Michael Mews

Holland Park

Schon seit zwei Tagen bin ich im nebeligen und regnerischen London, etwas früher, als eigentlich geplant war und habe zum Glück auch gleich eine preiswerte Pension, am Redcliffe Square, in der Nähe vom Earls Court gefunden.

 

 

Mit einer Freundin hatte ich mich in London verabredet, aber sie war noch in Wisconsin und wird erst in drei Tagen hier landen können.

 

 

Daher entschloss ich mich, die Wartezeit mit einer Erkundung der Gegend zu nutzen.

 

 

Es war schon am späten Nachmittag, als ich durch die Straßen und den Lärm des Berufsverkehrs schlenderte. Eine nördliche Richtung schlug ich ein, um mich besser orientieren zu können.

 

 

Verwundert bemerkte ich, das an vielen älteren Ziegelhäusern die Abwasserleitungen aus der Fassade kamen, ein Stück runter liefen, um dann wieder in der Fassade zu verschwinden. „Sind das die Adern der Häuser?“, dachte ich.

 

 

Gerade wollte ich mich umdrehen, um den Rückweg anzutreten, als ich vor mir einen Park bemerkte. Meine Neugier packte mich und ich ging weiter. „Holland Park“ stand auf einem schmutzigen, angerosteten Schild.

 

 

Durch die herbstlichen Bäume, mit ihren wenigen Blättern konnte man den rötlichen Sonnenuntergangshimmel sehen. Es war fast windstill und leise, sogar die Vögel zwitscherten nicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich der einzige Gast in diesem Park war.

 

 

Bald hatte ich das Parkende erreicht, als die Dämmerung hereinbrach, die Luft kühler und die Schatten der Bäume dunkler wurden.

 

 

Nun wollte ich den Rückweg antreten, um noch vor der Dunkelheit die Pension erreichen zu können, da sah ich vor mir ein helles, offenes Fenster, aus dem viele, murmelnde Stimmen zu mir kamen. Ein Gasthaus. Sofort spürte ich eine Trockenheit in meiner Kehle. „Noch ein Guinness, und dann ab nach Hause“, sagte ich fröstelnd.

 

 

Das Haus wirkte sehr alt und heruntergekommen. Zögernd öffnete ich die quietschende Eichentür dieser Spelunke, ging durch den rauchigen Dunst und dem Gemurmel an den Gästen vorbei, die mich nicht beachtete, stellte mich an den Tresen und bestellte ein Guinness.

 

 

Der Wirt war kleiner als ich, Besitzer eines dicken Schwabbelbauches, als Kontrast zu seiner Glatze unrasiert und mit schmutzigen Händen. Sein Hemd war fleckig, passend zu den Händen. Auf der linken Wange lief eine Narbe, über das Auge, das halb geschlossen war, bis zur Glatze hoch. An der rechten Hand fehlten drei Finger.

 

 

„Ob er ein Glasauge hat?“, überlegte ich. „Warum sind eigentlich die Glasaugen aus Glas, damit man besser durchschauen kann?“.

 

 

Angelehnt am Tresen, drehte ich mich um und betrachtete durch den Dunst die Gäste, als der Wirt das Guinness vor mir auf den Tresen stellte, das Geld einsteckte und mit einer tiefen Stimme sagte: „Bitte sehr“.

 

Die Gesichter und die Konturen der Gäste konnte ich in diesem dämmrigen, dunstigen Licht nur undeutlich erkennen. Wortfetzen trafen mich aus unterschiedlichen Richtungen.

 

 

Jemand schlug mit seiner Hand auf den Tisch und sagte, begleitet von einem lauten Gelächter, Sätze, die ich nicht verstehen konnte. Dabei blickte er mich grinsend an. Sein Mund war zahnlos.

 

 

Ich trank das Bier aus und fühlte mich plötzlich beobachtet. Leicht drehte ich den Kopf nach links, sah einen Mann mit langen, schwarzen Haaren, unrasiert, die Zigarette im Mund, in einer abgewetzten Lederjacke, mit einem mürrischen Gesichtsausdruck, mich mit seinen kalten Augen  anstarrend.

 

 

Als ich diese Spelunke verließ, genoss ich es, frische, rauchfreie Luft einatmen zu können. Schon war ich wieder im Hollandpark, auf dem Weg nach Hause und freute mich so sehr auf das warme Zimmer.

 

 

Es war Nacht geworden. Nur durch das spärliche Mondlicht, zwischen den Wolkenfetzen, konnte ich den Weg erkennen und die schwarzen Bäume sahen wie große, bedrohliche Monster aus. Meine Schritte knirschten laut auf dem sandigen Weg.

 

 

Aber nicht nur das ängstliche Gefühl begleitete mich, denn plötzlich hörte ich schnelle Schritte hinter mir, ich drehte mich erschrocken um und sah einen Schatten, der auf mich zukam.

 

 

Mit beschleunigten Schritten ging ich weiter, merkte aber sofort, dass auch der Schatten seine Schritte beschleunigte.

 

 

„Mach dir nur keine Sorgen“, sagte ich beruhigend zu mir. „Die Person hinter mir geht bestimmt auch zu seiner Wohnung und dieser Park ist der kürzeste Weg für ihn. Aber warum hat er auch seine Schritte beschleunigt?“

 

 

Wieder drehte ich mich um, sah, dass er immer näher und näher kam und nun fühlte ich schlagartig panische Angst und fing an zu rennen. Ich rannte so schnell ich konnte.

 

 

Auch der Schatten fing an zu rennen. Und ich hörte die Geräusche seiner schnellen Schritte, Tschot.. Tschot.. Tschot…

 

 

„Das darf doch nicht wahr sein! Was will der blöde Kerl nur von mir? Mich ausrauben? Oder hat er etwa Spaß an ungesunden Grausamkeiten?“ In Gedanken sah ich schon die Schlagzeilen den
 Morgenzeitungen: „Brutaler Mord im Holland Park“. „Der Mondlichtschlitzer war wieder unterwegs“.

 

„Grauenhafte Blutspuren im Holland Park… wer war das Opfer?“

 

Tschot.. Tschot.. Tschot… Die Schritte kamen immer näher. In Todesangst versuchte ich noch schneller zu rennen

 

 

Entsetzt hörte ich jetzt seinen keuchenden Atem hinter mir und im gleichen Moment packte mich seine kraftvolle Hand am Kragen, hielt mich so fest, dass ich nicht weiter rennen konnte.

 

 

Nun standen wir uns gegenüber.

 

 

Der Mann mit den schwarzen, langen Haaren aus der Spelunke stand, schnell atmend, vor mir, der Schweiß lief über sein Gesicht und glänzte im Mondlicht.

 

 

Ich spannte alle Muskeln an und war nun bereit für diesen Nahkampf.

 

 

Schnell fasste der Schwarzhaarige mit seiner Hand in die Jackentasche und holte einen Gegenstand hervor.

 

 

Das konnte nur ein Messer, oder eine Pistole sein.

 

 

Er streckte seine Hand mit diesem Gegenstand in meine Richtung, öffnete sie und ich traute meinen Augen nicht! Das darf doch nicht wahr sein!

 

 

In seiner Hand lag mein Portmonai!

 

 

„Du hast das vorhin vergessen mitzunehmen“, sagte er. Sprachlos nahm ich es aus seiner Hand, wollte mich bei ihm bedanken und ihm auch noch einen Geldschein geben, als er sagte: „ Ich muss sofort zurück, sonst trinkt jemand mein Bier aus“. Er drehte sich um und ich hörte nur noch das Tschot.. Tschot.. Tschot…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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