Germaine Adelt

Streicheleinheiten

            Es machte sie wahnsinnig, dass sich immer wieder jemand fand, der in ihr Büro kam, um irgendetwas Schlaues von sich zu geben oder zu tun. Zu gern hätte sie angeordnet, ungestört zu bleiben. Aber sie hatte keinen belegbaren Grund dafür und so ließ sie es. Ihr blieb die Hoffnung, ihre Haltung zu behalten und nicht doch noch irgendwann irgendjemanden anzufauchen.  

            Also versuchte sie in regelmäßigen Abständen ein Lächeln, auch wenn sie allein im Zimmer war. Sie war dermaßen uninspiriert, dass sie sich erneut fragte, ob dies nicht schon die ersten Anzeichen von Alzheimer waren. Seit bei ihrer Großmutter diese Erkrankung festgestellt worden war, war sie fest davon überzeugt, dass es sie ebenso treffen würde. So, wie sie ihr Schreibtalent vom Großvater geerbt hatte. Dem anderen zwar, aber vielleicht war es die Mischung, die ihr irgendwann zum Verhängnis werden würde. 

            Manchmal wusste sie einfach nicht mehr, was sie gerade getan hatte oder tun wollte. Immer öfter erschien ihr der Kopf einfach nur leer und die permanente Müdigkeit ließ sich auch nicht länger durch übermäßigen Kaffeegenuss kaschieren. Stöhnend rieb sie sich die Augen und starrte erwartungsvoll aus dem Fenster. Vielleicht war sie ja dort verborgen, die Idee, die sie so dringend brauchte. Ihr fehlte eigentlich nur der Aufhänger. Dann würde sich der Artikel von alleine schreiben. Aber ihr wollte einfach nichts einfallen.  

 

            Michael kam herein und sah sie herausfordernd an, wie so oft mit seinem unverkennbar süffisanten Lächeln. Ihre Toleranzgrenze war längst erreicht und sie ahnte, dass es nun auf eine Konfrontation hinauslief, sofern er sie provozieren sollte. Etwas, das ihm neuerdings sichtlich Vergnügen bereitete. Es war inzwischen so weit, dass sie seine Stimme schon von weitem fürchtete, aus Angst, es könne zu einem Eklat kommen. Eine Auseinandersetzung, in der sie hoffnungslos unterlegen wäre. Nicht weil er zehn Jahre älter und ihr Chef war, sondern weil sie ihm in Rhetorik und Erfahrung nicht ansatzweise das Wasser reichen konnte.

            Er lächelte noch immer und sagte dann fast mitleidig: „Na du?“

            „Hör zu, in einer halben Stunde …“, begann sie sich zu verteidigen.

            Wie zufällig schloss er die Tür hinter sich, so dass sie alleine waren. So lange sie in dieser Firma arbeitete, war dies noch nicht vorgekommen, und sie fragte sich einen Moment lang, ob sie ihn zu Unrecht all die Zeit als loyal eingeschätzt hatte. Tausend Dinge schossen ihr durch den Kopf, hauptsächlich die Frage nach einer Schuld, die sie unabsichtlich auf sich geladen haben könnte.

            Noch immer stand er an der Tür und sah sie derart durchdringend an, dass sie dem Blick irgendwann nicht mehr standhalten konnte.

            „In vierzig Minuten kommt Gruber und wenn der Artikel nicht umwerfend …“

            „Ich weiß“, brummte sie mürrisch.

            „Was brauchst du?“

            Ungläubig sah sie ihn an: „Was meinst du?“

            „Sag es einfach!“, forderte er.

            Sie hasste es, dass er in ihre Seele sehen konnte und Bedürfnisse erkannte, die sie selbst noch gar nicht definiert hatte.

            „Okay“, witzelte sie. „Streicheleinheiten, einen schalldichten Raum und die Lizenz zum Töten für jeden, der mich noch mal stört.“

            „Bekommst du. Reichen dir zwanzig Minuten?“

            Verwundert nickte sie nur.

