Mit - Fliegen

 

Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts :

....Also, da war doch so ein Tumbler, der drehte sich tagsüber

bis in die tiefe Nacht hinein über meinem Kinderzimmer

in der Bleicherstrasse sechs, Luzern (Neustadtquartier).

Wir wohnten im sechsten Stock und es waren , glaube ich,

 etwa 12 Familien, die über meinem Kopf

 die Wäsche von Hand wuschen...

Dann benutzten sie zum Trockenen den Tumbler,

der sich ungeheuer schnell drehte. Er war am Boden festgeschraubt

und durch das "nicht Zentrische" der geschleuderten, nassen Wäsche entstand Lärm und eine Vibration, die... die Fliegen an dem Fenster im Kinderzimmer tanzen liesen.

 

Mein um mehrere Jahre älterer Bruder war Kettenraucher und das Kinderzimmer

war im Winter nicht auszulüften, da es nicht beheizbar war. Da standen zwei Betten, aber kein Tisch für Hausaufgaben und im Winter entstand eine dicke Eisschicht an dem einzigen Fenster..mit hübschen Eisblumen im Anfangsstadium ;

gegen den Morgen hin aber, entstand eine eine pelzige, dicke Eisschicht,

die aber noch etwas Licht durchlies.

 

Das wäre die Beschreibung meiner Kindheit schon gewesen, wenn da nicht noch

irgendwie am Rande der Szene meine Eltern gewesen wären, die gerne starben, bevor ich das Erwachsenenalter erreichte....was sie dann auch taten.

Auch sie litten wegen des Tumblers, aber auch an ...mir damals unbekannten Dingen...ich erinnere mich nur an Kämpfe ums Haushaltsgeld, usw. und Tränen

wegen der schlechten Wohnung.

Die beiden lärmten, weinten, zankten, schlugen zu, warfen mit Gegenständen:

Plätt-Eisen, usw., drohten, schwiegen und explodierten förmlich bei

eventuell aufkommenden Bitten und Fragen der Kinder.

Eigentlich habe ich immer auf Liebe gewartet, was ein " Erkennen" voraussetzt,

aber mein Eltern haben mich -glaube ich- nie richtig "gekannt",... sie wussten auch

nicht, wo ich den ganzen Tag war. Ich denke, sie wussten, dass ich in die

Schule ging, sie wussten aber nicht, welche Kleider ich trug, wie der Lehrer hiess und ob ich mir gelegentlich ein trocknes "Frühstück" aus dem Brotkorb herausklaubte...sie hatten andere Sorgen.

 

Eines Tages, als ich etwa 9-10 Jahre alt war und schlechte Noten in der Schule hatte,

weil ich mich dort unter 45 Klassenkameraden einerseits wegen der

schlechten Präsentation des Schul-Stoffes langweilte, geistig deshalb "abwesend"

war ...und... weil ich Strategien der Verteidigung gegen gewalttätige ältere,

schwachsinnige Schülerbanden für den Schulweg ausdenken musste...verschwand meine Mutter für Wochen. Ich ernährte mich mit dem Lohn für kleine Botengänge an den Baustellen für die dortigen Arbeiter,

sammelte Altmetall und Zeitungen, die ich verkaufte und fand essbare Gräser

auf dem Lande und sammelte Nüsse, Birnen und Aepfel beim Bauern.

 

Als meine Mutter dann plötzlich wieder erschien, weinte sie ununterbrochen,

...eigentlich nichts Neues für mich.

Neu war, dass sie mich zum Balkon zerrte und mir versicherte, dass sie mich

 nicht zurücklassen wollte, sondern, dass sie mich mitnehmen wollte.

Das war ein unerwarterter Liebesbeweis meiner Mutter mir gegenüber und ich wunderte mich und ich fühlte mich irgenwie geehrt.

"Wohin?" fragte ich mich, bevor ich merkte, dass sie sich mit mir aus dem Balkon stürzen wollte.  Ich gedachte  aber nicht mitzufliegen, glaubte ich damals doch noch, dass ich trotz Allem irgenwie  eine "Zukunft" hätte. Also zog ich meine übers Geländer kippende, erstaunlich vollschlanke, verweinte Mutter mit aller Kraft in die Wohnung zurück.

Eigentlich wollte ich damals Pilot werden. Da das Fliegen mich an meine arme Mutter erinnerte, verzichtete ich auf das Fliegen, ging zu Fuss

nach Basel um bei der dortigen damaligen CIBA  eine Lehrstelle zu suchen .

Als meine Eltern nicht mehr nur " irgendwie tot" waren, sondern richtig starben,

war ich kaum erwachsen...aber ich flog auf Frauen. Irgenwann bin ich

in einer Ehe gelandet. Familie. Das war gut. Kein Problem...:
Ich habe alles ganz anders gemacht....
habe ich aus meiner Kindheit etwas gelernt ? Ich denke schon!

 

 

***

 

c/G.E.