Germaine Adelt

Château Margaux

            Schon lange erwartete sie, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben. Und so lag sie jeden Abend im Bett und überlegte, ob sie alles fertig hatte – angemessen für das Totsein.

Immer dann, wenn sie es selbst absurd fand, auf den eigenen Tod zu warten, kam ihr Herzschlag aus dem Takt. Ihr Herz hörte für einige Sekunden auf zu schlagen, um dann mit doppeltem Tempo das Versäumte wieder einzuholen.

            Sie war sich sicher, dass ihr Ende bevorstand, auch wenn die Ärzte nichts fanden. Zumindest sagten sie das. Aber schon als Kind hatte man bei ihr nie eine Ursache für ihr Asthma gefunden. Von daher war sie es gewohnt, dieses Achselzucken der Leute in Weiß, die immer etwas von angeschlagener Psyche erzählten und sie unermüdlich zu einem Psychiater schicken wollten. Als ob ihre Herzbeschwerden psychisch bedingt wären. Niemand glaubte ihr und so ergab sie sich dem Schicksal. Und seit Kindertagen, wenn ihr die Asthmaanfälle die Luft nahmen, wusste sie, was es hieß, Todesangst zu verspüren.

 

            Also trank sie wie jeden Abend ihre heiße Milch, in der Hoffnung, wenigstens schlafen zu können und so womöglich den eigenen Tod zu verschlafen. Heute waren ihre Herzbeschwerden wieder so schlimm, dass sie sich wünschte, nicht mehr aufzuwachen.

            Als sie die Treppe in ihr Schlafzimmer hinaufging, zählte sie besorgt die Stufen ab, die sie noch zu bewältigen hatte. Gleichzeitig versuchte sie abzuschätzen, ob sie es bis ins Schlafzimmer schaffen konnte. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ihr Kreislauf wurde immer schwächer und sie spürte förmlich, wie sich ihre Blutgefäße immer mehr weiteten. Doch dann hatte sie es geschafft. Erschöpft fiel sie auf das Bett und wartete darauf, dass sich alles wieder normalisieren würde wie sonst auch immer.   

            Erwartungsvoll starrte sie an die Decke. Bereit, gleich wieder aufzustehen, sobald ihr Kreislauf wieder einigermaßen funktionierte. Aber es besserte sich nicht. Nach wie vor fühlte sie die drohende Ohnmacht und langsam ergriff sie die Panik. Sie lebte allein, es war spät am Abend und für den Moment wusste sie nicht, ob sie tatsächlich Hilfe holen sollte. Unwillkürlich pumpte sie ihre Lungen voll Luft in der Hoffnung, dass der Sauerstoff ihren Zustand bessern würde. Doch es schien, als würde sich alles nur verschlimmern. Mit weit aufgerissenen Augen lag sie da und überlegte, was zu tun sei. Noch nie war sie in solch einen Zustand geraten. Immer hatte ein Hinlegen sofortige Besserung gebracht. Angestrengt dachte sie darüber nach, was die Ursache sein könnte. Aber weder Alkohol kam in Frage noch eine Lebensmittelvergiftung.

            Es war als probte ihr Körper das Sterben. Immer öfter fiel er einfach aus, versagte seinen täglichen Dienst. Es waren die banalen Dinge, die sie aus dem Gleichgewicht brachten. Hin und wieder vergaß sie nicht nur, was sie gerade getan hatte, sondern auch Tag und Jahr. Der Magen rebellierte immer öfter nur beim Anblick von Essen und ihre Ohnmachtsanfälle nahmen deutlich zu. Mehr und mehr zog sie sich zurück, aus Angst, derartige Ausfälle hilflos in der Öffentlichkeit zu erleben. Diese Form der Aufmerksamkeit wollte sie auf keinen Fall erhalten. Vor allem dann nicht, wenn mal wieder ihre Hände unkontrolliert zitterten wie bei einer alten Frau. Dabei hatte sie noch nicht einmal die vierzig erreicht. Die Ärzte wussten keine Antwort und irgendwie hatte sie es erwartet. Es war, als wolle ihr ihre Seele etwas sagen, als redete eine innere Stimme unentwegt auf sie ein. Doch sie konnte die Stimme nicht verstehen und so rebellierte der Körper immer weiter gegen ihre Taubheit.  