            „Na gut.“ Er hatte sein Lächeln wieder. „Definiere Streicheleinheiten.“

            „Wie du willst“, sagte sie leichtfertig. Und ehe sie sich versah, stand er neben ihr und legte seine Hand in ihren Nacken. Dann küsste er sanft ihre linke Wange und ließ sie sprachlos zurück.

 

            Noch in der Tür stehend ließ er seine laute, kräftige Stimme über den Flur schallen:      „Vielleicht ist hier bald mal Ruhe, wir sind hier nicht im Hühnerstall! Und wer in der nächsten halben Stunde das Büro von Lena betritt, wird von mir persönlich erschossen!“

            Demonstrativ knallte er ihre Tür zu und von dieser Sekunde an trat tatsächlich schlagartig Ruhe ein.

 

            Sie genoss diese plötzliche Stille, die auch etwas Beängstigendes hatte. Aber es war einfach angenehm, für einen Moment diese absolute Lautlosigkeit zu spüren. Nicht einmal den eigenen Atem zu hören, einfach nur unendliche Stille. Natürlich war es eine Frage der Zeit, wann sie die Zivilisation wieder einholen und irgendein Telefonklingeln, Tiefflieger oder Straßenlärm eben jene Stille zerreißen würde.

            Sie sah aus dem Fenster und fragte sich, ob die Zeit einfach stehen geblieben war. So, wie man es sich im Leben ab und zu wünschte und wie es oftmals in Filmen gezeigt wurde. Die Blätter der Linde bewegten sich fast unmerklich im Wind, aber sie bewegten sich. Sie starrte aus dem Fenster und fragte sich, wann sie wohl enden würde, diese Stille. Gleichzeitig wünschte sie sich, ihre Gedanken abstellen zu können, und es gelang ihr tatsächlich für einen Moment. So saß sie nun da, lächelnd und in Erwartung eines störenden Geräuschs. Ihre Ohren gespitzt hielt sie den Atem an, um auch den leisesten Ton wahrnehmen zu können. Aber da war noch immer nichts.

 

            Verträumt starrte sie auf das Display der Uhr: 13:44:07. Noch zehn Minuten.  Und während die Uhr immer weiter lief, wurde ihr klar, dass es nie wieder diesen Dienstag, 13:44:07 geben würde.

            Einen ähnlichen vielleicht, vielleicht einen nächstes Jahr oder in zehn Jahren. Aber dieser Moment war unwiederbringlich verloren. Für sie stand noch nicht fest, ob er einmal bedeutungsvoll oder bedeutungslos werden würde. Doch da draußen in der Welt würden viele den Moment nicht vergessen. Vielleicht wurde jemandem gerade ein Kind geboren, vielleicht verlor irgendwer gerade sein Kind durch einen Unfall oder ein anderes tragisches Ereignis. Vielleicht begann gerade irgendwo eine ganz große Liebe und ein paar Kilometer weiter endete eine in diesem bedeutungsschwangeren Moment. Vielleicht hatte irgendein Träumer gerade eben die Idee seines Lebens, die er umsetzen und die ihn unsterblich machen würde. Vielleicht hatte ein anderer Träumer endgültig beschlossen sein Leben zu beenden. Und keiner konnte ihn aufhalten, da es keinen so richtig kümmerte.

 

            „Und?“, fragte er leise.

            Sie hatte ihn gehört, aber nicht darauf reagiert, als er das Zimmer betreten hatte, um den Satz, der noch in ihrem Kopf  umherschwirrte, aufs Papier zu bringen.

            Dann legte sie demonstrativ den Kuli weg, sammelte die beschriebenen Blätter zusammen, um sie ihm zu überreichen. Voller Spannung las er die vielen Zeilen und schüttelte dann unmerklich mit dem Kopf.

            „Wie machst du das bloß?“, fragte er voller Anerkennung.

            „Streicheleinheiten!“, erklärte sie schmunzelnd. „Eigentlich ganz einfach.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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