MENDASTIN
Der Blick zur Straße gab mir nur
ein Gefühl der Ungewissheit. All die grauen Verkehrswege verschlingen die
letzten Tropfen Fröhlichkeit in dieser Welt. Doch als ich mit einem Fuß bereits
im Gange war die Straße zu überqueren, da erfassten meine Augen schon die
Quelle aller morgendlichen Arbeitsanfänge, die Bäckerei “mit Café”, so lautete
die Aufschrift über der Eingangstür.
Die gepflegte, junge Dame an der
Brottheke servierte mir auch umgehend eine Tasse schönen, heißen Kaffee, dazu
ein halbes Käsebrötchen mit einer Gurke, genau das richtige für mich.
Einen Tisch weiter, möglicherweise,
nein höchstwahrscheinlich ebenfalls der nächtlichen Stille entflohen, um den
Arbeitswahn eines Workaholic nachzuahmen, saß eine Frau, Mitte zwanzig,
vielleicht Anfang dreißig.
Ihr gelocktes, braunes Haar
bedeckte etwas ihre Augen, doch noch auffälliger als ihr nicht gerade
schlechtes Aussehen, war ihre überaus freundliche Art.
Schon beim Betreten der Boulangerie
erwartete mich ein nettes “Guten Morgen”, das entweder an meiner Ausstrahlung
oder, wie gesagt, an ihrer freundlichen Art lag.
Zumindest dauerte es keine Tasse
Kaffee später, ich las gerne Zeitung dabei und wenn ich das Blatt noch nicht
fertig gelesen hab, folgt eine Tasse nach der anderen, da fragte sie mich auch
ihre sympathische Art.
„Sind Sie
schon lange in der Stadt? Ich hab sie hier noch nie vorher gesehen.“
Na ja und obwohl ich so vertieft in
einem Artikel über das Paarungsverhalten sibirischer Eisbären war, konnte ich
ein Gespräch mit ihr nicht so einfach ablehnen.
„Ohh,
ich. Nein, nein. Ich bin erst ein paar Tage hier. -
Geschäftlich.
Was man nicht alles für seine Arbeit macht.“
„Hab
ich mir fast gedacht, und ich muss sagen, sie haben ein
Gespür
für gute Bäckereien. Ich bin hier auch fast jeden
morgen.“
Obwohl ich die Bäckerei doch nur
rein zufällig entdeckt habe, überlegte ich mir zweimal, ob ich ihr es so
erzähle wie ich sie gefunden hab, oder...
„Ja,
die Bäckerei machte von außen einen ordentlichen Eindruck
und
als ich dann noch ihr freundliches Gesicht durch die
Fensterscheibe
gesehen hab, da waren alle Zweifel beseitigt.“
„Oho,
ein Guten-Morgen-Flirt, schmeichelhaft.“
„Immer
wieder gern!“
„Ich
bin Mendastin.“
„Hübscher
Name, woher stammt der?“
„Ukraine,
meine Mutter stammt aus der Ukraine und mein Vater ist
halb Pole, halb Deutscher. Und
wie heißen sie?“
„Ich
bin...“
Nun gut, wir unterhielten uns noch
eine Weile – vergaßen völlig die Zeit. Ich fragte mich öfters, wann uns nicht
mal die Themen ausgingen, aber offenbar ergänzten wir uns so gut, dass das Ende
der einen Geschichte an eine neue erinnert.
So häuften sich die Tassen Kaffee
und ich konnte spüren wie mein Herz anfing zu rasen.
Irgendwann zwischen Christentum und
dem Tod ihrer Großmutter vor zehn Jahren, entschuldigte ich mich für die
anfängliche Unwahrheit über den Aufenthalt in der Stadt.
Eigentlich war ich ja gerade erst
mit dem Zug angekommen und wollte mich nach einer Kaffeepause auf die Suche
nach einem Hotel machen.