            Immer öfter fragte sie sich, was falsch lief in ihrem Leben, und sie wusste keine Antwort. Sie hatte alles erreicht und gleichzeitig auch nichts. Sie hatte immer wieder gegen alle Widrigkeiten des Lebens gekämpft und war so unendlich müde.

 

            Vielleicht lag es daran, dass man nicht aufhörte, Hendrik zu suchen. Hendrik, der sie in Jugendtagen vergewaltigt hatte. Fast zwanzig Jahre war es nun her. Eigentlich waren es ja drei Peiniger gewesen. Hendrik, Klaus und Dirk. Aber Dirk und Klaus waren vor über acht Jahren auf ungeklärte Weise beim Angeln ertrunken und dies, obwohl sie als hervorragende Schwimmer galten. Regelmäßig war sie dann zum Friedhof gegangen. Nur um sich zu vergewissern, ob sie noch immer da lagen und niemandem mehr Schaden zufügen konnten.  

            Eines Tages stand dann Hendrik neben ihr am Grabstein und in seinen Augen konnte sie sehen, dass er keinerlei Reue zeigte, keine Schuldgefühle hatte, ja sich vielleicht gar nicht mehr an die Tat erinnerte. Vermutlich, weil er es als Kavaliersdelikt einstufte und er somit keinen Gedanken mehr daran verschwendete.

 

            Sie hatte ihn dann auch nicht darauf angesprochen, auch nicht als er noch zu einer Tasse Kaffee mit zu ihr nach Hause kam, um über alte Schulzeiten zu plaudern. Das schmerzliche Thema ließ sie aus. Wozu alte Wunden aufbrechen?

            Inzwischen waren auch schon wieder fünf Jahre vergangen. Seither galt Hendrik als vermisst. Sie wusste es von der Bäckersfrau, denn niemand hatte sie nach ihm gefragt, da niemand vermutete, dass er sie besucht hatte. Auf eine Tasse Kaffee

            Kaffee hatte sie schon lange nicht mehr getrunken. Eigentlich seit jenem Tag nicht mehr. Ihr Herz kam so schon oft genug aus dem Takt, da brauchte sie kein zusätzliches Koffein. Ab und zu trank sie einen Rotwein und heute war ihr danach. Bei der Gelegenheit könnte sie dann gleich alle angesammelten Beruhigungstabletten verbrauchen, die ihr die Ärzte im Laufe der Zeit verordnet hatten. Vielleicht war es an der Zeit, all dem ein Ende zu setzen. Sie mochte nicht mehr, sie war eigentlich nur noch müde. Man würde nicht aufhören, Hendrik zu suchen, und somit wurde sie immer wieder an die Geschehnisse von vor zwanzig Jahren erinnert. Niemand hatte ihr damals geglaubt, und schon lange hatte sie aufgegeben, jemandem davon zu erzählen.

 

            Mühsam stand sie auf und schlurfte ins Bad, um die Tabletten zu suchen. Dann ging sie hinunter in den Keller, um sich die letzte Flasche vom 1988er Château Margaux zu holen. Die andere hatte sie an jenem Tag mit Hendrik geleert und er war tief beeindruckt gewesen, dass sie ihm einen so edlen Tropfen gönnte.

            Sie entkorkte die Flasche noch im Weinkeller und schlurfte dann wieder die Treppe hinauf. Ihr Blick fiel kurz auf die dicke, schwere Eisentür, hinter der sich zu Vaters Zeiten die Werkstatt befunden hatte. Dort hatte sie Hendrik eingesperrt, nachdem er den schweren Rotwein unterschätzt hatte und betrunken umhergetaumelt war. Natürlich hatte sie ihn gefesselt und geknebelt, so wie er es einst mit ihr getan hatte. Schließlich hatte er ja deutlich signalisiert, nicht über die Geschehnisse von damals reden oder gar sich entschuldigen zu wollen. So sollte er wenigstens nachempfinden können, wie sie sich damals gefühlt hatte.

            Manchmal fragte sie sich schon, wie er denn wohl aussehen mochte nach all der Zeit. Aber was sie wollte, war nur ausschließlich Gerechtigkeit.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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