Michael Mews

Hokus und Pokus / Teil 2

 

 

Die blühenden Landschaften flogen an uns vorbei, als wir aus dem Fenster des Zuges blickten. Wir saßen schon seit Stunden im Zug, ein guter Freund und ich. Und wir werden noch einige Stunden hier sitzen müssen, bis wir unser Ziel erreicht haben. Inzwischen sind uns nicht nur die mitgebrachte Getränke, sondern auch die Gesprächsthemen ausgegangen. Plötzlich sagte jedoch mein Freund zu mir:

 

 

 

„Mir ist aufgefallen, dass ich Schwierigkeiten habe, mich an Ereignisse zu erinnern, die passierten, als ich fünf Jahre alt, oder noch jünger war. Geht es dir auch so?“.

 

 

Nach einer kurzen Überlegung antwortete ich: „Wenn Du möchtest, erzähle ich Dir gerne etwas darüber, was ich erlebte, als ich fünf Jahre alt war“.

 

 

„Ja, aber sehr gerne. Ich bin schon schrecklich neugierig. Fang doch endlich mit Deiner Erzählung an“.

 

 

„Also gut, ich werde beginnen. Ich sehe noch alles so vor mir, als wäre es erst gestern passiert. Meine Eltern flogen mit mir zu einer kleinen Insel, mitten im Atlantik. Am nächsten Tag, gleich nach unserer Ankunft und dem Frühstück, ging ich in den Garten, hinter unserem Bungalow und setzte mich in den Schatten. Als Lehne benutzte ich eine kleine Hecke, die den Garten zum Nachbargarten trennte. Der Wind rauschte leise durch die Palmen.

 

 

Plötzlich hörte ich Schritte hinter der Hecke und das Geräusch, das entsteht, wenn Stühle und Tische verschoben werden. Dann rief eine Frauenstimme: „Hokus, wo ist finde ich die Sonnencreme?“.

 

 

„Natürlich im Tresor“, antwortete eine Männerstimme.

 

 

„Und wo ist der Tresorschlüssel?“

 

 

„Im Gefrierfach, Pokus“.

 

 

Irgendwie kamen mir diese Stimmen bekannt vor, ja, jetzt erinnere ich mich. Diese Leute saßen im Flugzeug hinter mir. Sehen konnte ich sie nicht, aber hören, was sie sagten. Sie sprachen im Flugzeug über das Wetter und über Wolken, einige Wolken nannten sie auch beim Namen: Wolke Böserfang, Wolke Tunichgut und Wolke Scharfzahn. Ich hatte den Eindruck, als wenn sie sich vor diesen Wolken fürchteten. Danach musste ich wohl eingeschlafen sein, da ich mich an den Rest dieser Unterhaltung nicht mehr erinnern kann.

 

 

Noch immer saß ich an der Hecke und wunderte mich über die komischen Namen der Nachbarn. Der Mann heißt Hokus und die Frau Pokus. Herr Hokus und Frau Pokus. „Hokus Pokus“, sagte ich leise. „Sind unsere Nachbarn vielleicht Zauberer?“

 

 

Nun hörte ich das Klimpern vom Geschirr. „Aha, es wird gefrühstückt, besser gesagt, gespätstückt“.

 

Als das Geschirr abgeräumt wurde, packte mich eine, nicht ungewohnte Neugier. Vorsichtig schob ich einige Zweige der Hecke zur Seite, um die neuen Nachbarn auch sehen zu können. Und was sah ich: nichts, keine Nachbarn, nur den Holztisch, zwei Stühle, weiter weg einen großen Sessel aus Büffelleder und die offene Schiebetür vom Bungalow.

 

 

Ich staunte über den wirklich sehr großen Ledersessel. Das Leder war dunkelbraun und der Sessel so Groß, dass bequem drei, oder vier Personen darauf Platz gehabt hätten. Erst jetzt bemerkte ich die sehr großen, seitlichen Taschen am Sessel. Der obere Abschluss dieser Taschen wurde von Klappen, auch aus Leder, überdeckt.

 

 

„Was mag nur in diesen riesigen, geheimnisvollen Taschen sein? Kennt die Antwort nur der Wind?“

 

 

Nun wurden die Zweige der Hecke von mir so weit auseinander gedrückt, dass ich dadurch auf die Terrasse kriechen konnte. „Der erste Schritt ist immer der schwerste“. Leise, sehr leise schlich ich mich, an der offenen Schiebetür vorbei, zu dem Sessel. „Ein Glück, dass ich nicht alleine bin, meine Neugier ist ja auch bei mir“.

 

 

 

Der Flug

 

 

Auf einmal hörte ich das, was ich nicht hören wollte: Schritte hinter der offenen Tür. Ich erstarrte, blickt mich schnell suchend nach einem Versteck um, sah aber keines. Die Schritte kamen immer näher und näher, gleich mussten sie an der offenen Tür sein. Ohne zu überlegen hob ich die Lederklappe einer Tasche hoch, kletterte in die riesige, dunkle Tasche und ließ die Klappe los. Um mich war es dunkel, als der typische Ledergeruch durch meine Nase strömte.

