Stephan Römer

Roter Staub

Der rötliche Sand wirbelte um Jacks Füße. Schritt für Schritt quälte er sich über Stock und Stein. Die Kolonie müßte bald auftauchen, nur noch ein paar Schritte, dann würde er sie erreicht haben. Doch nach einer halben Stunde war Mendra, die südlichste Kolonie, immer noch nicht zu sehen.

    Weitere Stunden vergingen, die Sonne neigte sich schon langsam dem Horizont entgegen, als sich plötzlich ein großer Krater vor Jack auftat. Langsam und erschöpft ging er auf den Rand der großen Vertiefung zu.

    Waren da nicht ein paar Lichter?, fragte er sich. Hörte er nicht Maschinen, die durch das leise Wehen des Windes zu ihm herübergetragen wurden? Natürlich hörte er diese Geräusche, oder waren das wieder nur seine Wahnvorstellungen, die jetzt zum falschen Zeitpunkt ausbrachen?

    „Unsinn”, sagte sich Jack und ging weiter. Diese Vorstellungen, die er vor einiger Zeit hatte, waren längst verschwunden. Zumindest hatte er sie seit seinem Aufbruch von Phobos nicht mehr erlebt.

    Nur noch wenige Schritte trennten Jack, der unter dem Gewicht seines schweren Raumanzuges stöhnte, von dem Rand des Kraters und dem sicheren Tod durch Absturz. Und jetzt sah er sie. Lichter, die die Farbe von Halogenscheinwerfern besaßen, sprangen aus dem Krater und dessen Wänden auf ihn zu. Er sah Fahrzeuge auf dem Boden des großen Loches fahren und wenig später hörte er diese auch.

    Jack schloß zwei Mal die Augen und öffnete diese dann wieder, um sich zu überzeugen, daß es wirklich die Realität war, die er dort unten sah. Aber er konnte ganz beruhigt sein, es war die Wirklichkeit. Nach stundenlangem Umherirren hatte Jack die Kolonie Mendra gefunden.

    Jetzt nur noch einen passenden Weg darunter suchen, dachte Jack. Und schon bin ich da. Dann kann ich sie endlich warnen.

    Er ging einige Schritte auf und ab und suchte nach einer geeigneten Stelle, an der er auf den Boden des Kraters hätte gelangen können. Doch nirgendwo fand er einen Platz, an dem er unverletzt die fast zweihundert Meter Höhenunterschied hätte überwinden können.

    Die Sonne war nun nur noch ein großer Feuerball am Horizont und tauchte den gesamten Planeten in ein schummriges Licht. Wenn er nicht bald darunter konnte, dann würde er hier oben übernachten müssen. Doch wer konnte sagen, wie lange der Sauerstoff in dem Tank auf seinem Rücken ausreichen würde. Morgen wäre er vielleicht schon tot, und morgen wäre alles viel zu spät. Dann bräuchte er die Kolonie überhaupt nicht mehr zu betreten.

    Nach einiger Zeit fiel ihm ein, daß die Bewohner der Kolonie irgendwie heraus mußten. Normalerweise taten sie dies mit Shuttles, die sie aus dem Krater heraus an den gewünschten Zielort brachten. Doch es gab auch Bewohner, die einfach nur für ein paar Stunden aus dem Krater herauswollten, um sich die Kolonie von oben zu betrachten. Für diese Leute gab es einige Transportschächte, durch die sie an den Rand des Kraters gelangen konnten.

    Nach einer weiteren viertel Stunde hatte Jack einen solchen Transportschacht gefunden. Er drückte seinen Daumen auf eine Platte und schon öffnete sich die Tür. Jack ging hinein, kurz darauf verschloß sich die Tür wieder und verdeckte den Blick auf den Planeten.

    „Marktplatz”, sagte Jack und sofort begann der Aufzug, in den er eingestiegen war, abwärts zu fahren. Nach einiger Zeit stoppte dieser, nur um seine Fahrt in horizontaler Richtung fortzuführen.

