ihren Griff nicht lösen, niemals und für
nichts auf der Welt. Richie hatte sich ihr noch niemals so nahe und
so verbunden gefühlt, nicht mal in der Ekstase des Orgasmus der
letzten Nacht. Zärtlich streichelte er über ihre Wangen.
„Becky, Liebste, ich bleibe bei Dir. Nichts kann uns trennen.“
„Wirklich Richie, wirklich gar nichts?“
Er nickte. Ja, nichts würde sie trennen können, aber auch
gar nichts. Nie wieder würde er sie im
Stich lassen, wie damals an der Raststätte. Das war keine gute
Sache gewesen. Er fühlte sich überaus schuldig und war
bereit, es niemals wieder darauf ankommen zu lassen.


Dann öffnete sich
die Tür erneut, diesmal kam Jerry Lee herein. Eindeutig lädiert,
Schrammen am Kinn und auf der linken Backe, die Locken wüst. Mit
einem heftigen Knall flog die Tür ins Schloß. Schweigen,
der 'Killer' setzte sich. Dann blickte er auf. „Jungs, schöner
Mist. Der Laden ist im Eimer. Das ist mal sicher...im Moment sind die
Bullen noch da.“ Er schloss die Augen, lehnte sich zurück.
Schweigen. Ein zerstörter Traum? Ein Hoffnungsschimmer im
Strudel der Zeit verloren. Richie schluckte. „Jerry Lee, geht
schon. Hast Du viel... abbekommen?“ „Die paar Kratzer stören
nicht, diese Typen ....“ Zornig sprang er auf, Richie zuckte
zurück. Ein Jähzornausbruch?
Nein, nur aufgeregtes im Kreis umher stampfen, dann setzte er sich
wieder. „Kohle bekommen wir wenigstens, keine 400. Ganze 200 Dollar
hat er locker gemacht, lumpige 200.“ Russ hob die Augenbrauen. „War
schon mal schlimmer....laß aufteilen und dann verschwinden, ich
habe Angst, daß die Typen uns auflauern, sobald die Bullen weg
sind.“ Jerry Lee lachte auf, Kampfeslust in den Augen. „Sollen
sie bloß kommen!“ Dann zog er ein Bündel Banknoten aus
der Tasche. „Hier, jeder bekommt 50.“ Richie hob verwundert die
Augenbrauen. „Was ist mit ... den restlichen 50?“ „Die sind für
Myra.“ Der 'Killer' zog die Stirn kraus.
Unschlüssig ließ Richie die 5 Scheine durch die Finger
gleiten. 50 Dollar. Wie war das noch mit dem Restsold?
Dann zogen sie sich um, keine großen Worte wurden mehr
gewechselt. Eine Schlacht war verloren, aber nicht der Krieg!
Sie gingen durch die
Hintertür, wo sich ihre Wege trennen würden. „Richie...“
Jerry Lee wollte wohl noch etwas sagen. Richie wandte sich nochmal
um. „Wir sehen uns morgen wieder. Bist schon ein prima Kerl, Deine
Gitarre war gut.“ Er grinste, trotz des wenig erfolgreichen Abends
schien er eine Art Optimismus bewahrt zu haben, welcher Richie in
diesem Moment unpassend oder zumindest unwirklich erschien.
Entsprechend verwirrt fiel Richies Antwort auch aus. „Ja, ich.....
Wir sehen uns.“ Russ nickte nur. Dann trennten sich ihre Wege, aber
leider für immer. Richie würde dem 'Killer' nie wieder so
nah sein.