 

 

Durch einen Spalt konnte ich sehen, was draußen passierte. Herr Hokus und Frau Pokus standen an der offenen Schiebetür, mit einem Sektglas in der Hand, je mit einem hellblauen Bademantel bekleidet, auf dem viele, in der Sonne glitzernde, blinkende kleine Sterne sich befanden. Beide waren schlank, im Gesicht leicht gebräunt und hatten auch Sonnenbrillen auf. Sie sahen einfach bezaubernd aus. Die Bademäntel hatten seitliche Taschen, in denen kleine, bunte Stäbe steckten. „Das sind bestimmt Zauberstäbe“, flüsterte ich.

 

 

Sich leise unterhaltend gingen sie an mir vorbei und machten es sich auf dem Sessel bequem. Auf einmal sprachen sie sehr laut, in einer Sprache, die ich nicht verstand und es klang so, als würden sie jemandem Befehle geben.

 

 

Vorsichtig öffnete ich die Klappe der Tasche etwas weiter, um mehr sehen zu können. „Wenn ich ganz langsam aus der Tasche klettern würde, könnte ich vielleicht ohne bemerkt zu werden, mich in das Bungalow schleichen, um dann durch die Haustür meiner Gefangenschaft zu entweichen“.

 

 

Gerade wollte ich aus der Tasche klettern, da fing der Sessel auf einmal an, sich zu bewegen, um anschließend zu schweben. Erst ganz langsam und behutsam, dann immer schneller und schneller stieg er in die Höhe. Voller Angst hielt ich mich an dem Taschenrand fest. Die Bungalow- Anlage unter mir wurde immer kleiner. Jetzt war sie nur noch so groß, wie eine Briefmarke und schon befanden wir uns hoch über den Wolken, so dass ich unter mir nichts mehr erkennen konnte. Durch die grauen Wolkenfetzen sah ich bald das große, dunkelblaue, offene Meer.

 

„Hoffentlich stürzen wir nicht ab. Ob Herr Hokus und Frau Pokus angeschnallt sind? Und wo fliegen wir eigentlich hin und wie komme ich zurück zu meinen Eltern? Soll das hier die Strafe für meine Neugier sein? Ach, wäre ich noch nur nicht so neugierig gewesen“, sagte ich, voller Angst und sorgenvoll.

 

 

Die Zeit verging wie so, wie wir uns bewegten, wie im Fluge, als die Müdigkeit zu mir kam und mich mit einem Schlaf zudeckte.

 

 

 

Der Garten

 

 

Als ich aufwachte, streckte ich mich in der dunklen Tasche, hob die Lederklappe etwas an und schaute vorsichtig raus. Staunend betrachtete ich das, was ich sah. Das Sofa war gelandet, stand auf einer kleinen, saftiggrünen Wiese, die von hohen Bäumen und einigen Blumenfeldern begrenzt war. Weiter hinten stand ein kleineres Gebäude, aus behauenem Felsgestein mit vier Türmchen.

 

 

Ich kletterte vorsichtig aus der Tasche, blickte mich um, aber weder Hokus, noch Pokus war zu sehen. Mutig sagte ich zu mir: „Ich möchte wissen wo ich bin, also ist eine Erkundung angesagt“. Mehrmals ging ich, kreuz und quer, durch den wunderschönen Garten, aber jedes Mal stand ich nach zehn Minuten vor einem sehr steilen Abgrund, an dem tief unten die Brandung des Meeres wild gegen die Felsen spritzte, während nur etwas unter mir Wolkenfetzen, wie geheimnisvolle Geister, vorbei flogen.

 

 

Der milde Wind trug von den bunten Blumenfeldern süße Düfte zu mir und die Blätter der Bäume rauschten so, als würde ein Orchester leise Musik spielen.

 

Nun entdeckte ich einen Baum mit Blättern, die etwas größer waren als ich, so aussahen wie Hängematten und sich sehr weich anfühlten.

 

 

In ein besonders tief hängendes Blatt legte ich mich, genoss den Wind, der mich sanft schaukelte, als plötzlich eine leise Stimme zu mir sprach:

 

 

„Du brauchst Dich nicht zu erschrecken, alle Bäume hier oben können sprechen. Wenn Du dich in unterschiedliche Blätter legen würdest, könntest du auch unterschiedliche Geschichten hören. Da ich glaube, dass du wenig Zeit hast, daher erzähle ich dir keine Geschichte, sondern etwas über diesen Ort, an dem du dich befindest.