    Fünf Minuten später stand Jack auf dem Marktplatz. Seine Uniform hatte er ausgezogen; er hatte sie im Lift zurückgelassen. Unter der Panoramakuppel der Kolonie würde er seinen Anzug nicht mehr benötigen. Außerdem wäre ein auffälliger Anzug für sein Vorhaben nur unangebracht. Und Jack wollte auf keine Fälle auffallen. Er war kein Unbekannter mehr; zumindest auf Phobos. Aber auch hier würde man sich schnell für ihn interessieren, wenn einmal bekannt geworden war, daß er von Phobos Penthe geflohen war.

    Und so schnell sollte man ihn nicht erkennen. Er hatte eine Mission zu erfüllen und er wollte sie zu Ende bringen. Er wollte keine Sicherheitsleute, die sich ihm in den Weg stellten. Doch schon bald würde man ihn erkennen und ihn suchen. Sehr bald, viel früher als ihm lieb war.

 

„Was ist denn das für eine Gestalt?”, fragte der Barkeeper, als ein ziemlich staubiger Mann durch die Tür kam.

    „Vielleicht kommt er aus Morns Bar”, sagte eine angetrunkene Frau, die an der Theke saß und zu Jack hinübersah. „Ich habe gehört, daß der Whiskey dort so trocken sein soll!”

    Daraufhin fingen die Frau und der Mann hinter der Bar an zu lachen und bald stimmten auch mehrere Gäste um sie herum in ihr Lachen ein.

    Jack stand etwas hilflos in der Tür.

    Jetzt lachen sie über mich, sagte er sich. Sie lachen mich aus, weil ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.

    Jack wollte schon gehen, da er sich schämte in dieses Lokal zu gehen. Doch dann faßte er sich wieder und ging auf einen freien Tisch mit zwei Stühlen zu.

    „Was will der hier?”, wollte der Barkeeper wissen. „Wir nehmen keine Leute aus der Kloake. Und Idioten, die noch nicht einmal wissen, wie eine Fünf-Dollar-Note aussieht, schon gar nicht.”  Der Barkeeper setzte sich in Bewegung und ging um die Theke herum. Eine Frauenhand packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.

    „Laß mich das machen George”, sagte die Frau, die eben über ‘Morns Bar’ gelästert hatte. Sie stand auf und ging langsam zu Jacks Tisch. Ihre Füße glitten wie von selbst über den Fußboden und ihr Kleid, das einen langen Einschnitt an der Seite hatte, zeigte viel von ihren Beinen.

    Ganz langsam setzte sie sich zu Jack an den Tisch.

    „Na mein Kleiner”, sagte sie in einer weichen Stimme, die Jacks Ding zwischen seinen Beinen anschwellen ließ. „Was willst du denn hier?”

    „Wissen Sie, wo ich ein Interkom finde?”, sagte Jack. Er stotterte ein wenig.

    „Möglich”, sagte die Frau. „Warum brauchst du eins?”

    Jack sagte, daß er sich dringend mit der Leitung der Kolonie in Verbindung setzten müsse, da er von einer Sache wüßte, die die gesamte Kolonie vernichten könnte.

    „Vernichten?”, brüllte die Frau und dann begann sie wieder zu lachen. Und die Gäste, von denen die meisten sowieso mitgehört hatten, stimmten ein.

    „Ihr glaubt mir nicht”, schrie Jack. „Na schön, dann wartet ab und seht selbst.”

    Er ging auf die Theke zu, an der die meisten Menschen saßen. Dahinter erblickte er ein Interkom, doch es zu erreichen war unmöglich, da der Wirt mit einer eindeutigen Geste den Weg versperrte.

    „Irgend etwas tut sich da draußen”, sagte Jack und zeigte mit dem Arm auf ein großes Panoramafenster, durch das sich die steilen Ränder des Kraters abzeichneten. „Irgend etwas. Und es kommt näher. Und wenn ihr wollt, daß das irgend etwas ein irgend etwas bleibt, dann laßt mich lieber ans Interkom...”

    „Und was ist das irgend etwas?”, wollte der Barkeeper wissen. „Vielleicht eine Nymphomanin, die uns alle vernaschen will?”

    Daraufhin fingen die Gäste wieder an zu lachen, zumindest die meisten. Einige von ihnen schauten mit besorgtem Gesicht aus dem Fenster hinaus. Vielleicht gab es ja wirklich eine ernsthafte Gefahr da draußen, auch wenn man es nicht so recht glauben wollte. Der Mann der ein Interkom benutzen wollte, sah zumindest nicht so aus, als ob er aufs King’s College gegangen sei.