Richie und Becky
verließen die Gasse, kamen nach vorne zur Hauptstraße.
Etwas Geld in der Tasche, davon würden sie einige Zeit überleben
können. Aber sie hatten ja sich. Doch da fielen ihm plötzlich
die beiden Typen auf, die herankamen. Uniformen, Pistolen,
Schirmmützen. Mist, die MP hatte ihn gefunden. Die Polizei von
vorhin? Hatten die etwa die Gelegenheit genutzt? War das ein Zufall?
Ein kurzer Blick zu Becky, dann die Füße in die Hand
genommen. Weg, nur weg. Aber vergeblich, er konnte einfach nicht
entkommen. Eingeholt, Handschellen um, aus, vorbei.
Richie wurde
weggeschleppt, in ein Auto. Er sah noch Becky heranstürmen.
„Richie! Richie, ich liebe Dich.“ Er konnte ihr noch rasch die 50
Dollar zustecken, dann wurde er in den Wagen gestoßen und die
Tür geschlossen. Er blickte sie traurig an. „Richie, Richie,
ich ... du wirst Vater. Richie, ich bin schwanger, ich bekomme ein
Kind. Richie, vergiß mich nicht. Richie, ich liebe Dich!"
Das konnte sie dem Wagen noch hinterher brüllen. Dann brach sie
auf der Straße weinend zusammen. Wann würde sie Richie
wiedersehen? Jemals wieder?


Richie sah noch lange
rückwärts. Wie würde es jetzt weitergehen? Vermutlich
erstmal Gefängnis. Schließlich war er ein Deserteur.
Becky! Ich liebe dich!
Das war sein letzter klarer Gedanke.
Und so endet diese
Geschichte, irgendwo vor einem zweitklassigen Nachtklub in Memphis,
Tennessee.


Epilog


Am folgenden Morgen
konnte man dann im Studio in der Union Avenue folgendes Gespräch
zwischen Sam und Judd Phillips vernehmen. „Sam, das kannst Du nicht
machen. Dem Jungen soll übermorgen der Prozeß gemacht
werden, da kannst Du nicht einfach von ihm eine Platte auf den Markt
bringen. Das würde uns ruinieren.“ „Judd, die Musik ist zu
gut. Dieser Junge hat alles, vielleicht kommt er mit einem blauen
Auge davon?“ „Sam, nein, der hat uns ja nicht
mal alles erzählt. Seine Freundin ist minderjährig,
das Problem haben wir schon am Hals, da gibt es wenigstens einen
Trauschein, aber dieser Richie...das wird ein Sargnagel.
Fahnenflucht, so habe ich mir sagen lassen. Das ist schon ein starkes
Stück...“ Eine kurze Pause. „Sam, vergiß es einfach.“
Und so wurden die Tonbänder und eine einsame Masterscheibe
vernichtet, darunter ein ungewöhnlich guter Rockabillytitel
und ein Blues, der unter die Haut gegangen wäre, in seiner
Intensität und Emotion.


Richard Dorkins junior
wurde wegen Fahnenflucht, Entführung, Unzucht mit
Minderjährigen, Diebstahl und Widerstand gegen die Staatsgewalt
zu 20 Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Mord oder
Waffengebrauch hätte ihn vermutlich
auf den elektrischen Stuhl gebracht. Doch Richie hatte kein Glück
im Unglück. Man fand ihn am 2. Oktober 1958 erhängt in
seiner Zelle, die Schlinge aus einem Handtuch geknüpft. Die
Umstände wurden nie aufgeklärt, Selbstmord war das
allgemein akzeptierte Credo.


Rebecca Foster, von ihren
Freunden Becky genannt, gebar am 19. April 1959 einen Sohn, den sie
auf den Namen Richard William taufte. Richard William Foster arbeitet
heute als Gebrauchtwagenhändler in Utica, New York. Er hat
seinen Vater nicht gekannt und seine Mutter erzählte niemals von
ihm.

Becky selbst starb 1983
bei einem Flugzeugabsturz über Texas. Ihr letzter Gedanke galt
dem unglücklichen Richie, der sie zur Frau gemacht und auf eine
Reise ins Nirgendwo ohne Wiederkehr mitgenommen hatte.


ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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