 

 

Die Felsen bestehen unter den Wolken aus einem sehr klaren Kristall, daher ist diese Insel vom Schiff aus nicht zu entdecken. Der letzte Besucher, den Hokus und Pokus mitbrachten, kam vor über achthundert Jahren. Zu dieser Jahreszeit wird die Insel oft von unfreundlichen Winden besucht, daher bleiben die Zauberer nur ganz kurz hier, um nachzusehen, ob hier alles in Ordnung ist. Bestimmt werden sie bald wieder zurück fliegen, also beeile dich und klettere wieder in die Tasche. Und vor den Zauberern brauchst du keine Angst zu haben, das sind wirklich sehr freundliche Zauberer. Ich wünsche dir viel Glück“.

 

 

„Danke, lieber Baum“, sagte ich und sprang aus dem Blatt, lief zum Sessel, um wieder in die Tasche zu klettern. Gerade wollte ich in die Tasche klettern, da drehte ich mich um, damit ich einen Blick auf das Schloss werfen konnte.

 

 

 

Das Schloss

 

 

Ich traute meinen Augen nicht, denn das, was ich nun sah war für mich einfach unheimlich. Meine knie fingen leicht an zu zittern, an der Lehne vom Sofa mich festhaltend, merkte ich, wie die Angst und das Grauen von meinem Körper Besitz ergriff. „Ich möchte wieder bei meinen Eltern sein“, sagte ich, fast weinend, während ich immer noch auf den Horizont starrte und der Wind heftig mit meinen Haaren spielte.

 

 

Am Horizont schoben sich pechschwarze Wolken hoch, auch das Meer unter diesen Wolken war schwarz, wurde aber kurz durch zuckende Blitze erhellt. Den Donner konnte ich noch nicht hören, aber diese Wolken schienen Gesichter, besser gesagt: grauenhafte Fratzen zu haben und sie kamen schnell näher.

 

 

Von Angst und einer bösen Vorahnung getrieben rannte ich zu dem Schloss, hämmerte mit meinen Fäusten gegen die Eichentür, die sich schnell öffnete. Vor mir stand Hokus, er packte mich an der Schulter, riss mich in das Schloss und schlug hinter mir krachend die Tür zu.

 

 

Staunend standen Hokus und Pokus vor mir. „Schnell, wir haben wenig Zeit, erzähl uns, wie du zu uns gekommen bist“, sagte Pokus. Als ich mit meinem Bericht fertig war, sagte Pokus:

 

 

„Zu dieser Jahreszeit wird die Insel oft von den Wolken Böserfang, Tunichgut und Scharfzahn besucht. Das sind mörderische, grausame Wolken, die gerne das machen, was für uns ungesund ist, wenn ich das so höflich sagen darf. Wir haben nur eine Chance, wenn wir sofort zum Sofa rennen und starten“.

 

 

Dann packte Hokus mich wieder an der Schulter, öffnete hastig die Tür, rannte mit mir zum Sofa, während Pokus die Tür verriegelte und uns dann folgte.

 

 

 

Der Heimflug

 

 

Nur zwanzig Meter vor uns stand das Sofa, über uns waren inzwischen die pechschwarzen Wolken, als es zu regnen begann. Der Regen entwickelte sich rasant  zu einem Wasserfall, Hagelkörner, so groß wie Kürbisse schlugen geräuschvoll neben uns ein, begleitet von blendenden Blitzen, die uns nicht trafen, gefolgt von einem Ohrenbetäubendem, grollenden Donner. Ich kämpfte gegen den tosenden, schreienden Sturm, der mich umwerfen wollte. Hokus packte mich am Kragen, hob mich hoch und stopfte mich in die Seitentasche vom Sofa. Kurz blickte ich aus der Tasche, als das Sofa sich erhob und mein Herz blieb stehen, mein Blut schien zu gefrieren und die Gänsehaut besuchte mich, als vor mir eine grauenhafte Fratze mich anstarrte, den Mund öffnete und versuchte, mich aus der Tasche zu saugen. Krampfhaft hielt ich mich an der Tasche fest, aber ohne Erfolg. Stück für Stück rutschte ich durch den Sog aus der Tasche, wirbelte durch die Luft, begleitet von Blitzen und dem Donner.

 

 

Der Donner zerriss mein Herz, dann wurde er immer leiser und leiser, während die Grauenhafte Fratze mich weiter anstarrte und wieder das Maul öffnete. Ich spürte erneut den Sog, hörte auch den leisen Donner, der plötzlich zu sprechen anfing.

 

 

„Das Mittagessen ist fertig“, erklang sehnsuchtsvoll eine vertraute Stimme. Ich rieb mir die Augen, angelehnt an der kleinen Hecke und rannte freudig in die Küche.

 

 

„Soll ich noch weiter erzählen?“, fragte ich meinen Freund, der neben mir saß, aber eingeschlafen war.

 

 

„Bei so einer langweiligen Geschichte würde ich auch einschlafen“, sagte ich und kuschelte mich in meinen Sitz.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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