    „Bitte”, sagte Jack. „Bitte lassen Sie mich das Interkom benutzten.”

    „Okay”, sagte der Barkeeper nach eine Weile. „Ich mache dir einen Vorschlag, Junge.” Er zeigte auf das Interkom. „Du darfst das Com benutzten, nachdem ich es benutzt habe. Ist das okay für dich?”

    Jack nickte nur.

    Der Barkeeper ging zum Com und drückte einen der untersten Schalter. Jack war sich nicht sicher was er da sah. Doch als dann die Stimme ertönte, wußte er Bescheid. Er hatte sich nicht geirrt. Der Barkeeper hatte ihn verarscht, um es ganz sanft auszudrücken.

    Jack stand einige Zeit reglos da und bemerkte nicht, wie die anderen Leute ihn anstarrten. Er hörte auch ihr Gelächter nicht, das hörte er erst, als er draußen auf der Straße war. Und dann rannte er, als wäre er ein Sprinter und eine 100 Meter-Strecke für ihn eine Leichtigkeit. Und das Gelächter der Leute schwoll in seinen Ohren an. Es wuchs zu einem unbeschreiblichen Dröhnen, daß sein Trommelfell derartig vibrieren ließ, daß Jack dacht, es würde jeden Moment zerreißen.

    Und er rannte und rannte und bemerkte nicht die Sicherheitsleute, die immer näher kamen und immer mehr wurden. Er bemerkte sie nicht, bis er genau in einen hineinlief. Doch das war auch das einzige woran er sich in der Zeit erinnern konnte.

    Jack verlor das Bewußtsein.

 

 

„Name?”, fragte eine Stimme von weit her.

Jack blinzelte mit den Augen. Er wollte noch nicht aufstehen, zum aufstehen war es zu früh. Außerdem hatte er ganz schreckliche Kopfschmerzen. Er öffnete die Augen ein wenig mehr. Schwaches Licht drang durch seine Pupillen ins Augeninnere. Wo war er hier? Das letzte an das er sich erinnern konnte war, daß er in irgendeine Kolonie gegangen war, um die Leute zu warnen. Aber wovor?

    Plötzlich wurde alles rot vor seinen Augen. Staub wirbelte um ihn herum. Er sah seinen Gleiter irgendwo bis zu den Flügeln im Sand stecken. Und dann dieses Geräusch. Es schwoll an, es schien hinter ihm zu sein. Aber so genau wußte das Jack auch nicht. Aber es kam näher, dessen war sich Jack sicher.

    Er hörte seinen Atem in seinem Helm; die Luft veranlaßte das Glas zu beschlagen, was es sonst nicht tat.

    „Name?”, hörte er wieder diese Stimme. Und sie war näher gekommen, genauso wie das Geräusch, das er vor einiger Zeit gehört hatte. Dann hatte es ausgesetzt und jetzt war es wieder da. Viel stärker, viel näher. Und dann erhob sich eine Art Flügel vor ihm und hüllte sein gesamtes Sichtfeld in ein pechdunkles Schwarz, aus dem es kein Entrinnen gab.

    „Ihr Name?”, fragte eine Stimme jetzt sehr laut und etwas packte ihn an der Schulter und riß ihn herum.

    Das Licht an der Decke blendete Jack stark. Zwei Männer standen ihm gegenüber. Einer stand neben ihm und schrie fast in sein Ohr, ob er seinen Namen nicht wüßte.

    „Ich... ich...”, stotterte Jack.

    „Was ist, he?”, fragte einer der Männer ungeduldig.

    „Thompson, lassen Sie ihn in Ruhe”, teilte ein anderer Mann ihm mit.

    Daraufhin setzte sich Thompson auf einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und begann erneut mit den Fragen.

    „Name?”

    „Jack”, sagte Jack.

    „Weiter?”, wollte Thompson wissen.

    „Jack. Ich habe keinen weiteren Namen”, antwortete Jack mit ruhiger Stimme.

    „Keinen weiteren Namen? Wie nennen die Leute auf Phobos Penthe Sie? Einfach nur Jack?”