Sie, offenbar berühmt für ihre Stadtkenntnis,
konnte mir auch sofort das nächste Hotel, zwei Straßen weiter, empfehlen.
Den Vorschlag dankend annehmend,
bemerkte ich, dass sich das Gespräch zu mehr Vertrautheit entwickelte und das
es unvermeidlich zu einem zweiten Treffen im Cafe kommen wird, denn...
„Das
ist ja unglaublich, was sie schon alles erlebt haben. Wie
wär’s, wenn wir uns morgen wieder hier
treffen. Wie sieht’s bei
ihnen aus, haben sie Zeit?“
„Na
ja, ich werde sehen, was sich machen lässt. Sofern ihr
Hoteltipp
positiv ausfällt.“
„Wunderbar,
dann also gleiche Zeit, gleicher Platz“
„Gleiches
Lächeln.“
„Wie
sie wünschen.“
Daraufhin verließ sie die Bäckerei.
Am nächsten Morgen fand sie die
Überwindung mich zu fragen, warum ich eigentlich im Sommer noch Mäntel trage.
„Als
Kind kann ich mich noch an eine Sache erinnern.
Ich
lag auf dem Ehebett meiner Eltern, meine Mutter stand an
der
Tür und weinte. Mein Vater starb als ich fünf Jahre
alt
war und er war vernarrt in Mäntel. Du glaubst gar nicht
wie
viele er hat. Das ganze Bett war bedeckt mit den
verschiedensten
Arten und ich hab versucht einen anzuziehen.
Meine
Mutter fand den Anblick ihres 5-jährigen Sohnes scheinbar
so
amüsant, dass sie anfing zu Schmunzeln, obwohl sie noch
Tränen
im Gesicht hatte. Na ja ich glaube, das hat mich dazu
bewegt
stets Mäntel zu tragen.“
„Oh,
Entschuldigung. Das wusste ich nicht, sollte nicht Bös’
gemeint sein. Ich hab mich nur
gewundert.“
„Schon
gut, schon gut. Ist ja auch berechtigt.“
Am Tag darauf begann sie wieder zu
reden. Von der Mantelgeschichte nun deutlich unberührter, erfuhr ich von ihrem
Liebesleben, Beziehung und und und, da musste ich früher oder später, um etwas
den Redeanteil meinerseits wieder aufzufrischen, oder um ihren zu bändigen, die
Geschichte erzählen, die mir nach unserem zweiten Treffen passiert ist. Wer
kann denn schon glauben, dass ein Taxifahrer, nur weil er so gestresst ist und
durch Druck von seinem Boss, mir 100€ Wechselgeld zurückgegeben hat.
„Ich
musste nur 8 oder 9 Euro irgendwas zahlen, hatte aber bloß
Einen
Zwanziger, als ich jedoch bemerkt hab, dass der
Taxifahrer
mir anstatt eines 10-Euro-Scheins, 100 Euro gegeben
hat, war schon weg.“
„Und
was machst du jetzt mit dem Geld?“
„Mal
schauen, was sich so ergibt.“
Die junge Dame an der Brottheke war
am nächsten Morgen deutlich gestresster. Vorher hat sie nie so lange für den
Kaffee gebraucht. Warum von einem Tag auf den anderen so viele Leute Brötchen
in ausgerechnet dieser Bäckerei holen wollten, bleibt mir und der
Brotthekenfrau wohl ein Rätsel.
In der Zwischenzeit erzählte ich
Mendastin meine „gute Tat“, die ich mit den 100 Euro vollbracht hab.
„Hab
ich dir...“
Wir duzen uns mittlerweile schon.
„...
von dem Penner erzählt, der vor dem Hoteleingang immer
sitzt?
Der wurde solange ich jetzt in dem Hotel schon wohne,
mindestens
5-mal vom Hotelmanager entweder lautstark
nach
draußen und hat ihn verscheucht. So laut wie der immer
brüllt,
kann man das sogar auf dem Zimmer mitbekommen.
