Johanna Bambeck

Einfach zu spät

14.09.2006


Der Zug schnaubte. Er war zum Stillstand gekommen.
In dem kleinen Hotelzimmer am Bahndamm stand der Mann am Fenster und beobachtete die Rauchwölkchen seiner Zigarette wie sie unaufhörlich in dampfenden, durchsichtig werdenden Wogen, dem sonnenbeschienenen Himmel entgegenflogen.
Sie hatte es ihm gesagt. Als der Zug langsam in den Bahnhof einfuhr und unter quietschen und ächzen zum stehen gekommen war, hatte sie es ihm erzählt. Jetzt starrte er aus dem Fenster auf den Bahnhof. Sie saß in dem gemütlichen Sessel und war scheinbar in ihr Buch, aber in Wirklichkeit in ihre Gedanken vertieft. “Oh mein Gott. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass er so reagiert. Wenn er doch nur wütend und aufbrausend durchs Zimmer laufen, wenn er bloß schreien, oder traurig losheulen würde. Aber nein er steht da einfach und sagt nichts. Nicht einen Ton. Diese Stille macht mich ganz krank. Er könnte sich doch eigentlich auch für mich freuen. Immerhin bin ich schon fast 40 und bekomme trotzdem noch die Chance Leben zu schenken. Aber jetzt habe ich ihm entgültig den Beweis für meine Untreue geliefert. Er kann ja einfach nicht mehr so wie er gern will. Ich habe das ja auch nicht gemacht um ihn zu verletzen. Ich liebe ihn wie am ersten Tag. Doch ich habe nun mal den Wunsch nach einem Kind und wenn es nicht mit ihm ging musste ich mir ja Ersatz suchen. Was hätte ich denn tun sollen?“
Der Zug nahm Fahrt auf. Langsam schleppte sich die alte Dampflok mit den vielen Wagons um die Kurve die direkt vor dem Hotelzimmerfenster vorbeiführte.
 
 
Von Gedanken seiner Frau bekam er nichts mit. Er machte sich auch nicht die Mühe sie zu verstehen. Er wollte es auch nicht. Für ihn galt nur der Verrat. Und der war so stark, dass es ihm vorkam als könne er niemals wieder Vertrauen zu einer Person entwickeln. Für ihn war es vorbei. Wenn er unter ein Kind, egal von wem, gestellt wurde, und das von seiner eigenen Frau, war es einfach zu spät.
 
 
Sie stand auf und ging auf ihn zu um ihn in den Arm zu schließen. Nicht aus Mitleid, sondern um eine Versöhnung herbei zu führen. Er wandte sich ab und ging aus dem Zimmer. Er stieg die Treppen bis in die Lobby des Hotels hinunter und checkte aus.
 
 
Auf dem Bahnhof lief eine Frau, aufgeregt winkend den Bahnsteig entlang. Doch es war zu spät. Einfach viel zu spät. Der Zug war abgefahren.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Andreas ist seit seiner frühesten Kindheit mit einer schweren unheilbaren Krankheit konfrontiert und musste den größten Teil seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbringen..Das Aufschreiben seiner Geschichte ist für Andreas ein Weg etwas Sichtbares zu hinterlassen. Für alle, die im Sozialbereich tätig sind, ist es eine authentische und aufschlussreiche Beschreibung aus der Sicht eines Betroffenen.

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