    „Sie nennen mich Jack”, sagte er noch einmal. Dann fügte er mit einem verrückten Lächeln hinzu: „Sie nennen mich Jack. Jack the Ripper.”

    Und dann fiel er in ein Lachen, das weder Gut noch Böse war. Es war ein Lachen eines Mannes, der nicht wußte wer er war oder was er tat. Es war verzweifelt, in gewisser Weise. Aber dennoch konnte man das Strahlen in seinen Augen sehen, wenn er immer wieder wiederholte: „Jack the Ripper.”

    „Wir müssen ihn so schnell wie möglich nach Phobos Penthe zurückbringen”, sagte Thompson zu Richardson, dem anderen Mann im Verhörraum. „Er wird nur die ganze Aufmerksamkeit der Kolonie auf sich ziehen. Und wir können hier keine Aufruhr gebrauchen.”

    Richardson ging in einen Nebenraum und setzte sich mit der psychiatrischen Anstalt auf Phobos in Kontakt.

    Thompson stand auf und ging um den Tisch herum. Er beobachtete Jack ganz genau. Der Mann, der angeblich ‘Jack the Ripper’ genannt wurde, saß jetzt still und friedlich auf seinem Stuhl. Er sah wie ein kleines Kind aus, das lächelt, allerdings fehlte etwas von der Friedfertigkeit eines Kindes. Das Glänzen in seinen Augen, das bis vor Kurzem noch da war, war nun vollends verschwunden. Schwärze umzog seine Pupillen und bald würde auch die Kolonie davon heimgesucht werden.

 

 

„Nein!”, schrie Jack. „Sie dürfen da nicht raus!”

    Der Trupp, der die Absturzstelle seines Gleiters untersuchen sollte, stand schon abfahrbereit in Shuttlebucht zwei. Jack wurde links und rechts von Wachen begleitet. Sie gingen einen langen, dunklen Gang lang. Am Ende wurde Jack in eine Zelle geschoben.

    „Gehen Sie nicht da raus”, flehte Jack. „Ich habe meine Frau und meine Tochter dort draußen verloren.”

    „Ihre Frau?”, fragte einer der Wärter.

    „Wir haben das überprüft”, sagte Richardson, der mit den Wachen mitgegangen war. „Er hat eine Frau und ein Kind von Phobos Penthe entführt. Allerdings ist das nicht seine Familie.”

    Nach einer kurzen Pause fragte Richardson erneut: „Wo sind die beiden Frauen, Jack?”

    „Sie waren in meinem Gleiter bevor...”

    Er stockte.

    „Bevor was?”

    „Bevor ES kam! Es war so schrecklich... Bitte gehen Sie nicht da raus. Es wäre Ihr Tod.”

    „Lassen Sie das unsere Sorge sein, Jack.”

    Dann fiel die schwere Tür der Zelle zu. Jack saß ganz allein auf dem weißen Boden in der weißen Ecke des Raumes und schloß die Augen.

 

 

Das Bergungsfahrzeug hatte den abgestürzten Gleiter schnell gefunden. Er steckte bis zu den Tragflächen im roten Sand und sah in gewisser Weise wie ein Monument der Zeit aus.

    Richardson und sein Team stiegen aus dem Fahrzeug. Er erteilte seinen Männern Anweisungen und kurz darauf verteilten sie sich um die Gegend gründlich nach irgendwelchen Spuren abzusuchen.

    „Richardson!”, rief einer der Männer nach einiger Zeit. „Kommen Sie mal her!”

    „Was gibt es?”, wollte Richardson wissen und lief auf den Mann zu.

    „Schauen Sie sich das an”, sagte der Mann, dessen Name Hooks war. Er deutete auf einige seltsame Spuren in der Erde. Sie sahen wie Vogelspuren aus, jedoch waren sie mindestens um das zehnfache größer.

    „Was ist das?”, fragte Richardson. „Kann irgendjemand diese Spuren erzeugt haben.”

    „Ein Mensch war es wohl kaum”, antwortete Hooks, der jetzt etwas beängstigt zu sein schien.