Naja
auf jeden Fall hab ich gestern bemerkt, dass er eine
AIDS-Schleife
trägt, und da hab ich ihm für die 100 Euro die
Schleife
abgekauft. Man soll ja nicht so egoistisch sein,
obwohl
ich ja weiß, dass er sich wohlmöglich wieder Alkohol
kauft.“
„Wie?
Du hast dem Penner für 100 Euro eine AIDS-Schleife
abgekauft?
Du hättest ihm die 100 Euro ja einfach so schenken
können.“
„Mmh,
ja hätte ich machen können, aber die Schleife erinnert
mich
immer an meine Schwester, und ich meine, für 100 Euro
seine AIDS-Schleife zu verkaufen, ist für den Penner
bestimmt
kein schlechter Tausch.“
„Ach
so, aber was ist denn mit deiner Schwester? Hat sie AIDS?“
„Noch
nicht, sie ist aber HIV-positiv, aber bisher ist die
Krankheit
noch nicht ausgebrochen.“
Eigentlich schäme ich mich dafür,
dass ich nur Unschönes aus
meinem Leben erzählen kann. Man
merkt förmlich wie es, wenn
auch nur für einen kurzen
Augenblick, die Mitmenschen berührt.
„So
ich muss auch wieder los und ach ja, morgen schaff ich es
nicht
zum Frühstück. Sagen wir dann bis übermorgen?“
„Okay,
geht klar, dann bis übermorgen!“
Übermorgen. Heute ist übermorgen
und ich sitze allein in der Bäckerei, trinke meine Tasse Kaffe und lese wieder
einen Zeitungsartikel,
„Sambawelle überflutet Eskimos“. –
Mendastin? Na ja heute nicht da.
Gestern wollte ich ausschlafen.
Gemeinsames Frühstück ging ja nicht.
Ich bin von Schüssen wach geworden,
völlig konfus noch im Halbschlaf bekam ich dann auch die Schreie mit.
Irgendetwas war vorgefallen im
Hotel und unten im Flur nahe der Rezeption angekommen, wusste ich auch was.
Vier Leichen lagen im
Eingangsbereich des Hotels.
Der Hotelmanager, tot, mit einer
Kugel im Kopf hinter dem Rezeptionsschalter, der wahnsinnige Amokläufer selbst,
in der Mitte des Ganges, hat wahrscheinlich Selbstmord begangen. Der Hotelpage
neben ihm – und – Mendastin vor der Rezeption. Sie wollte mich wohlmöglich
überraschen, und brauchte wohl noch meine Zimmernummer.
Sie lag da, regungslos. Blut am
Bauch, mitten ins Herz hat er sie getroffen, dieser Penner. Der Penner dessen
AIDS-Schleife ich am Mantel trage.
Schicksal, - Schicksal existiert
nur in der Vergangenheit.
Alles was man erlebt ist Schicksal,
zumindest kann man es hinterher erst behaupten.
„Noch
einen Kaffee, bitte.“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Florian Wichert).
Der Beitrag wurde von Florian Wichert auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2006.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Florian Wichert als Lieblingsautor markieren
Anna - steiniger Weg
von Irene Zweifel
Anna ist herangewachsen zu einer jungen Frau. Die Suche nach ihrer eigenen Persönlichkeit gestaltet sich für die adoptierte Anna nicht einfach. Wird sie es schaffen, sich den Weg - der steinig und reich an Hindernissen ist - dorthin zu bahnen, wo sie endlich inneren Frieden finden kann?
Nach «Anna - wie alles begann» beschreibt dieser zweite Teil des autobiographischen Werks von Irene Zweifel das Leben einer jungen Frau die vom Schicksal nicht nur mit Glück bedacht wurde:einer jungen Frau mit dem unbeirrbaren Willen, ihr Leben - allen Schwierigkeiten zum Trotz - besser zu meistern als ihre leibliche Mutter ihr das vorgemacht hatte.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: