Die Legende vom Weihnachtsmann
Schon seit Tagen saß Opa Karl in seinem alten Schaukelstuhl vor dem Fenster und schaute gedankenvoll in die Weite der hügeligen Landschaft. Der Herbst zeigte sich in seiner herrlichsten Pracht. Unter großen alten Bäumen sah er die Kinder mit Eimern und Körben Kastanien sammeln.
Es sprach sich wie ein Lauffeuer in der
ganzen Welt herum, dass die Weihnachtsmänner dieses Jahr
streiken wollen. Die Ticker der Nachrichtensender liefen heiss und
die Meldungen im Rundfunk lauteten zu jeder vollen Stunde:
"Weihnachtsmännerstreik in
der ganzen Welt. - Sie haben sich einstimmig entschlossen, die Kinder
nicht mehr zu belügen. - Proteste der Eltern und anderer
Institutionen schreitet weiter fort. - Geschäftsschädigende
und gewissenlose Weihnachtsmänner wollen nicht mehr zu den
Kleinen kommen."
Plötzlich stürmte seine Frau
ins Zimmer.
"Karl!", rief sie ganz
aufgeregt, "Vor dem Haus stehen ganz viele Zeitungsleute und
wollen Dich sprechen. Was hast Du gemacht?".
"Nichts Besonderes, nur alle
Weihnachtsmänner aufgefordert, nicht mehr die kleinen Kinder zu
belügen!", sagte er selbstbewusst und drehte sich von Hanna
weg.
"Das darf doch nicht wahr sein!
Ich habe schon so viele Aufträge für Weihnachten angenommen
und habe sie wie immer in das rote Weihnachtsbuch geschrieben. Schau
doch mal rein!", sagte sie sehr ungehalten und eilte davon.
Währenddessen klopfte es immer
lauter an die Tür und das Stimmenwirrwarr drang mehr und mehr
ins Haus. Draußen erschallten Rufe wie:
"Weihnachtsmann komm heraus!"
- " Weihnachtsmann rede mit uns!".
Opa Karl erbarmte sich nach einiger
Zeit und trat vor die Tür. Nur mit Mühe und mit erhobenen
Armen konnte er die neugierige Meute in Schach halten, die versuchte,
ins Haus einzudringen.
"Ruhe bitte und hört gut zu,
ich erkläre es euch!", rief er mit seiner kräftigen
Stimme. So langsam legte sich die Aufgeregtheit und alle Augen waren
auf ihn gerichtet. Ungeduldig rief ein Reporter aus der Menge:
"Warum wollen Sie und alle anderen
kein Weihnachtsmann mehr sein, und warum brechen Sie plötzlich
mit dieser Tradition?"
"Seit Jahrzehnten werden die Kinder belogen, denn es gab doch nie einen echten Weihnachtsmann und wird ihn auch niemals geben. Er ist, wie ihr ja alle wisst, eine Erfindung der amerikanischen Firma Coca Cola, die ihn für Werbezwecke entwerfen und zeichnen ließ. Ich will einfach keine Kinder mehr belügen und habe deswegen all die anderen um eine Stellungnahme gebeten. Wir sind uns nun darin einig geworden, dass diese Lüge ein Ende finden soll!", verkündete Karl ganz sachlich den verblüfften Zuhörern.
"Ja, aber wie sollen die Eltern es
ihren Kindern sagen, die sicherlich sehr enttäuscht sein werden,
wenn sie hören, dass es plötzlich keinen Weihnachtsmann
mehr gibt?", fragte ein besorgter Reportervater.
"Sagt ihnen einfach die
Wahrheit!", erwiderte Karl, "Sie werden es schon verstehen.
Außerdem hören doch alle Kinder gerne neue Geschichten!".
Still wurde es, und Karl sah in
nachdenkliche Gesichter, die sich langsam von ihm entfernten. Er ging
ins Haus zurück und vernahm durch das offene Fenster die Worte:
"Der hat ja irgendwie recht!" und "Es stimmt, überall
wird so viel gelogen, sogar zu Weihnachten!".
Ein befreiendes Lächeln huschte
über sein Gesicht und zufrieden setzte er sich in den
Schaukelstuhl vorm Fenster. In diesem Moment rief der kleine
Nachbarsjunge Michel durch das noch offenen Fenster:
"Opa Karl, hast Du schon gehört,
dass der Weihnachtsmann nicht mehr kommt?".
"Ja, mein Junge!".
(C) Heidrun Gemähling
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.10.2006.
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