    Was hatte Jack vorhin erzählt? Etwas hätte seine angebliche Frau und seine Tochter... Nein, dachte Ted Richardson. Nein, so etwas kann es doch gar nicht geben. Und wenn doch? „Komm schon Junge”, beruhigte er sich. Du liest zu viele Horror-Geschichten.

    Der Suchtrupp durchkämmte die roten Dünen in alle Richtungen. Der Wind wehte jetzt heftiger. „Vermutlich gibt es heute Nacht einen Orkan”, sagte Ted zu sich selbst. Er ging mit zwei Männern des Trupps in nordwestliche Richtung. Sie folgten den Spuren, die Hooks entdeckt hatte. Der Wind wehte Staub in die Eindrücke, wo irgend etwas seinen Abdruck hinterlassen hatte, und die Spuren wurden zunehmend undeutlicher.

    Neben einem Fußabdruck (war es das wirklich?) ragte ein Stein aus dem Boden. Eigentlich hätte ihn keiner bemerkt, wäre einer der Männer nicht darüber gestolpert.

    „Verdammt”, sagte er, als der Boden seinen Fall beendete.

    Er schaute sich um, was ihn da zu Fall gebracht hatte, und der Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Das Ding, über das er gestolpert war, sah nur auf den ersten Augenblick aus wie ein Stein. Was der auf dem Boden liegende Mann sah, war alles andere als ein Stein. Es hatte zwar die Form eines Steines, eines sehr runden Steines, doch als er genauer hinblickte, konnte er unter dem Sand, der sich auf dem Gebilde niedergelassen hatte, zwei Augen erkennen. Im Grunde sah er die Augen nicht, da es gar keine Augen mehr gab. Zwei leere Höhlen starrten ihn aus dem abgefetzten Schädel an. Sand rieselte aus der abgebrochenen Nase. Geronnenes Blut klebte an der Haut, soweit sie noch vorhanden war.

    „Das war wohl seine Frau”, sagte Richardson, als er dem Mann auf die Beine half. „Fehlt nur noch das Mädchen.”

    Doch auch die war schnell gefunden. Zumindest war von ihr mehr übrig, als von der Frau, von der nicht viel mehr als der Kopf gefunden werden konnte.

    Der Suchtrupp schaute sich noch etwa eine halbe Stunde um. Mittlerweile war es dunkel geworden, und Richardson und seine Männer beschlossen, die Nachforschungen morgen weiter zu führen. Der Wind hatte erneut zugenommen. Es wird einen Orkan geben, dachte Ted Richardson erneut, als er das Bergungsfahrzeug betrat und in die Kolonie zurückfuhr.

 

 

Das Bergungsteam - soweit man es als solches bezeichnen konnte, denn es gab kaum etwas zu bergen; vielmehr hätte es Ermittlungsteam heißen sollen - befand sich schon seit Sonnenaufgang an der Stelle, an der sie am Vortag den Kopf der Frau gefunden hatten.

    Richardson hatte Recht gehabt, in der Nacht hatte ein Sturm gewütet, der die Stelle völlig verweht hatte. Nur das oberste Licht des elektrischen Markierungsfeuer, das sie an der Stelle zurückgelassen hatten, schaute noch aus dem Sand heraus.

    In der Nacht hatte man Jack verhört. Man wollte wissen, ob er diese Frau und das Kind umgebracht und in ihre Einzelstücke zerlegt hatte. Jack hatte alles geleugnet, er schob den Vorfall auf merkwürdige Kreaturen mit Vogelfüßen, denen er nur knapp entkommen konnte. Am Morgen wurde er dann mit einem Shuttle nach Phobos Penthe zurückgebracht, wo er wieder in seine alte Zelle zurückkam.

    Dort saß Jack nun schon seit einigen Stunden und dachte über die vergangenen Ereignisse nach. Es kam ihm alles wie ein Traum vor, ein böser Traum, aus dem es kein Erwachen gab. Er war in Sicherheit, ihm konnte nichts mehr passieren. Außer, daß man ihn erneut mit Medikamenten vollpumpen würde, ihn in Therapien schicken würde, würde man Jack nichts antun. Ganz im Gegenteil zu den Menschen auf dem roten Planeten, der so friedlich am Horizont stand.

    Jack wußte, er hatte alles versucht um zu helfen, doch letztenendes war er doch nur wieder gescheitert. Alles was er anpackte scheiterte früher oder später. Er hatte vor etlichen Jahren seinen Job verloren, hatte seine besten Freunde im Stich gelassen und wurde von der Liebe seines Lebens derart enttäuscht, daß er durchdrehte. Er stach drei Frauen nieder; das war noch auf der Erde. Daraufhin wurde er in das Therapiezentrum auf Phobos gesteckt.

    Therapiezentrum, dachte Jack. Ein sehr schöner Name für diesen Bau, indem man gequält wird und seine Ängste nur noch schlimmer werden.

    Jack saß auf seinem Bett und betete zu Gott. Er hoffte, daß wirklich alles nur ein böser Alptraum war, den er letzte Nacht durchlebt hatte. Denn wenn es die Realität war, die sich vor seinen Augen abgespielt hatte, dann sollte er für jeden einzelnen beten.

 

 

Ein hohes Zirpen ließ das Bergungsteam aufschrecken. Richardson drehte sich ruckartig um, doch er konnte nichts erkennen.

    „Was war das?”, fragte Hooks.

    Ted Richardson zuckte nur mit den Achseln. Durch den Helm auf seinem Kopf hatte er nur ein geringes Sichtfeld, das er auf einmal einblicken konnte. Ted stand mit Hooks alleine am Markierungsfeuer und kontrollierte das Vorgehen der anderen Suchmannschaften. Diese waren zur Zeit außer Reichweite.

    Ein erneutes Zirpen, diesmal tiefer. Darauf folgte ein Plumpsen. Ted und Hooks schauten sich erneut an. Beide hörten das Geräusch, doch nur Hooks sah, was es verursachte. Er war einige Meter weiter auf die Düne gegangen, um die anderen Suchmannschaften zu erspähen. Richardson blieb am Marker stehen und schaute in die Richtung, in der Hooks stand. Als das Plumpsen ertönte, drehte sich Hooks schlagartig um. Dann konnte er sich nicht auch nur einen Zentimeter bewegen.

    Etwas war hinter Richardson gelandet. Es war groß, schwarz und hatte eigenartige Füße, die fast von einem Vogel zu stammen schienen.

    „Ted!”, rief Hooks aufgeregt, doch die Kommunikation war ausgefallen. Ein Licht leuchtete an seinem Arm und Hooks wußte, daß sein Akku leer war.

    „Richardson!”, schrie Hooks erneut und fuchtelte wie wild mit den Armen.

    Richardson sah seinen Kollegen auf der Düne auf und abspringen, wußte jedoch nicht, wieso. Er machte Zeichen, zeigte andauernd auf eine Stelle hinter Ted und hielt sich schließlich die Hand vor die Augen.

    Ted hatte keine Zeit mehr, seine Augen zu verschließen, es war zu spät. Ein schwarzer Flügel mit einer eigenartigen Klaue fuhr vor seinem Gesicht hoch und tauchte seine gesamte Umgebung in ein tiefes Schwarz. Ein tiefer Schmerz durchbohrte Richardson, als eine zweite Klaue ihm den Bauch aufschlitzte. Schlagartig wurde sein Raumanzug dekomprimiert, doch Ted erkannte gerade noch, wie seine Eingeweide auf den roten Sand quollen. Er stürzte und schaffte es, sich auf den Rücken zu drehen. Dann sah er diese Kreatur, wenn auch nur kurz. Es war ein riesengroßer Vogel, mit einem Gesicht, das mit Tentakeln besetzt war. Gräulich, weiße Tentakel zuckten auf dem Gesicht herum, als die Kreatur ihren Mund öffnete. Sie hatte keinen Schnabel, wie man ihn von einem Vogel erwartet hätte, stattdessen hatte es ein Maul, in dem unzählige Zungen herumwühlten. Eine Art dritte Klaue kam aus dem Rachen des Vogels (war es wirklich ein Vogel?) hervor und durchbohrte Jacks Helm. Das Glas zerbarst und dann zerbarst auch sein Kopf. Durch die Dekompression wurde sein Kopf größer und größer. Seine Augen quollen aus den Höhlen hervor, seine Haut riß an allen möglichen Stellen auf. Bevor Jacks Kopf explodierte schnellte die zweite Klaue erneut hervor und bohrte sich in sein Gehirn. An diesem Zeitpunkt schrie Ted das erste Mal auf, ein zweites Mal gab es nicht.

    Hooks stand immer noch wie erstarrt da und mußte mitansehen, wie Ted die Arme und Beine abgetrennt wurden. Dann hörte er ein Plumpsen hinter sich und hatte Angst sich umzudrehen. Er wußte, was ihn erwarten würde, er wollte seinem Todbringer ins Auge sehen (obwohl diese Kreaturen gar keine Augen hatten), aber er konnte sich nicht umdrehen. Dann fiel auch Hooks in einen nicht enden wollenden Schlaf.

 

 

Der Rest des Bergungstrupps wurde schnell erledigt. Nach nur zehn Minuten lagen weitere Köpfe, Arme und sonstige Gliedmaßen im roten Sand verteilt. Der Wind begann, die Überreste menschlichen Lebens mit Staub zu bedecken. Das war wohl die natürlichste Beerdigung, die man sich nur vorstellen konnte.

    Die Kreaturen waren verschwunden, und sie kamen nicht in der nächsten Nacht und auch nicht am nächsten Tag wieder. Ein weiteres Bergungsteam wurde ausgesandt, doch als man die Überreste des ersten Teams erblickte, drehte man direkt um und beschloß Verstärkung von der Erde zu holen. An diesem Tag wurde keine weitere Person getötet.

    Sie sammeln sich, dachte Jack, der in dieser Nacht schlaflos durch seine Zelle ging. Morgen oder übermorgen, wenn sie genug sind, dann werden sie angreifen.

    Thompson, der Jack einige Tage zuvor verhört hatte, wurde zum Leiter des Sicherheitskommandos der Mendra Kolonie ernannt. Seine Aufgabe war es, die Kolonie so gut es ging gegen einen Feind zu schützen, den sie nicht kannten.

    „Was glauben Sie, was wird uns erwarten?”, fragte ihn einer seiner Männer.

    Thompson antwortete, daß er dies nicht wissen könne, daß er jedoch alles dafür tun würde, die Kolonie und seine Bewohner vor jeglichen Angriffen zu schützen.

    In den nächsten Tagen sah man Arbeiter, deren Aufgabe es war, die großen Panoramafenster der Hauptkuppel zu sichern. Dicke Stahlplatten wurden vor dem Glas angebracht. Alle Eingänge wurden streng bewacht, alle Schleusen auf ihre Sicherheit hin überprüft.

    „Falls irgendeiner von Ihnen angegriffen wird”, hatte Thompson in einer Lagebesprechung gesagt, „ziehen Sie sich sofort zurück und sichern die Eingänge schnellstmöglich. Sorgen Sie dafür, daß niemand eindringen kann.”

    Es drang niemand ein, diese Nacht noch nicht. Am nächsten Tag - man wußte nur anhand der Uhr, daß es Tag war, die Sonne sah man schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr - ging Mike Vetter in seine Lieblingsbar. Es war zwar erst halb zwölf am Morgen, doch das störte Mike nicht. Ihn störte gar nichts mehr, ihn interessierte nicht, was hier vor sich ging. Als er gerade zur Tür hereintreten wollte, hörte er ein merkwürdiges Geräusch über seinem Kopf. Es klang, als wäre etwas auf dem Dach der Panoramakuppel gelandet. Mike betrat die Bar, da er meinte sich nur getäuscht zu haben. Doch dann hörte er dieses Geräusch erneut. Weitere Personen blieben stehen und schauten zum Dach hinauf, auf dem zentimeterdicke Stahlplatten lagen. Ein weiteres Plumpsen und dann ging das Licht aus. Irgendetwas mußte den Hauptgenerator der Kolonie lahmgelegt haben. Das Notaggregat sprang sofort an, und es ging ein erleichtertes Aufatmen durch die Menge, die zur Decke starrte.

    Dann folgte das Plumpsen immer schneller und schließlich fiel auch der Notstrom aus und tauchte die gesamte Kolonie in ein tiefes Schwarz.

    Die Verstärkung von der Erde war unterwegs.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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